„Marktfundamentalismus“ – Versionsunterschied

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'''Marktfundamentalismus''', '''Marktradikalismus''' oder '''Marktideologie'''<ref name="Stuerner">Rolf Stürner: ''Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie''. 2007, ISBN 978-3-406-56884-8, S. 144, 141 und 127</ref> sind [[Politisches Schlagwort|politische Schlagworte]], mit denen abwertend [[Wirtschaftsliberalismus|wirtschaftsliberale]] Positionen bezeichnet werden. Die Nutzer des Schlagworts bringen damit zum Ausdruck, dass die so bezeichneten [[Wirtschaftspolitik|wirtschaftspolitischen]] Vorstellungen Dritter das Problemlösungspotential von [[Marktgleichgewicht|Marktmechanismen]] ihrer Meinung nach zu hoch einschätzen.
'''Marktfundamentalismus'''<ref name="Stuerner">Rolf Stürner: ''Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie''. 2007, ISBN 978-3-406-56884-8, S. 144, 141 und 127</ref> ist die kritische Bezeichnung für die Überzeugung, dass Märkte, die sich selbst regulieren, alle wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, besonders Verteilungsprozesse, zum größten gemeinsamen Nutzen koordinieren können. Der Ausdruck formuliert eine Analogie zum [[Religiöser Fundamentalismus|religiösen Fundamentalismus]]. Kritiker lehnen den Ausdruck als unzutreffend ab, er sei außerdem unsachlich, da er [[Wirtschaftsliberalismus|marktliberale]] Auffassungen moralisch diskreditiere.


Der positive Gegensatz wird oft als ''[[Ökosoziale Marktwirtschaft|öko-soziale Marktwirtschaft]], [[soziale Marktwirtschaft]], [[Green Economy]], [[Humane Marktwirtschaft]], Inklusiver Kapitalismus'' oder ''[[Zivilisierte Marktwirtschaft]]'' bezeichnet.
== Verwendung ==

== Verwandte Begriffe ==
Ähnliche Bedeutungen haben die Ausdrücke ''Marktradikalismus'' und ''Marktideologie,'' die wie ''Marktfundamentalismus'' oft als pejorative [[Politisches Schlagwort|politische Schlagworte]] benutzt werden. In ''The Shield of Achilles: War, Peace and the Course of History'' nannte [[Philip Bobbitt]] nannte sein Konzept ''Marktstaat.''

''Marktradikalismus'' betont die behauptete Übersteigerung marktwirtschaftlicher Prinzipien, wobei das wort ''radikal'' pejorativ gebraucht wird, in Annäherung an politischen Radikalismus.<ref>{{Literatur |Autor=Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak |Titel=Neoliberalismus: Analysen und Alternativen |Verlag=Springer-Verlag |Datum=2008-05-07 |ISBN=978-3-531-90899-1 |Online=https://books.google.com.ph/books?id=arsmBAAAQBAJ&pg=PA203&dq=marktradikalismus&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwjS9bG-tdrmAhUKy4sBHRokBxgQ6AEIQjAD#v=onepage&q=marktradikalismus&f=false |Abruf=2019-12-29}}</ref>

''Marktideologie'' betont die behauptete Unwissenschaftlichkeit marktwirtschaftlicher Theorien und den Verschleierungscharakter von Ideologien.<ref>{{Literatur |Autor=Hans-Martin Sass |Titel=Ethik und öffentliches Gesundheitswesen: Ordnungsethische und ordnungspolitische Einflußfaktoren im öffentlichen Gesundheitswesen |Verlag=Springer-Verlag |Datum=2013-03-07 |ISBN=978-3-642-73541-7 |Online=https://books.google.com.ph/books?id=J8N_BwAAQBAJ&pg=PA218&dq=marktideologie+definition&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwjF55yUtdrmAhXwyIsBHVT9A80Q6AEIKjAA#v=onepage&q=marktideologie%20definition&f=false |Abruf=2019-12-29}}</ref>

