Polly Matzinger

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Polly Matzinger mit Hund Annie auf dem Schoß, in Nahaufnahme
Polly Matzinger mit Border Collie Annie

Polly Celine Eveline Matzinger (* 21. Juli 1947 in La Seyne-sur-Mer) ist eine Immunologin, die für das von ihr entwickelte „Gefahrenmodell“[1] bekannt ist.[2]

Leben und Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Matzinger kam in Frankreich zur Welt. Ihre Mutter Simone war eine ehemalige Nonne und arbeitete später als Töpferin. Ihr Vater Hans stammte aus den Niederlanden und war während der Zeit des Nationalsozialismus im KZ Dachau inhaftiert. Er war Maler,[3] verdiente den Lebensunterhalt für die Familie jedoch als Zimmerer.[4]

Die Matzingers wanderten 1954 in die USA aus, zogen zuerst von New York nach Kalifornien und wechselten dort oft den Wohnort. Polly empfand sich in der Schule als Einzelgängerin und wurde in der High-School-Abschlussklasse zur Schülerin mit den schlechtesten Erfolgsaussichten gekürt.[4]

Nach der High School studierte sie zunächst Musik, brach das Studium aber ab, da sie sich für nicht talentiert genug hielt. Die nächsten zehn Jahre jobbte sie als Jazzmusikerin, als Tischlerin, als Hundetrainerin für Problemhunde, sowie als Poolbillard spielendes Playboy-Bunny und als Kellnerin in einer Cocktailbar in der Nähe der University of California, Davis.[5] In ihrer Freizeit arbeitete sie viel mit Tieren, las und komponierte.

Während ihrer Arbeit als Kellnerin lernte sie zwei Biologieprofessoren kennen, mit denen sie sich bald regelmäßig über wissenschaftliche Themen austauschte. Einer der Biologen überredete Matzinger – laut ihrer eigenen Aussage über einen Zeitraum von neun Monaten[6] –, sich der Wissenschaft zuzuwenden. Sie schrieb sich wieder an der Universität ein – diesmal für Biologie[7] – und machte 1976 ihren Bachelor an der University of California, Irvine und 1979 ihren Ph.D an der University of California, San Diego.[8]

Ko-Autor Galadriel Mirkwood[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In einer ihrer ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, einer Abhandlung für das Journal of Experimental Medicine im Jahr 1978, wollte Matzinger Passiv-Konstruktionen vermeiden, aber auch nicht jeden Satz mit „Ich“ beginnen. Also führte sie ihren Hund, den Afghanischen Windhund Galadriel Mirkwood als Ko-Autor auf und schrieb den Text in der Wir-Form.[4] Die Täuschung wurde entdeckt, worauf Matzinger 15 Jahre nicht mehr als Hauptautorin in der Zeitschrift veröffentlichen durfte.[9]

Zeit als Postdoc[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Rahmen eines Postdoc-Stipendiums forschte Matzinger von 1979 bis 1983 an der University of Cambridge,[10] gefolgt von sechs Jahren am Basel Institute for Immunology.[11]

Das „Ghost Lab“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1989 kehrte sie in die USA zurück, um am Labor für Zelluläre und Molekulare Immunologie, das zu den National Institutes of Health gehört, die Abteilung für Immuntoleranz und -gedächtnis zu leiten.[11] Matzingers neuer Arbeitsplatz stand die ersten neun Monate nach ihrem Arbeitsantritt leer, da die Forscherin sich erst einmal in die Chaos-Theorie vertiefte, um die Funktionsweise des Immunsystems besser zu verstehen. Aus diesem Grund belegten Matzinger und ihre Kollegen das Labor mit dem Spitznamen „Ghost Lab“, der sich bis heute hält.[12] Sie leitete diese Abteilung 24 Jahre, bis das „Ghost Lab“ 2013 dem Labor für Immungenetik zugeordnet wurde.[13]

Das „Gefahrenmodell“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Schon als Studentin hatte Matzinger sich in Bezug auf das menschliche Immunsystem gefragt, warum Schwangere ihre Föten – die zur Hälfte aus dem Genmaterial des Vaters bestehen – nicht abstoßen, oder warum der Körper keine Abwehrreaktion gegen nützliche Darmbakterien zeigt. Dieses Verhalten passte nicht zur damals gängigen, vor allem von Macfarlane Burnet in den 1940er Jahren geprägten Lehrmeinung.[14] Sie besagte, dass der menschliche Organismus zwischen Selbst und körperfremd unterscheide und alles Fremde, z. B. Erreger, aber auch transplantierte Organe, abwehre.[15]

