Starke Nachhaltigkeit

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Starke Nachhaltigkeit ist ein gesellschaftspolitisches und ethisches Konzept innerhalb des Nachhaltigkeitsdiskurses zum Umgang mit den sozialgesellschaftlichen und natürlichen Rahmenbedingungen auf der Erde. Es geht auf Konrad Ott und Ralf Döring zurück, deren Theorie auch als „Greifswalder Ansatz“ bezeichnet wird und maßgeblich auf Arbeiten von Herman Daly zurückgreift.

Die „Starke Nachhaltigkeit“ definiert sich in der Forderung, die verbleibenden Bestände an Naturkapital zu erhalten und darüber hinaus in diese zu investieren. Sie geht einher mit einer gesellschaftspolitischen Perspektive, die sich auf ein die natürliche Lebenswelt respektierendes, menschenbezogenes Wertesystem stützt und profitorientierte Systeme in Frage stellt.

Demnach könne eine Gesellschaft, die zwar Sach- und Wissenskapitalien anhäufe, ihre Bestände an Naturkapital hingegen vernachlässige oder Raubbau an ihnen betreibe, nicht als nachhaltig gelten. Dies gelte auch für Gesellschaften, die Raubbau an den Naturkapitalien anderer Völker betreiben oder hiervon profitieren.

Entwicklung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Idee der nachhaltigen Entwicklung („sustainable development“) geht auf die deutsche Forstwissenschaft (um 1713) zurück und ist am Ende des 20. Jahrhunderts in der Nachfolge des so genannten Brundtland-Berichtes global weithin als umweltpolitische Leitlinie anerkannt. Der Gebrauch und die Bedeutung des Terminus' „Nachhaltigkeit“ hat sich aufgrund dieser Erfolgsgeschichte seither kontinuierlich erweitert.

Ott und andere kritisieren in diesem Zusammenhang „Es gibt mittlerweile kaum noch etwas, dem das Attribut ‚nachhaltig‘ nicht beigefügt wurde. Ein Begriff, der an Extension zunimmt, verliert dadurch allerdings an Bedeutung (‚Intension‘).“[1] Laut Ott führt dies zur Trivialisierung des Begriffs von der vornehmlich jene profitierten, die eine ökologische Ausrichtung des Begriffs verhindern wollten.

Starke Nachhaltigkeit versus Schwache Nachhaltigkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ott und Döring stellen der Starken Nachhaltigkeit dialektisch das Konzept Schwacher Nachhaltigkeit gegenüber. Zentrales Element der „Schwachen Nachhaltigkeit“ ist, dass sie von der Substituierbarkeit von Kapitalien ausgeht. Nach Ott lässt sich die natürliche und soziale Ausstattung unserer Welt als Ensemble von Kapitalien betrachten:

  • Sachkapitalien (Produktionsmittel, Transport und Infrastruktur)
  • Humankapitalien (vorhandenes Wissen, soziale Institutionen etc.)
  • Naturkapitalien (unsere natürliche Umwelt, Tiere, Pflanzen, Rohstoffe etc.)

Für Vertreter der schwachen Form von Nachhaltigkeit ist ein System auch dann nachhaltig, wenn das Gesamtkapital (bestehend aus natürlichen Ressourcen, Human- und Sachkapital) gleich bleibt oder wächst. Ein Rückgang an Naturkapital, also der Abbau von Rohstoffen oder der Rückgang natürlicher Lebensräume, ist auch dann noch nachhaltig, wenn dieser durch steigendes Kapital in den anderen Bereichen ausgeglichen wird. Im Konzept der „Schwachen Nachhaltigkeit“ ist beispielsweise ein Wald in kommenden Generationen substituierbar, wenn seine natürlichen und kulturellen Aufgaben durch andere Mittel befriedigt werden. In diesem System steht nicht die Bewahrung der Umwelt im Vordergrund, sondern die Aufrechterhaltung und Steigerung des Gesamtwohlstandes.[2] Somit ist die „Schwache Nachhaltigkeit“ auch als anthropozentrisch zu bezeichnen. Das Drei-Säulen-Modell der nachhaltigen Entwicklung zeigt nach Meinung der Vertreter einer „Schwachen Nachhaltigkeit“, die Austauschbarkeit (Ersetzbarkeit) zwischen den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit. Ökologie wird gleichgesetzt mit Ökonomie und der sozialen Dimension, was aber in der Praxis theoretisch und teilweise praktisch einen Raubbau an der Natur rechtfertigen kann.