''Marktstaat'' ist die Übersetzung von ''market state'' und bezeichnet einen Staat, der das Nationalstaatsprinzip angeblich überwunden hat und sich an die globalen Veränderungen mit ihren besonderen wirtschaftlichen Hausforderungen anpasst. Im Marktstaat wird alles zur Ware, auch Bildung und Sicherheit. Der Marktstaat kennt keine Bürger mehr, sondern nur noch Kunden.<ref>{{Literatur |Autor=Berthold Huber |Titel=Kurswechsel für Deutschland: Die Lehren aus der Krise |Verlag=Campus Verlag |Datum=2010-04-12 |ISBN=978-3-593-39104-5 |Online=https://books.google.com.ph/books?id=wrDjAjvpcgwC&pg=PA130&dq=marktradikalismus&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwim5YT8-tnmAhVPHKYKHQVFCjEQ6AEIOzAC#v=onepage&q=,%20auf%20den%20der%20Marktradikalismus&f=false |Abruf=2019-12-29}}</ref>

== Herkunft ==
Der Ausdruck ''Marktfundamentalismus'' wurde durch [[George Soros]] popularisiert, aber schon vorher von [[Jonathan Benthall]] verwendet.<ref>Jonathan Benthall: ''Inside Information on ‚the Market’''. In: ''Anthropology Today'', Bd. 7, Nr. 4 (Aug., 1991), S.&nbsp;1–2.</ref> Laut Soros sind ''Marktfundamentalisten'' Menschen, die „glauben, dass Märkte ein Gleichgewicht anstreben und dass dem Allgemeinwohl am besten gedient ist, wenn man den Teilnehmern erlaubt, ihre Eigeninteressen zu verfolgen.“<ref>George Soros: [https://www.welt.de/wirtschaft/article1591321/Soros-sieht-schlimmste-Krise-seit-60-Jahren.html ''Soros sieht schlimmste Krise seit 60 Jahren''] Welt Online 25. Januar 2008</ref> Zur Bedeutung in der globalisierten Ökonomie schreibt Soros: „Der Marktfundamentalismus ist inzwischen so mächtig, dass alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt werden.“<ref>George Soros: ''Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism)'', Alexander Fest Verlag, Berlin 1998.</ref>
Der Ausdruck ''Marktfundamentalismus'' wurde durch [[George Soros]] popularisiert, aber schon vorher von [[Jonathan Benthall]] verwendet.<ref>Jonathan Benthall: ''Inside Information on ‚the Market’''. In: ''Anthropology Today'', Bd. 7, Nr. 4 (Aug., 1991), S.&nbsp;1–2.</ref> Laut Soros sind ''Marktfundamentalisten'' Menschen, die „glauben, dass Märkte ein Gleichgewicht anstreben und dass dem Allgemeinwohl am besten gedient ist, wenn man den Teilnehmern erlaubt, ihre Eigeninteressen zu verfolgen.“<ref>George Soros: [https://www.welt.de/wirtschaft/article1591321/Soros-sieht-schlimmste-Krise-seit-60-Jahren.html ''Soros sieht schlimmste Krise seit 60 Jahren''] Welt Online 25. Januar 2008</ref> Zur Bedeutung in der globalisierten Ökonomie schreibt Soros: „Der Marktfundamentalismus ist inzwischen so mächtig, dass alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt werden.“<ref>George Soros: ''Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism)'', Alexander Fest Verlag, Berlin 1998.</ref>