Diese Theorie, das sogenannte „self/non-self model“, auf die sich die moderne Immunologie und die Transplantationsmedizin stützt,[16] wurde ab den 1960er Jahren weiterentwickelt. So postulierte Charles Janeway 1989, dass das Immunsystem nicht pauschal auf körperfremde Stoffe reagiere, sondern zwischen „nicht-infektiösem Selbst und infektiösem Fremd“ unterscheide. Lymphozyten träten nicht automatisch gegen Körperfremdes in Aktion, sondern benötigten ein sogenanntes „zweites Signal“ als Startsignal.[17]

Matzinger begann nach ihrer Berufung an die NIH ein neues Modell für die Funktionsweise des Immunsystems zu entwickeln. Anregungen dafür lieferten ihr u. a. die Veröffentlichungen Janeways, den sie 1977 in Cambridge kennengelernt hatte.[18] Aber auch ihr Labornachbar, der Krebsforscher Ephraim Fuchs, teilte ihre Zweifel bezüglich des „self/non-self model“.[14]

1994 veröffentlichte Matzinger einen Artikel in der Annual Review of Immunology, in dem sie ihre Idee für das „Gefahrenmodell“ formulierte:[19] Demnach reagieren die antigenpräsentierenden Zellen auf Gefahrensignale, die von körpereigenen, z. B. nekrotischen oder beschädigten Zellen ausgehen. Das Immunantwort werde also nicht ausgelöst, weil eine Zelle körperfremd sei oder als Krankheitserreger identifiziert worden sei, sondern weil eine körpereigene Zelle Stress signalisiere.[20]

Laut Matzinger ermögliche dieses Konzept, das Immunsystem nicht als Armee zu sehen, sondern als flexibel und anpassungsfähig an den sich im Laufe des Lebens verändernden Körper. Es sei nicht notwendig, sich starr und steril von der Umwelt abzugrenzen. Vielmehr könne der menschliche Körper als Lebensraum gesehen werden, der nützliche und harmlose Kleinorganismen dulde bzw. sogar willkommen heiße.[21]

Das Gefahrenmodell wurde einerseits in der Fach- und in der allgemeinen Presse enthusiastisch aufgenommen und von Befürwortern sogar mit der Kopernikanischen Wende gleichgesetzt. Auf der anderen Seite wurde es auch kritisiert: So sei die Theorie nicht neu, sondern stark von den Erkenntnissen Janeways beeinflusst. Sie beruhe auf den Forschungsergebnissen Metschnikows und Ehrlichs und sei deswegen mitnichten revolutionär.[20] Die Aussage, symbiotische Darmbakterien würden vom Körper „toleriert“, sei stark vereinfacht und stelle die Prozesse im Körper falsch dar.[20] Charles Janeway selbst vertrat 1996 die Meinung, die Gefahren-Theorie lasse sich problemlos in den Mainstream der Immunologie integrieren und sei nicht die bahnbrechende Neuheit, als die Matzinger und ihre Mitstreiter sie ausgäben.[22]

Heute, mehr als 25 Jahre nach Matzingers erster Veröffentlichung zum „Gefahrmodell“, gibt es viele Hinweise darauf, dass z. B. die Immunreaktionen im Darm, wie von der Forscherin beschrieben, durch geschädigtes Gewebe gesteuert werden. Allerdings nutzt das Immunsystem nicht nur diesen, sondern eine Reihe von Mechanismen, seine Funktionsweise lässt sich also nicht auf eine einzige Theorie reduzieren.[23]

Matzinger selbst äußerte 1997, es sei ihr nicht so wichtig, recht zu haben. Als Wissenschaftlerin sei ihr vor allem daran gelegen, sich klar zu äußern und zu veröffentlichen. Im Zweifel rege das andere an, weiterzuforschen und im Zuge dessen neue Erkenntnisse zu sammeln.[4]

