Wilkomirski-Syndrom

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Der Begriff Wilkomirski-Syndrom bezeichnet die Konfabulation oder Fälschung von jüdischen Opfer- und Verfolgungsbiografien nach dem Holocaust. Zurückzuführen ist er auf die fiktive, 1995 u. a. im Suhrkamp-Verlag erschienene KZ-Autobiografie Bruchstücke des 1941 geborenen Bruno Dössekker, auch bekannt als Binjamin Wilkomirski, die sich 1998 nach Recherchen von Daniel Ganzfried als Konfabulation herausstellte.[1][2] 2001 organisierten Irene Diekmann und Julius Schoeps vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien dazu eine Tagung mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen. Die Bezeichnung „Wilkomirski-Syndrom“ spielt auf das Münchhausen-Syndrom an.[3]

Weitere bekannte Fälle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Rosemarie Koczy (1939–2007), deutsch-amerikanische Künstlerin, widmete ihr Lebenswerk der Shoah. Ihre Werke befinden sich in der Guggenheim-Sammlung sowie in Yad Vashem; ihre umfangreichen englischsprachigen Memoiren, von ihrem Ehemann handschriftlich aus Niederschriften persönlicher Befragungen und mündlich berichteter Erinnerungen verfasst, werden als dreibändiges Manuskript im United States Holocaust Memorial Museum Washington aufbewahrt. Der Fall wurde bekannt, nachdem ihre Heimatstadt Recklinghausen sie in das Online-Gedenkbuch für die Opfer der NS-Herrschaft aufnehmen wollte und ihre Angaben anhand amtlicher Archivdokumente überprüfte.[4]
  • Peter Loth (* 1943), Nebenkläger im Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des KZ Stutthof, behauptete, dort geboren und als Kind Experimenten mit Grippeviren und Drogen unterzogen worden zu sein.[5]
  • Wolfgang Seibert (* 1947), mehrfach vorbestraft wegen Betrugs und Unterschlagung, 15 Jahre lang Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Pinneberg, wurde durch Recherchen des Spiegel überführt, entgegen seiner Behauptung kein Jude zu sein.[6]
  • Marie Sophie Hingst (1987–2019), Historikerin und „Bloggerin des Jahres 2017“ (2019 aberkannt), reichte unter anderem 22 gefälschte Biographien fiktiver Familienangehöriger in der Gedenkstätte Yad Vashem ein, um ihrer Geschichte eine höhere Plausibilität zu verleihen.[7]
  • Karin Mylius (1934–1986), Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle, gab sich als Überlebende des Holocaust aus, ihr Vater war jedoch in der NS-Zeit Polizeibeamter gewesen. Nachdem die SED und die Behörden ihre Legende aus politischen Gründen zunächst gedeckt hatten, wurde sie 1984 enttarnt und abgesetzt.[8]
  • Misha Defonseca (* 1937), belgisch-amerikanische Schriftstellerin.[9]
  • Magdolna Kaiser gab sich als Nachfahrin eines fiktiven jüdischen Assistenzarztes von Josef Mengele aus.[10]
  • Irena Wachendorff (* 1961), Lyrikerin und politische Aktivistin, gab sich als Tochter von Holocaustüberlebenden aus und behauptete, auf israelischer Seite am ersten Libanonkrieg teilgenommen zu haben.[11][12]
  • Laurel Rose Willson (1941–2002), US-amerikanische Schriftstellerin, gab 1999 eine falsche Identität als Holocaust-Überlebende an.
  • Axel Spörl, Manager und Theaterfunktionär.[13]
  • Otto Uthgenannt (* 1935) gab sich als Überlebender des KZ Buchenwald aus. Er behauptete, seine Eltern und seine Schwester seien dort getötet worden. Tatsächlich stammte Otto Uthgenannt aus einer protestantischen Familie, die nicht verfolgt worden war. Uthgenannt hielt regelmäßig Vorträge als Zeitzeuge an Schulen.[14]
  • Isaac Lewinson alias Alfred Mende, Kreisorganisationsleiter der NSDAP in Dresden und Absolvent der NS-Ordensburg Krössinsee in Pommern. Er behauptete, 1945 aus dem KZ Theresienstadt nach Siegburg gekommen zu sein, und gab sich als Überlebender aus. Er wurde sogar in den Gemeindevorstand gewählt. 1948 wurde er erkannt, ein Gerichtsverfahren folgte.[15]
  • Fabian Wolff (* 1989), Journalist und Publizist.[16]