== Bedeutung ==
Die Sozialwissenschaftler [[Margaret Somers]] und Fred Block definieren Marktfundamentalismus als „heutige Form der Vorstellung, dass die Gesellschaft als Ganzes einem System selbstregulierender Märkte untergeordnet werden sollte. Marktfundamentalismus ist extremer als die (und darf nicht verwechselt werden mit den) abgestuften Meinungen der meisten ''Mainstream''-Ökonomen. Er ist ebenfalls sehr verschieden vom komplexen Gemisch an politischen Linien, die in aktuell existierenden Marktgesellschaften verfolgt werden.“<ref>Margaret R. Somers, Fred Block: ''From Poverty to Perversity: Ideas, Markets, and Institutions over 200 Years of Welfare Debate''. In: ''American Sociological Review'', 2005, Bd. 70, Nr. 2, (Apr., 2005), S. 260 f. “Market fundamentalism is the contemporary form of the idea that society as a whole should be subordinated to a system of self-regulating markets. Market fundamentalism is more extreme than (and must not be confused with) the nuanced arguments made by most mainstream economists. It is also very different from the complex mix of policies pursued by governments in actually existing market societies.”</ref> Typischerweise würden selbst-regulierte Märkte als [[natur]]gemäß, staatliche Eingriffe dagegen als [[kultur]]ell bedingte Willkür dargestellt. Somers/Block sind der Ansicht, dass die Überzeugungen einer Überlegenheit marktwirtschaftlicher Prinzipien häufig auf einer „quasi-religiösen“ Gewissheit beruhten. [[Jürgen Habermas]] beklagt das „[[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistische]] Potential“<ref name="Habermas - Marktfundamentalismus und Sozialdarwinismus">[[Jürgen Habermas]]:[http://www.zeit.de/2008/46/Habermas ''Nach dem Bankrott''.] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 46/2008</ref> des „Marktfundamentalismus“.
Die Sozialwissenschaftler [[Margaret Somers]] und Fred Block definieren Marktfundamentalismus als „heutige Form der Vorstellung, dass die Gesellschaft als Ganzes einem System selbstregulierender Märkte untergeordnet werden sollte. Marktfundamentalismus ist extremer als die (und darf nicht verwechselt werden mit den) abgestuften Meinungen der meisten ''Mainstream''-Ökonomen. Er ist ebenfalls sehr verschieden vom komplexen Gemisch an politischen Linien, die in aktuell existierenden Marktgesellschaften verfolgt werden.“<ref>Margaret R. Somers, Fred Block: ''From Poverty to Perversity: Ideas, Markets, and Institutions over 200 Years of Welfare Debate''. In: ''American Sociological Review'', 2005, Bd. 70, Nr. 2, (Apr., 2005), S. 260 f. “Market fundamentalism is the contemporary form of the idea that society as a whole should be subordinated to a system of self-regulating markets. Market fundamentalism is more extreme than (and must not be confused with) the nuanced arguments made by most mainstream economists. It is also very different from the complex mix of policies pursued by governments in actually existing market societies.”</ref> Typischerweise würden selbst-regulierte Märkte als [[natur]]gemäß, staatliche Eingriffe dagegen als [[kultur]]ell bedingte Willkür dargestellt. Somers/Block sind der Ansicht, dass die Überzeugungen einer Überlegenheit marktwirtschaftlicher Prinzipien häufig auf einer „quasi-religiösen“ Gewissheit beruhten.


[[Jürgen Habermas]] beklagt das „[[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistische]] Potential“<ref name="Habermas - Marktfundamentalismus und Sozialdarwinismus">[[Jürgen Habermas]]:[http://www.zeit.de/2008/46/Habermas ''Nach dem Bankrott''.] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 46/2008</ref> des ''Marktfundamentalismus''. Auch [[Christoph Butterwegge]] hält den Neoliberalismus für eine Spielart des Sozialdarwinismus.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.derstandard.at/story/1363706934087/neoliberalismus-als-spielart-des-sozialdarwinismus |titel=Neoliberalismus als Spielart des Sozialdarwinismus - derStandard.at |abruf=2019-12-29 |sprache=de-AT}}</ref>
[[Friedhelm Hengsbach]] verweist auf den seiner Ansicht nach „marktradikalen Bezugspunkt“ der Konzeption der [[Soziale Marktwirtschaft|Sozialen Marktwirtschaft]], die „idealtypische Konstruktion des [[Vollkommener Markt|vollkommenen Marktes]]“.<ref>Friedhelm Hengsbach: ''Soziale Marktwirtschaft – Konstrukt, Kampfformel, Leitbild?'' In: Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth: ''Die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft''. 1. Auflage. Mohr Siebeck, 2004, ISBN 978-3-16-148296-0, S. 164</ref>