Die Beurteilung von Ländern auf ihre Nachhaltigkeit, die Nachhaltigkeitsindikatoren und politische Strategien fallen je nach der Wahl des Nachhaltigkeitskonzeptes unterschiedlich aus. „Starke Nachhaltigkeit“ geht davon aus, dass „schwache Nachhaltigkeit“ primär ökonomische Sparraten und „starke Nachhaltigkeit“ in erster Linie physische Größen (in Bezug auf Zerstörung und Verbrauch von Naturkapital) thematisiert.[3]

Am Ansatz der „Starken Nachhaltigkeit“ orientiert sich z. B. das Umweltraum-Konzept, der bekannte ökologische Fußabdruck oder das „Leitplankenmodell“. Ihm zufolge bilden die ökologischen Parameter, die langfristig stabile Lebensbedingungen auf der Erde sichern, einen Entwicklungskorridor, der unbedingt zu beachten ist. Nur innerhalb dieses Korridors besteht ein Spielraum zur Umsetzung wirtschaftlicher und sozialer Ziele. Wie auch die späteren Ansätze von Felix Ekhardt setzt Ott auf eine „intergenerationell faire“ Nachhaltigkeit.

Kriterien Starker Nachhaltigkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor dem theoretischen Hintergrund der „Starken Nachhaltigkeit“ formulierte Ott folgende Managementregeln:[4]

  1. Erneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße genutzt werden, in dem sie sich regenerieren.
  2. Endliche Rohstoffe und Energieträger dürfen nur in dem Maße verbraucht werden, in dem während ihres Verbrauchs physisch und funktionell gleichwertiger Ersatz an regenerierbaren Ressourcen geschaffen wird.
  3. Schadstoffemissionen dürfen die Aufnahmekapazität der Umweltmedien und Ökosysteme nicht übersteigen, und Emissionen nicht abbaubarer Schadstoffe sind unabhängig von dem Ausmaß, in dem noch freie Tragekapazitäten vorhanden sind, zu minimieren.

Wirkung in der Nachhaltigkeitsdebatte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Nachhaltigkeitsdebatte wird immer wieder durch unterschiedliche Strömungen beeinflusst. Das durch Costanza 1997[5] aufgebrachte Konzept der Ökosystemdienstleistungen steht Otts Starker Nachhaltigkeit zumindest in einigen Punkten entgegen. Während Ott sich auch gegen eine theoretische Substituierbarkeit von Naturkapitalien ausspricht, versuchen die Vertreter des Ökosystemdienstleistungs-Ansatzes genau die „Leistungen“ von natürlichen Systemen in einen adäquaten Geldwert umzusetzen.

Aus Sicht von Kritikern erteilt das Drei-Säulen-Modell einer schwachen nachhaltigen Entwicklung das Wort. So kritisiert der deutsche Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung bereits 2002 (Kapitel 1.4), dass das Drei-Säulen-Modell die wechselseitige Integration von ökonomischen, ökologischen und sozialen Belangen fordere. Es stehe somit im Widerspruch zum sogenannten Querschnittsprinzip der Umweltpolitik, das auch im Vertrag von Amsterdam verankert wurde und das zunächst die Integration von Umweltbelangen in alle Politikbereiche fordere.[6] Der SRU tritt seit 2002 für eine starke Nachhaltigkeit ein. 2008 sagte er in Bezug auf die „nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“, „Starke Nachhaltigkeit“ erfordere, dass das Naturkapital, von dessen Nutzung alles Wirtschaften vital abhängt, langfristig erhalten bleibe. Die Inanspruchnahme der Leistungen der Natur müsse global gerecht geregelt werden. Die damalige Bundesregierung (Kabinett Schröder II) hatte sich diesem Verständnis von Nachhaltigkeit angeschlossen: „Die Erhaltung der Tragfähigkeit der Erde bildet die absolute äußere Grenze; in diesem Rahmen ist die Verwirklichung der verschiedenen politischen Ziele zu optimieren.“[7] Der Ausgleich wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ziele (das sog. Drei-Säulen-Modell) werde damit laut SRU zur nachgeordneten Frage. Der Rat sah damit gegeben, dass sich die Bundesregierung von einem Verständnis von Nachhaltigkeit als „Wohlfühlthema“ verabschiede. Insgesamt sollte der Zeithorizont der Nachhaltigkeitsstrategie nach der SRU für eine Forderung auf mindestens 50 Jahre ausgedehnt werden. Das Ziel der Generationengerechtigkeit könne nur mit einer längeren Zeitperspektive umgesetzt werden.

