Vaticinium Lehninense
Das Vaticinium Lehninense, die Lehninsche Weissagung, ist ein lateinisches Gedicht in 100 leoninischen Hexametern, das die künftigen Schicksale des Klosters Lehnin, der Mark Brandenburg und ihrer Herrscher kraft göttlicher Eingebung vorherzusagen behauptet. Die Abschriften, die ab 1700 in Berlin bekannt wurden, bezeichnen es in einem lateinischen Proömium als Weissagung eines Zisterziensers Hermann, der um 1300 im Kloster Lehnin gelebt habe, niedergeschrieben in einem Handschriftenband des Klosters. Diese angebliche Urschrift ist niemals gefunden worden. Inhalt und sprachliche Eigenheiten erweisen den Text vielmehr als Werk aus dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Auch dessen Urschrift ist nicht mehr vorhanden. Über die Identität des Verfassers gibt es nur Vermutungen.
Trotz der früh erkannten Fiktionalität[2] der antiprotestantischen und hohenzollernfeindlichen Dichtung erlangte sie eine starke und lang anhaltende Bekanntheit in Preußen und darüber hinaus, und die Publikationen aus drei Jahrhunderten, die sie deuten und widerlegen, füllen Regale.
Eigenart und Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Text ist als dunkles Orakel stilisiert. Nicht selten bestimmt zudem das enge Reimschema des leoninischen Verses den Inhalt mit. Auf historische Personen und Ereignisse bis zum Ende der Regierungszeit des Großen Kurfürsten († 1688) lassen sich die Verse 8–75 mit einiger Sicherheit beziehen, wobei sich auch hier schwer erklärbare Aussagen finden. Danach werden die Prophezeiungen allgemeiner und blumiger. Eindeutig abgelehnt wird die Einführung der lutherischen Reformation in Brandenburg (Vers 47) und der Wechsel zum Calvinismus (Vers 63). Vorausgesagt wird offenbar das Ende der Hohenzollernherrschaft mit dem elften protestantischen Herrscher der Dynastie (Vers 49; Vers 93) und die Rückkehr Brandenburgs und ganz Deutschlands zur römisch-katholischen Kirche unter einem katholischen König, der zugleich Herrscher der Mark Brandenburg und Wiederhersteller Lehnins und Chorins sein wird (Verse 95–100). Rätselhaft ist der isolierte Vers 94 sowohl hinsichtlich der Bedeutung von „Israel“ – Döpp[3] übersetzt das Wort im Anschluss an Guhrauer mit „der protestantische Herrscher“ – wie hinsichtlich des „scelus morte piandum“; rezeptionsgeschichtlich überwiegen die antijüdischen, später die antisemitischen Deutungen.
Döpp[4] gliedert das Gedicht mit folgenden Zwischenüberschriften:
- (bis zur Entstehungszeit des Vaticiniums:)
- Verse 8–13: „Die Mark Brandenburg unter den Askaniern (bis 1320)“
- Verse 14–18: „… unter den Fürsten aus dem Hause Bayern (1323–1373)“
- Verse 19–26: „… unter den Luxemburgern (1373–1415)“
- ab Vers 27: „… unter den Hohenzollern“
- Verse 27–46: „Die katholischen Kurfürsten“
- Verse 27–34: „Friedrich I. 1415–1440“
- Verse 35–36: „Friedrich II. Eisenzahn 1440–1470“
- Verse 37–42: „Albrecht Achilles 1470–1486“
- Verse 43–46: „Johann Cicero 1486–1499“
- Verse 47–62: „Die lutherischen Kurfürsten“
- Verse 47–49: „Kurfürstin Elisabeth, Gemahlin Joachims I. Nestor 1499–1535“
- Verse 50–54: „Joachim II. Hektor 1535–1571“
- Verse 55–59: „Johann Georg 1571–1598“
- Verse 60–62: „Joachim Friedrich 1598–1608“
- Verse 63–75: „Die calvinischen („reformierten“) Kurfürsten“
- Verse 63–67: „Johann Sigismund 1608–1619“
- Verse 68–71: „Georg Wilhelm 1619–1640“
- Verse 72–75: „Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst 1640–1688“
- Verse 27–46: „Die katholischen Kurfürsten“
- (nach der Entstehungszeit des Vaticiniums – spekulativ:)
- ab Vers 76: „… und Könige“
- Verse 76–80: „Friedrich III. 1688–1713, seit 1701 Friedrich I. König in Preußen“
- Verse 81–84: „Friedrich Wilhelm I. 1713–1740“
- Verse 85–88: „Friedrich II., „der Große“ 1740–1786“
- Verse 89–92: „Friedrich Wilhelm II. 1786–1797“
- ab Vers 93: „Friedrich Wilhelm III. 1797–1840“
Die spekulativen Zuweisungen ab Vers 76 haben vor allem den Zweck, die Abweichungen der dunklen Vorhersagen von den tatsächlichen Ereignissen aufzuzeigen sowie bis zum elften protestantischen Hohenzollernherrscher weiterzuzählen, mit dem laut Vers 49 die Hohenzollerndynastie enden oder katholisch werden soll.