Der ehemalige [[Weltbank]]vorsitzende [[Joseph Stiglitz]] vertrat in seiner Dankesrede für den [[Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften]] die Ansicht, dass der [[Washington Consensus|Washingtoner Konsens]] auf „marktfundamentalistischen Grundsätzen“ basiere.<ref>Joseph E. Stiglitz: ''Information and Change in the Paradigm in Economics''. In: ''American Economic Review'', Bd. 92, Nr. 3 (Jun., 2002), S. 460, 461.</ref><ref>vgl. auch Joseph E. Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Auflage. Goldmann, München 2004, S. 106</ref> Die zugrundeliegende „Ideologie“ beruhe auf der Verabsolutierung des [[Adam Smith]] zugeschriebenen Modells, nachdem Marktkräfte die Volkswirtschaft wie von [[Unsichtbare Hand|unsichtbarer Hand]] zu effizienten Ergebnissen führen würden.<ref>Joseph Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Aufl. 2004, S. 105 f.</ref> Dabei bleibe unberücksichtigt, dass das Marktsystem vollständigen Wettbewerb und vollkommene Information erfordere.<ref>Joseph Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Aufl. 2004, S. 106</ref> Fundamentalistisch sind nach Stiglitz Vorstellungen, dass „die Märkte sich selbst regulieren, Ressourcen effizient verteilen und den Interessen der Öffentlichkeit dienen“. Diese Ansichten seien eine interessengeleitete politische Doktrin, die keine Grundlage in der ökonomischen Theorie habe.<ref name="Stiglitz - Kritik am Marktfundamentalismus">Joseph E. Stiglitz 2008 in Project Syndicate [http://www.project-syndicate.org/commentary/stiglitz101/German ''Das Ende des Neoliberalismus?''], zuletzt abgerufen am 26. Juni 2009</ref> Stiglitz bezeichnete die weltweite Finanzkrise 2008 als Ende des von ihm gesehenen Marktfundamentalismus.<ref>{{Internetquelle |autor=Michael Hesse |url=http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ideengeschichte-die-liberalen-und-der-staat-11715508.html |titel=Ideengeschichte Die Liberalen und der Staat |werk= |hrsg=FAZ |datum=2012-04-21 |format=Nachrichtenartikel |abruf=2009-04-07}}</ref> Für Stiglitz gilt es, den durch Marktfundamentalismus geprägten [[Neoliberalismus]] zugunsten eines stärker ausbalancierten Wirtschaftssystems hinter sich zu lassen.<ref>Joseph E. Stiglitz: ''Moving beyond market fundamentalism to a more balanced economy.'' In: ''Annals of public and cooperative economics'' Bd. 80, H. 3, 2009, S.&nbsp;345–360, {{ISSN|0770-8548}}</ref>
[[Friedhelm Hengsbach]] verweist auf den seiner Ansicht nach „marktradikalen Bezugspunkt“ der Konzeption der [[Soziale Marktwirtschaft|Sozialen Marktwirtschaft]], die „idealtypische Konstruktion des [[Vollkommener Markt|vollkommenen Marktes]]“.<ref>Friedhelm Hengsbach: ''Soziale Marktwirtschaft – Konstrukt, Kampfformel, Leitbild?'' In: Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth: ''Die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft''. 1. Auflage. Mohr Siebeck, 2004, ISBN 978-3-16-148296-0, S. 164</ref><blockquote>Beiden Ideologien, dem Neoliberalismus wie dem Rechtsextremismus, wohnt somit eine starke Tendenz zum Sozialdarwinismus inne. Die Gesellschaft, die ganze Welt wird als ein archaischer Dschungel begriffen, in dem nur die starken Individuen bestehen können (Neoliberalismus) oder die starken Nationen, Kulturen und Rassen (Rechtsextremismus). Die Neue Rechte kollektiviert somit den "individuellen" Sozialdarwinismus, wie ihn der Neoliberalismus predigt. Ganze Nationen oder Rassen werden als höher- oder minderwertig begriffen, was ja auch den ärmsten "Volksgenossen" der angeblich überlegenen Gruppe ein Identifikationsangebot macht.<ref>{{Internetquelle |autor=Tomasz Konicz |url=https://www.heise.de/tp/features/National-und-Neoliberal-3837939.html |titel=National und Neoliberal |abruf=2019-12-29 |sprache=de}}</ref></blockquote>Der ehemalige [[Weltbank]]vorsitzende [[Joseph Stiglitz]] vertrat in seiner Dankesrede für den [[Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften]] die Ansicht, dass der [[Washington Consensus|Washingtoner Konsens]] auf „marktfundamentalistischen Grundsätzen“ basiere.<ref>Joseph E. Stiglitz: ''Information and Change in the Paradigm in Economics''. In: ''American Economic Review'', Bd. 92, Nr. 3 (Jun., 2002), S. 460, 461.</ref><ref>vgl. auch Joseph E. Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Auflage. Goldmann, München 2004, S. 106</ref> Die zugrundeliegende „Ideologie“ beruhe auf der Verabsolutierung des [[Adam Smith]] zugeschriebenen Modells, nachdem Marktkräfte die Volkswirtschaft wie von [[Unsichtbare Hand|unsichtbarer Hand]] zu effizienten Ergebnissen führen würden.<ref>Joseph Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Aufl. 2004, S. 105 f.</ref> Dabei bleibe unberücksichtigt, dass das Marktsystem vollständigen Wettbewerb und vollkommene Information erfordere.<ref>Joseph Stiglitz: ''Die Schatten der Globalisierung''. 4. Aufl. 2004, S. 106</ref> Fundamentalistisch sind nach Stiglitz Vorstellungen, dass „die Märkte sich selbst regulieren, Ressourcen effizient verteilen und den Interessen der Öffentlichkeit dienen“. Diese Ansichten seien eine interessengeleitete politische Doktrin, die keine Grundlage in der ökonomischen Theorie habe.<ref name="Stiglitz - Kritik am Marktfundamentalismus">Joseph E. Stiglitz 2008 in Project Syndicate [http://www.project-syndicate.org/commentary/stiglitz101/German ''Das Ende des Neoliberalismus?''], zuletzt abgerufen am 26. Juni 2009</ref> Stiglitz bezeichnete die weltweite Finanzkrise 2008 als Ende des von ihm gesehenen Marktfundamentalismus.<ref>{{Internetquelle |autor=Michael Hesse |url=http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ideengeschichte-die-liberalen-und-der-staat-11715508.html |titel=Ideengeschichte Die Liberalen und der Staat |werk= |hrsg=FAZ |datum=2012-04-21 |format=Nachrichtenartikel |abruf=2009-04-07}}</ref> Für Stiglitz gilt es, den durch Marktfundamentalismus geprägten [[Neoliberalismus]] zugunsten eines stärker ausbalancierten Wirtschaftssystems hinter sich zu lassen.<ref>Joseph E. Stiglitz: ''Moving beyond market fundamentalism to a more balanced economy.'' In: ''Annals of public and cooperative economics'' Bd. 80, H. 3, 2009, S.&nbsp;345–360, {{ISSN|0770-8548}}</ref>