Aktuelle Beispiele aus dem Klimaschutz bestätigen die Nichtersetzbarkeit von Natur. Einige Beispiele mit einer großen Reichweite stellt der Naturschützer und Filmemacher Ulrich Eichelmann in seinem Film Climate Crimes (2012) dar. Eichelmann zeigt auf, wie unter dem öffentlichkeitswirksamen Titel „nachhaltiger Klimaschutzprojekte“ zur Erzeugung „grüner Energie“ Naturzerstörung stattfindet. Der Filmemacher verweist auf verschiedene Staudammprojekte, beispielsweise in den Mesopotamischen Sümpfen im Irak, in den tropischen Regenwäldern Amazoniens und im Südosten der Türkei (Illisu). Der rasante Ausbau von Wasserkraft, Biogas und -diesel zerstört Naturlandschaften, welche nicht durch „Ausgleichsmaßnahmen“ zu ersetzen sind.

Der Postwachstumsökonom Niko Paech spricht sich in diesem Zusammenhang für eine Wirtschaftsform des „Nicht-Wachstums“ aus und gegen eine „nachhaltige“ Green Economy.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Konrad Ott, Ralf Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. 2. Auflage. Metropolis Verlag, Marburg 2008, ISBN 978-3-89518-695-0.
  • Konrad Ott: Umweltethik zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-88506-677-4.
  • Christian Baatz, Konrad Ott, Barbara Muraca: Strong Sustainability as a Frame of Sustainability Communication. In: Jasemin Godemann, Gerd Michelsen: Sustainability Communication. Interdisciplinary Perspectives and Theoretical Foundations. Springer Verlag, Heidelberg, ISBN 978-94-007-1696-4, S. 13–26.
  • Armin Grunwald: Nachhaltigkeit verstehen - Arbeiten an der Bedeutung nachhaltiger Entwicklung. oekom, München 2016, ISBN 978-3-86581-821-8, S. 121–137.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ralf Döring: Wie stark ist schwache, wie schwach starke Nachhaltigkeit? In: Wirtschaftswissenschaftliche Diskussionspapiere. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, No. 08/2004 (online auf: econstor.eu, PDF; 424 kB)
  • starke und schwache Nachhaltigkeit. In: Lexikon der Nachhaltigkeit. Starke Nachhaltigkeit mit Tabellarischer Darstellung der Unterschiede beider Ansätze, übernommen aus: Steurer: Paradigmen der Nachhaltigkeit. In: Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht. 24.2001/4, S. 537–566. (online auf: nachhaltigkeit.info)

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Tanja von Egan-Krieger, Konrad Ott, Lieske Voget: Der Schutz des Naturerbes als Postulat der Zukunftsverantwortung. In: APUZ. 24/2007.
  2. Online-Lexikon der Aachener Stiftung Kathy Beys. aufgerufen am 22. März 2013.
  3. Ralf Döring, Konrad Ott: Nachhaltigkeitskonzept. (Memento vom 22. Februar 2014 im Internet Archive), zfwu, 2/3 (2001), 315-339, S. 320 online aufgerufen am 22. März 2013. (pdf; 312 kB)
  4. Bundeszentrale für politische Bildung: Der Schutz des Naturerbes als Postulat der Zukunftsverantwortung. 31. Mai 2007, online aufgerufen am 22. März 2013.
  5. Robert Costanza u. a.: The value of the world´s ecosystem services and natural capital. In: Nature. 387, Mai 1997, S. 253–260, doi:10.1038/387253a0
  6. Michael Kraack, Heinrich Pehle, Petra Zimmermann-Steinhart: Umweltintegration in der Europäischen Union. Das umweltpolitische Profil der EU im Politikfeldvergleich. (Integration Europas und Ordnung der Weltwirtschaft Bd. 23). Nomos, Baden-Baden 2001, ISBN 3-7890-7623-6.
  7. Fortschritt zur „starken Nachhaltigkeit“. (Memento vom 22. Februar 2013 im Internet Archive) auf: umweltrat.de