Matzinger hält seit Jahren gutbesuchte Vorträge,[24] die sich mit dem Immunsystem aus der Perspektive des Gefahr-Modells beschäftigen. Sie arbeitet auch heute noch (Stand 2021) für die National Institutes of Health, wo sie sich ab Anfang 2020 mit dem Coronavirus beschäftigte.[7] Im gleichen Jahr veröffentlichte sie eine Statistik, mit der sie den Nutzen von Maßnahmen wie das Tragen von Masken oder Schul- und Gastronomieschließungen anschaulich machte.[25]

In ihrer Freizeit trainiert sie Border Collies für Hüte-Wettbewerbe[26] und züchtet Gotlandschafe.[11]

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 1996: Ehrenmitglied auf Lebenszeit der Scandinavian Society of Immunology[27]
  • 2002: Von der Zeitschrift Discover als eine der 50 wichtigsten Wissenschaftlerinnen der USA aufgeführt[28]
  • 2003: Ehrendoktorat der Universität Hasselt, Limburg[29]
  • 2009: Die University of Rhode Island benannte die Polly Matzinger Fearless Scientist Scholarship nach Matzinger[30]

Veröffentlichungen (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Filme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • 1986: Immunity: the inside story von Polly Matzinger and André Trauneker, Video, 13 Minuten. Preisgekrönter [Beleg? Feminale?] Animationsfilm, der die körpereigenen Vorgänge bei der Beseitigung einer Grippeinfektion beschreibt. Produziert von Hoffmann-La Roche
  • 1995: Death by Design/The Life and Times of Life and Times. Dokumentarfilm über die Apoptose, in dem neben Matzinger Rita Levy-Montalcini, Robert Horvitz, Klaus-Michael Debatin u. a. zu Wort kommen. Regie: Peter Friedman und Jean-François Brunet, Dauer: 73 Minuten.[31]
  • 1997: Turned on by Danger. Produktion: Michael Mosley, 60 Minuten. Eine Sendung der BBC, in der Polly Matzinger das „Gefahrenmodell“ erklärt.[32]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Hartmut Heine: Lehrbuch der biologischen Medizin: Grundregulation und Extrazelluläre Matrix. 3. Auflage. 2006, ISBN 978-3-8304-5335-2, S. 108 ff. (google.de).
  2. Elizabeth H. Oakes: A to Z of STS Scientists (Notable Scientists). Facts on File Inc., New York City 2002, ISBN 978-0-8160-4606-5, S. 192 f. (google.de).
  3. Claudia Dreifus: A Conversation With Polly Matzinger; Blazing an Unconventional Trail to a New Theory of Immunity. In: The New York Times. 16. Juni 1998, ISSN 0362-4331 (nytimes.com).
  4. a b c d The Doc: Polly Matzinger – Biography, Facts and Pictures. In: Famous Scientists. Abgerufen am 15. Januar 2022 (englisch).
  5. Glenda Cooper: Clever bunny. In: Independent. 16. April 1997, abgerufen am 23. Januar 2022 (englisch).
  6. Claudia Dreifus: A Conversation With Polly Matzinger; Blazing an Unconventional Trail to a New Theory of Immunity. In: The New York Times. 16. Juni 1998, ISSN 0362-4331 (nytimes.com).
  7. a b Moritz Aisslinger: Gute Besserung! In: Die Zeit. 24. März 2021, abgerufen am 20. Februar 2022.
  8. Elizabeth H. Oakes: Encyclopedia of World Scientists. Infobase Publishing, 2007, ISBN 978-1-4381-1882-6 (englisch, google.com).
  9. Scientific Sins. In: The Scientist. Mai 2003, abgerufen am 31. Januar 2022 (englisch).
  10. Jeff Glorfeld: Polly Matzinger’s unique path to science. In: Cosmos. 4. Mai 2020, abgerufen am 28. Januar 2022 (australisches Englisch).
  11. a b c A. Pérez-Díez: Legends of allergy/immunology: Polly Matzinger. In: Allergy. Band 75, Nummer 8, 08 2020, S. 2136–2138, doi:10.1111/all.14191, PMID 31960972, PMC 7371501 (freier Volltext).
  12. Colin Salter: 100 Science Discoveries That Changed the World. Pavilion, 2021, ISBN 978-1-911682-67-7.
  13. Polly Matzinger. In: Longdom Publishing SL. Abgerufen am 22. Februar 2022 (englisch).