Als Thema in Spielfilmen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In dem amerikanischen Independent-Film The Memory Thief (2007) entwickelt ein junger Mann eine Obsession mit dem Holocaust, die dazu führt, dass er immer mehr eine fiktive Identität eines Überlebenden einnimmt.[17]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Irene Diekmann, Julius H. Schoeps: Das Wilkomirski-Syndrom: Eingebildete Erinnerungen oder von der Sehnsucht Opfer zu sein. Hrsg.: Pendo Verlag. 2002.
  • Frank Hirschinger: Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biografien. V&R unipress, 2006.
  • Marina Fedosik: The Politics of Selfhood: Binjamin Wilkomirski’s Fragments as an Adoption Narrative of Disaffiliation. In: College Literature. Band 47, Nr. 2. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2020, S. 318–345.
  • Stadt Recklinghausen (Hrsg.): Rosemarie Koczÿ. Projektionen einer Identität. Recklinghausen 2018.
  • Gregor Spuhler: Der Fall Wilkomirski als Herausforderung für die Oral History. In: Konrad J. Kuhn, Katrin Sontag, Walter Leimgruber (Hrsg.): Lebenskunst. Erkundungen zu Biographie, Lebenswelt und Erinnerung. Festschrift für Jacques Picard. Böhlau, Köln 2017, ISBN 978-3-412-50755-8, S. 540–549.
  • Clemens Böckmann, Johannes Spohr (Hrsg.): Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung. Neofelis, Berlin 2022, ISBN 978-3-95808-348-6

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Lothar Baier: Diekmann / Julius Schoeps: Das Wilkomirski-Syndrom; Eingebildete Erinnerungen und von der Sehnsucht Opfer zu sein. Deutschlandfunk, abgerufen am 1. November 2020.
  2. Hans Martin Lohmann: Angeeignete Opferidentität. In: Die Zeit, Nr. 30/2000
  3. Irene Dieckmann, Julius H. Schoeps: Das Wilkomirski-Syndrom. Pendo Verlag, Zürich 2002, ISBN 978-3-85842-472-3 (hsozkult.de [abgerufen am 19. August 2023]).
  4. Matthias Kordes: Rosemarie Koczÿ als erinnerungsverfälschende Zeitzeugin. Wege und Grenzen einer fingierten jüdischen Identität. Hrsg.: Stadt Recklinghausen. Recklinghausen 2018, S. 50–76.
  5. Moritz Gerlach: KZ-Prozess: Die große Vergebung – leider falsch. In: Der Spiegel. Nr. 1, 2020 (online).
  6. Moritz Gerlach, Martin Doerry: Wolfgang Seibert: Ein Hochstapler und seine unglaubliche Karriere. In: Der Spiegel. Abgerufen am 31. Oktober 2020. Zum Fall Seibert vgl. auch das Interview mit Miriam Rürup in Der Spiegel Nr. 4, 19. Januar 2019, S. 103.
  7. Martin Doerry: Marie Sophie Hingst: Die Historikerin, die 22 Holocaust-Opfer erfunden hat. In: Der Spiegel. Nr. 23, 2019 (online).
  8. Barbara Steiner: Die Inszenierung des Jüdischen. Wallstein Verlag, S. 250.
  9. Henryk M. Broder: Holocaust: Verliebt in eine tote Kobra. In: Der Spiegel. Nr. 50, 1996 (online).
  10. Ilja Richter: Forschung über den Holocaust: Doktor Mengele mit iPad. In: taz. 9. November 2019 (taz.de [abgerufen am 31. Oktober 2020]).
  11. Anti-Israel German activist lied about IDF service. In: jpost.com. Abgerufen am 1. November 2020 (amerikanisches Englisch).
  12. Barbara Steiner: Die Inszenierung des Jüdischen. Wallstein Verlag, S. 250 f.
  13. Thomas Tränkler: „Es sitzt ein Jude am Tisch – ich“. In: NuNu – Jüdisches Magazin für Politik und Kultur. 3. September 2020, abgerufen am 1. November 2020.
  14. Karsten Krogmann: „Die falschen Leiden des Otto Uthgenannt“. In: NWZ online. 7. Dezember 2012, abgerufen am 1. November 2020. Martin Krauß: Der eingebildete Jude. Wie Otto Uthgenannt sich als NS-Opfer inszenierte. juedische-allgemeine.de, 18. Dezember 2012
  15. Chajm Guski: „Jude für beschränkte Zeit“. In: sprachkasse.de. 5. Januar 2011, abgerufen am 1. November 2020.
  16. Philipp Peyman Engel: Der Kostümjude In Jüdische Allgemeine, 18. Juli 2023.
  17. Eric Henderson: Review: The Memory Thief. Slant, 9. Mai 2008, abgerufen am 11. September 2022.