Mögliche Verfasser
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Verfasser, wahrscheinlich ein Berliner, muss ein guter Kenner und gewandter Schreiber der lateinischen Sprache gewesen sein, dazu vertraut mit der Geschichte der Mark Brandenburg. Er muss Katholik – Konvertit? – oder mindestens Calixtiner und mit der hohenzollernschen Kirchenpolitik unzufrieden gewesen sein,[5] vielleicht auch persönlich verletzt. Ob er mit dem Text politisch wirken wollte oder sich nur eine intelligente Stilübung erlaubte, muss offen bleiben. Auffällig ist die formale und inhaltliche Verwandtschaft des Textes mit der 1689 in den Monatlichen Unterredungen einiger guten Freunde veröffentlichten und kommentierten, angeblich mittelalterlich-zisterziensischen Weissagung vom Untergang Frankreichs – vielleicht die unmittelbare Anregung zum Lehninense.
Aufgrund dieser Kriterien wurden als mögliche Verfasser genannt:[6] Martin Friedrich Seidel, Andreas Fromm, Christoph Heinrich Oelven,[7] Nikolaus von Zitzewitz, Friedrich von Lüdinghausen Wolff und Johann Christian Seitz.
Text
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Lateinischer Text[8] |
Übersetzung |
Vaticinium b. fratris Hermanni, |
Weissagung des seligen Bruders Hermann, |
Rezeptionsgeschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Handschriften des Lehninense kursierten in Berlin etwa ab 1692. Den ersten Textdruck gab Johann Christoph Bekmann mit einer Versübersetzung vor 1717 heraus. Damit begann die Flut der Veröffentlichungen zum Lehninense.[10] Bereits vor der Mitte des 18. Jahrhunderts waren die wesentlichen Argumente für die Unechtheit zusammengetragen; dennoch gab es bis ins 20. Jahrhundert Veröffentlichungen, die den Text vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen als ernstzunehmende Prophetie behandelten. Auffällig ist der hohe Anteil an anonymen und pseudonymen Kommentaren, der wohl mit dem „majestätskritischen“ Inhalt, aber auch mit dem obskuren Charakter des Vaticiniums zusammenhängt. Seine quasi-mystische Faszination wirkte auch auf Personen, die keine Zweifel an seinem tatsächlichen Ursprung hegten, und machte ihn zeitweise auch im Volk so bekannt, dass König Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) gesagt haben soll, er glaube nicht an diese Weissagung, aber er fürchte sie.[11]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Siegmar Döpp: Vaticinium Lehninense – Die Lehninsche Weissagung. Zur Rezeption einer wirkungsmächtigen lateinischen Dichtung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hildesheim/Zürich/New York (Olms) 2015 ISBN 978-3-487-15239-4
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ vgl. Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1873), Die Lehninsche Weissagung
- ↑ Soweit es zusätzlich zur inhaltlichen Evidenz noch Einzelbeweise braucht, gilt die Verwendung des Gottesnamens in der Form Jehova (Vers 63) als unwiderlegliches Indiz für die Entstehung im 17. Jahrhundert (Döpp S. 37).
- ↑ S. 16f.
- ↑ S. 8–15
- ↑ Umstritten war seinerzeit vor allem die per Edikt verordnete Toleranz zwischen Lutheranern und Reformierten, vgl. Vers 65.
- ↑ Döpp S. 26
- ↑ Dazu ausführlich Wilhelm von Giesebrecht: Die Weissagung von Lehnin und Christoph Heinrich Oelven. In: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte, Berlin 1846, S. 433–478
- ↑ nach Döpp, S. 5–7
- ↑ Damit dürfte Adam von Schwarzenberg gemeint sein.
- ↑ Allein die Auflistung umfasst bei Döpp die Seiten 89–128.
- ↑ Döpp S. 1