Im Jahr 1997 verurteilte [[Heiner Geißler]] den seiner Ansicht nach „globalen Marktfundamentalismus“ als den „neuen Götzen der Börsenjobber, Aktionäre und Industrierepräsentanten“.<ref>Heiner Geißler: ''Das nicht gehaltene Versprechen. Politik im Namen Gottes''. 1997</ref>
Im Jahr 1997 verurteilte [[Heiner Geißler]] den seiner Ansicht nach „globalen Marktfundamentalismus“ als den „neuen Götzen der Börsenjobber, Aktionäre und Industrierepräsentanten“.<ref>Heiner Geißler: ''Das nicht gehaltene Versprechen. Politik im Namen Gottes''. 1997</ref>


== Kritik am Begriff "Marktfundamentalismus" ==
== Kritik ==
[[Jagdish Bhagwati]] beklagt einen ''antimarktwirtschaftlichen Fundamentalismus'', der jetzt überall wachse. Anders als z.&nbsp;B. Stiglitz vermag er während der Regierungszeit des US-Präsidenten [[George W. Bush]] keinen Marktfundamentalismus zu erkennen. Statt Deregulierung habe er viel gescheiterte Regulierung gesehen, was meist mit Lobbyismus zu tun habe.<ref>[http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/512/317387/text/2/ ''Finanzprodukte sind wie Feuer''.]{{Toter Link|url=http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/512/317387/text/2/ |date=2018-12 |archivebot=2018-12-02 20:21:20 InternetArchiveBot }} Sueddeutsche.de, 11. November 2008</ref>
[[Jagdish Bhagwati]] beklagt einen ''antimarktwirtschaftlichen Fundamentalismus'', der jetzt überall wachse. Anders als z.&nbsp;B. Stiglitz vermag er während der Regierungszeit des US-Präsidenten [[George W. Bush]] keinen Marktfundamentalismus zu erkennen. Statt Deregulierung habe er viel gescheiterte Regulierung gesehen, was meist mit Lobbyismus zu tun habe.<ref>[http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/512/317387/text/2/ ''Finanzprodukte sind wie Feuer''.]{{Toter Link|url=http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/512/317387/text/2/ |date=2018-12 |archivebot=2018-12-02 20:21:20 InternetArchiveBot }} Sueddeutsche.de, 11. November 2008</ref>



Version vom 29. Dezember 2019, 10:47 Uhr

Marktfundamentalismus[1] ist die kritische Bezeichnung für die Überzeugung, dass Märkte, die sich selbst regulieren, alle wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, besonders Verteilungsprozesse, zum größten gemeinsamen Nutzen koordinieren können. Der Ausdruck formuliert eine Analogie zum religiösen Fundamentalismus. Kritiker lehnen den Ausdruck als unzutreffend ab, er sei außerdem unsachlich, da er marktliberale Auffassungen moralisch diskreditiere.