  14. a b Bruni Kobbe: Umsturz eines Dogmas. In: wissenschaft.de. 1. September 1997, abgerufen am 24. Februar 2022.
  15. The Production of Antibodies by Frank MacFarlane Burnet (1941). In: British Society for Immunology. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. Juni 2021; abgerufen am 27. Februar 2022 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.immunology.org
  16. Emmanuelle Vaniet: Liegt die Immunologie falsch?: Eine Außenseiterin mit Ausdauer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. ISSN 0174-4909 (faz.net).
  17. Peter M. Gayed: Toward a Modern Synthesis of Immunity: Charles A. Janeway Jr. and the Immunologist’s Dirty Little Secret. In: The Yale Journal of Biology and Medicine. Band 84, Nr. 2, Juni 2011, ISSN 0044-0086, S. 131–138, PMID 21698045, PMC 3117407 (freier Volltext).
  18. Polly Matzinger: Charles Janeway, Jr. In: The Journal of Clinical Investigation. Band 112, Nr. 1, 1. Juli 2003, ISSN 0021-9738, S. 2–2, doi:10.1172/JCI119978 (jci.org).
  19. Charles A. Janeway Jr., Christopher C. Goodnow, Ruslan Medzhitov: Immunological tolerance: Danger — pathogen on the premises! In: Current Biology. Band 6, Nr. 5. Elsevier, 1996, S. 519–522.
  20. a b c Thomas Pradeu, Edwin L. Cooper: The danger theory: 20 years later. In: Frontiers in Immunology. Band 3, 17. September 2012, ISSN 1664-3224, S. 287, doi:10.3389/fimmu.2012.00287.
  21. Polly Matzinger: Essay 1: The Danger Model in Its Historical Context. In: Scandinavian Journal of Immunology. Band 54, Nr. 1-2, Juli 2001, ISSN 0300-9475, S. 4–9, doi:10.1046/j.1365-3083.2001.00974.x.
  22. Charles A. Janeway Jr, Christopher C. Goodnow, Ruslan Medzhitov: Immunological tolerance: Danger — pathogen on the premises! In: Current Biology. Band 6, Nr. 5, 1996, ISSN 0960-9822, S. 519–522.
  23. Daniel M. Davis: The Guardian Cells. In: The Beautiful Cure: The Revolution in Immunology and What It Means for Your Health. University of Chicago Press, Chicago 2020, ISBN 978-0-226-37100-9, S. 149–171.
  24. Emmanuelle Vaniet: Liegt die Immunologie falsch? Eine Außenseiterin mit Ausdauer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. Januar 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net).
  25. Polly Matzinger, Jeff Skinner: Strong impact of closing schools, closing bars and wearing masks during the COVID-19 pandemic: results from a simple and revealing analysis. Hrsg.: medRxiv. 28. September 2020, S. 2020.09.26.20202457, doi:10.1101/2020.09.26.20202457v1.full-text.
  26. Lauren Constable: The evolution of the danger theory. Interview by Lauren Constable. In: Expert Review of Clinical Immunology. 2012, S. 311–317.
  27. Polly Matzinger, Ph.D., T-Cell Tolerance and Memory Section, Laboratory of Immunogenetics, NIAID, NIH. .niaid.nih.gov, 27. März 2013, archiviert vom Original am 9. März 2010; abgerufen am 1. August 2013.
  28. Kathy A. Svitil: The 50 Most Important Women in Science. In: DiscoverMagazine.com. 8. Mai 2019, archiviert vom Original am 8. Mai 2019; abgerufen am 15. Januar 2022 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/discovermagazine.com
  29. Honorary doctorate recipients. In: Hasselt University. Abgerufen am 16. Januar 2022 (englisch).
  30. URI biotech student awarded Fearless Scientist Scholarship by Institute for Immunology & Informatics. In: The University of Rhode Island. 4. November 2009, abgerufen am 16. Januar 2022 (amerikanisches Englisch).
  31. Lisa Nesselson: Death by Design. In: Variety. 2. Oktober 1995, abgerufen am 6. Februar 2022 (amerikanisches Englisch).
  32. Horizon: Turned on by Danger. In: BBC Programme Index. Abgerufen am 31. Januar 2022 (englisch).