Der positive Gegensatz wird oft als öko-soziale Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft, Green Economy, Humane Marktwirtschaft, Inklusiver Kapitalismus oder Zivilisierte Marktwirtschaft bezeichnet.

Verwandte Begriffe

Ähnliche Bedeutungen haben die Ausdrücke Marktradikalismus und Marktideologie, die wie Marktfundamentalismus oft als pejorative politische Schlagworte benutzt werden. In The Shield of Achilles: War, Peace and the Course of History nannte Philip Bobbitt nannte sein Konzept Marktstaat.

Marktradikalismus betont die behauptete Übersteigerung marktwirtschaftlicher Prinzipien, wobei das wort radikal pejorativ gebraucht wird, in Annäherung an politischen Radikalismus.[2]

Marktideologie betont die behauptete Unwissenschaftlichkeit marktwirtschaftlicher Theorien und den Verschleierungscharakter von Ideologien.[3]

Marktstaat ist die Übersetzung von market state und bezeichnet einen Staat, der das Nationalstaatsprinzip angeblich überwunden hat und sich an die globalen Veränderungen mit ihren besonderen wirtschaftlichen Hausforderungen anpasst. Im Marktstaat wird alles zur Ware, auch Bildung und Sicherheit. Der Marktstaat kennt keine Bürger mehr, sondern nur noch Kunden.[4]

Herkunft

Der Ausdruck Marktfundamentalismus wurde durch George Soros popularisiert, aber schon vorher von Jonathan Benthall verwendet.[5] Laut Soros sind Marktfundamentalisten Menschen, die „glauben, dass Märkte ein Gleichgewicht anstreben und dass dem Allgemeinwohl am besten gedient ist, wenn man den Teilnehmern erlaubt, ihre Eigeninteressen zu verfolgen.“[6] Zur Bedeutung in der globalisierten Ökonomie schreibt Soros: „Der Marktfundamentalismus ist inzwischen so mächtig, dass alle politischen Kräfte, die sich ihm zu widersetzen wagen, kurzerhand als sentimental, unlogisch oder naiv gebrandmarkt werden.“[7]

Bedeutung

Die Sozialwissenschaftler Margaret Somers und Fred Block definieren Marktfundamentalismus als „heutige Form der Vorstellung, dass die Gesellschaft als Ganzes einem System selbstregulierender Märkte untergeordnet werden sollte. Marktfundamentalismus ist extremer als die (und darf nicht verwechselt werden mit den) abgestuften Meinungen der meisten Mainstream-Ökonomen. Er ist ebenfalls sehr verschieden vom komplexen Gemisch an politischen Linien, die in aktuell existierenden Marktgesellschaften verfolgt werden.“[8] Typischerweise würden selbst-regulierte Märkte als naturgemäß, staatliche Eingriffe dagegen als kulturell bedingte Willkür dargestellt. Somers/Block sind der Ansicht, dass die Überzeugungen einer Überlegenheit marktwirtschaftlicher Prinzipien häufig auf einer „quasi-religiösen“ Gewissheit beruhten.

Jürgen Habermas beklagt das „sozialdarwinistische Potential“[9] des Marktfundamentalismus. Auch Christoph Butterwegge hält den Neoliberalismus für eine Spielart des Sozialdarwinismus.[10]

Friedhelm Hengsbach verweist auf den seiner Ansicht nach „marktradikalen Bezugspunkt“ der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, die „idealtypische Konstruktion des vollkommenen Marktes“.[11]

Beiden Ideologien, dem Neoliberalismus wie dem Rechtsextremismus, wohnt somit eine starke Tendenz zum Sozialdarwinismus inne. Die Gesellschaft, die ganze Welt wird als ein archaischer Dschungel begriffen, in dem nur die starken Individuen bestehen können (Neoliberalismus) oder die starken Nationen, Kulturen und Rassen (Rechtsextremismus). Die Neue Rechte kollektiviert somit den "individuellen" Sozialdarwinismus, wie ihn der Neoliberalismus predigt. Ganze Nationen oder Rassen werden als höher- oder minderwertig begriffen, was ja auch den ärmsten "Volksgenossen" der angeblich überlegenen Gruppe ein Identifikationsangebot macht.[12]

Der ehemalige Weltbankvorsitzende Joseph Stiglitz vertrat in seiner Dankesrede für den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften die Ansicht, dass der Washingtoner Konsens auf „marktfundamentalistischen Grundsätzen“ basiere.[13][14] Die zugrundeliegende „Ideologie“ beruhe auf der Verabsolutierung des Adam Smith zugeschriebenen Modells, nachdem Marktkräfte die Volkswirtschaft wie von unsichtbarer Hand zu effizienten Ergebnissen führen würden.[15] Dabei bleibe unberücksichtigt, dass das Marktsystem vollständigen Wettbewerb und vollkommene Information erfordere.[16] Fundamentalistisch sind nach Stiglitz Vorstellungen, dass „die Märkte sich selbst regulieren, Ressourcen effizient verteilen und den Interessen der Öffentlichkeit dienen“. Diese Ansichten seien eine interessengeleitete politische Doktrin, die keine Grundlage in der ökonomischen Theorie habe.[17] Stiglitz bezeichnete die weltweite Finanzkrise 2008 als Ende des von ihm gesehenen Marktfundamentalismus.[18] Für Stiglitz gilt es, den durch Marktfundamentalismus geprägten Neoliberalismus zugunsten eines stärker ausbalancierten Wirtschaftssystems hinter sich zu lassen.[19]

Im Jahr 1997 verurteilte Heiner Geißler den seiner Ansicht nach „globalen Marktfundamentalismus“ als den „neuen Götzen der Börsenjobber, Aktionäre und Industrierepräsentanten“.[20]

Kritik

Jagdish Bhagwati beklagt einen antimarktwirtschaftlichen Fundamentalismus, der jetzt überall wachse. Anders als z. B. Stiglitz vermag er während der Regierungszeit des US-Präsidenten George W. Bush keinen Marktfundamentalismus zu erkennen. Statt Deregulierung habe er viel gescheiterte Regulierung gesehen, was meist mit Lobbyismus zu tun habe.[21]

Auch Bryan Caplan kritisiert die Verwendung des Schlagworts. Für den ökonomischen Mainstream sei der populäre Vorwurf des „Marktfundamentalismus“ schlicht falsch und töricht. Selbst Milton Friedman, der sehr viel marktfreundlicher sei, als der Durchschnitt der Ökonomen, räume offen Schwachstellen des Marktes ein und hätte keinen quasi-religiösen Glauben an die Unfehlbarkeit des freien Marktes. Die einzigen plausiblen Kandidaten für „Marktfundamentalismus“ seien die Nachfolger von Ludwig von Mises, insbesondere sein Schüler Murray Rothbard und das Ludwig von Mises Institute. Diese würden aber meist nur miteinander diskutieren, weil sie sich weit ab des ökonomischen Mainstreams befinden würden. Caplan meint, dass anstelle eines Marktfundamentalismus ein quasi-religiöser Demokratiefundamentalismus verbreitet sei.[22]

Nach dem Soziologen Wolfgang Krohn diene „die Prägung des Wortes Marktfundamentalismus der moralischen Diskreditierung einer neo-liberalistischen Haltung“. Sie nutze dabei deren Gegnerschaft gegen moralischen Fundamentalismus, um klarzustellen, dass „die Vorwürfe des Fundamentalismus und der Scheinheiligkeit gelegentlich auch an die Adresse scheinbar entmoralisierter Akteure zurückgegeben werden, wenn diese sich auf die unerbittliche Sachlogik funktionaler Imperative der Funktionssysteme berufen, um manifest unethische Praktiken zu veredeln.“[23]

Literatur

  • Lee Boldeman: The cult of the market: economic fundamentalism and its discontents. AU E Press, Canberra 2007 epress.anu.edu.au (PDF; 1,7 MB)
  • Jean Gadrey: New Economy, New Myth, 2001, ISBN 978-0-415-30142-8 (speziell Kapitel Market diversity and regulation und The limits of the market; Original: ISBN 978-2-08-080023-7)
  • Peter Schönhöffer (Hrsg.) u. a.: Pax Christi – Kommission Weltwirtschaft: Der Gott Kapital. Anstöße zu einer Religions- und Kulturkritik. LIT-Verlag, Münster 2006, ISBN 3-8258-9316-2
  • Franz Josef Radermacher: Ökosoziale Grundlagen für Nachhaltigkeitspfade – Warum der Marktfundamentalismus die Welt arm macht. In: GAIA 13, Nr. 3, 2004, S. 170–175.
  • George Soros: Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism). Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-8286-0097-2
  • Joseph E. Stiglitz: Chancen der Globalisierung. Siedler, Berlin 2006

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rolf Stürner: Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie. 2007, ISBN 978-3-406-56884-8, S. 144, 141 und 127
  2. Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak: Neoliberalismus: Analysen und Alternativen. Springer-Verlag, 2008, ISBN 978-3-531-90899-1 (com.ph [abgerufen am 29. Dezember 2019]).
  3. Hans-Martin Sass: Ethik und öffentliches Gesundheitswesen: Ordnungsethische und ordnungspolitische Einflußfaktoren im öffentlichen Gesundheitswesen. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-642-73541-7 (com.ph [abgerufen am 29. Dezember 2019]).
  4. Berthold Huber: Kurswechsel für Deutschland: Die Lehren aus der Krise. Campus Verlag, 2010, ISBN 978-3-593-39104-5 (com.ph [abgerufen am 29. Dezember 2019]).
  5. Jonathan Benthall: Inside Information on ‚the Market’. In: Anthropology Today, Bd. 7, Nr. 4 (Aug., 1991), S. 1–2.
  6. George Soros: Soros sieht schlimmste Krise seit 60 Jahren Welt Online 25. Januar 2008
  7. George Soros: Die Krise des globalen Kapitalismus (The crisis of Global Capitalism), Alexander Fest Verlag, Berlin 1998.
  8. Margaret R. Somers, Fred Block: From Poverty to Perversity: Ideas, Markets, and Institutions over 200 Years of Welfare Debate. In: American Sociological Review, 2005, Bd. 70, Nr. 2, (Apr., 2005), S. 260 f. “Market fundamentalism is the contemporary form of the idea that society as a whole should be subordinated to a system of self-regulating markets. Market fundamentalism is more extreme than (and must not be confused with) the nuanced arguments made by most mainstream economists. It is also very different from the complex mix of policies pursued by governments in actually existing market societies.”
  9. Jürgen Habermas:Nach dem Bankrott. In: Die Zeit, Nr. 46/2008
  10. Neoliberalismus als Spielart des Sozialdarwinismus - derStandard.at. Abgerufen am 29. Dezember 2019 (österreichisches Deutsch).
  11. Friedhelm Hengsbach: Soziale Marktwirtschaft – Konstrukt, Kampfformel, Leitbild? In: Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth: Die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft. 1. Auflage. Mohr Siebeck, 2004, ISBN 978-3-16-148296-0, S. 164
  12. Tomasz Konicz: National und Neoliberal. Abgerufen am 29. Dezember 2019.
  13. Joseph E. Stiglitz: Information and Change in the Paradigm in Economics. In: American Economic Review, Bd. 92, Nr. 3 (Jun., 2002), S. 460, 461.
  14. vgl. auch Joseph E. Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung. 4. Auflage. Goldmann, München 2004, S. 106
  15. Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung. 4. Aufl. 2004, S. 105 f.
  16. Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung. 4. Aufl. 2004, S. 106
  17. Joseph E. Stiglitz 2008 in Project Syndicate Das Ende des Neoliberalismus?, zuletzt abgerufen am 26. Juni 2009
  18. Michael Hesse: Ideengeschichte Die Liberalen und der Staat. (Nachrichtenartikel) FAZ, 21. April 2012, abgerufen am 7. April 2009.
  19. Joseph E. Stiglitz: Moving beyond market fundamentalism to a more balanced economy. In: Annals of public and cooperative economics Bd. 80, H. 3, 2009, S. 345–360, ISSN 0770-8548
  20. Heiner Geißler: Das nicht gehaltene Versprechen. Politik im Namen Gottes. 1997
  21. Finanzprodukte sind wie Feuer.@1@2Vorlage:Toter Link/www.sueddeutsche.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Sueddeutsche.de, 11. November 2008
  22. Bryan Douglas Caplan: The myth of the rational voter: why democracies choose bad policies. Princeton University Press, 2007, S. 183 ff., 185
  23. Wolfgang Krohn: Funktionen der Moralkommunikation