Aderlass

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Aderlass am Unterarm, mittelalterlich
Aderlass-Set eines Baders, Anfang 19. Jh., Märkisches Museum Berlin

Der Aderlass (griech. Phlebotomie beziehungsweise lat. Missio sanguinis) ist ein seit der Antike bekanntes und bis ins 19. Jahrhundert verbreitet, bei Menschen und Tieren[1] angewandtes Heilverfahren. Beim Aderlass wird dem Patienten eine teilweise erhebliche Menge Blut entnommen. Heute ist belegt, dass der Aderlass nur bei wenigen Krankheitsbildern eine positive Wirkung hat, sodass er weitgehend aus dem medizinischen Alltag verschwunden ist.

Umgangssprachlich wird gelegentlich auch die Blutspende oder die Blutentnahme zu Untersuchungszwecken als Aderlass bezeichnet. Auch finanzielle Einbußen oder Verluste an Soldaten und Material können im übertragenen Sinn gemeint sein.

Geschichte

Aderlassmännlein aus Konrad von Megenberg „Buch der Natur“
Aderlasspunkte aus Hans von Gersdorff „Feldbuch der Wundarznei“ (1517)
Behandlung der Pest durch Aderlass (1555, Michael Ostendorfer)

Der Aderlass ist eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen. Er ist seit der Zeit des Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr) bekannt und galt bis ins 17. Jahrhundert als eine der wichtigsten medizinischen Therapieformen.

Die Anwendung des Aderlasses beruhte auf zwei Vorstellungen:

  • Zum einen wurde angenommen, Blut könne sich in den Gliedern stauen und verderben. „Schlechtes Blut“ müsse entfernt werden.
  • Zum anderen wurden Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) zurückgeführt. Durch Ausleitung bei Blutfülle und Fieber konnte nach dieser Vorstellung das Gleichgewicht wiederhergestellt werden.

Der griechische Arzt Galenos (ca. 129-215) glaubte, Blut sei der dominante Saft und müsse besonders kontrolliert werden. Er stellte ein umfassendes System auf, das die Menge des zu entnehmenden Blutes aus dem Alter des Patienten, seinem Zustand sowie aus Jahreszeit und Wetterbedingungen ableitete.

Im römischen Heer fand der Aderlass Anwendung als Disziplinarstrafe.[2] Im Tristan des Gottfried von Straßburg wird ebenfalls ein unfreiwilliger Aderlass erwähnt.[3]

Auch in der orientalischen Medizin des Mittelalters (7. bis 13. Jhdt.) war der Aderlass bekannt, wahrscheinlich durch die griechischen Autoren. Die historisch wichtigen medizinischen Schriften al-Qānūn von Ibn Sina (Avicenna) und insbesondere at-Tasrif li-man ʿadschaza ʿan at-taʾlif empfehlen den Aderlass. Die ayurvedische Medizin kannte den Aderlass ebenfalls, wie in der Sushruta-Samhitâ dargestellt ist. Auch im fernen Osten gehört er zu den klassischen Standardtherapien.

Im Mittelalter war der Aderlass durch Ärzte und Bader gängige Praxis und wurde bis in die Neuzeit auch in Klöstern[4] durchgeführt. Das Blut wurde mittels genauer Inspektion (Hämatoskopie, Blutschau)[5][6] zu diagnostischen Zwecken benutzt[7][8], wobei man sich frühzeitig durchaus gewisser „Risiken und Nebenwirkungen“ eines Aderlasses bewusst war.[9] Eine weite Palette von Krankheiten wurde durch den Aderlass behandelt; man kann fast von einer universellen Methode sprechen. Die Zeiten für den Aderlass und die entsprechenden Stellen am Körper wurden nach astrologischen Kriterien festgelegt. Davon zeugen die zahlreichen Darstellungen von sogenannten „Aderlass-Männchen“.[10] Die Lasstafel oder Lasszettel genannten Aderlasskalender gehören zu den frühesten Erzeugnissen des Buchdrucks,[11] Aderlasstafeln und Aderlassmännlein gehörten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zur üblichen Ausstattung von Kalendern.[12] Sie sorgten später für Spottgedichte und Parodien.

James Gillray: Der Aderlass (um 1805)

Im 16. Jahrhundert kam es innerhalb der europäischen Ärzteschaft zu einem mit großer Heftigkeit geführten Aderlass-Streit, nachdem Pierre Brissot eine von den Lehren der arabisch schreibenden Ärzte abweichende Methode (die er auf Hippokrates zurückführte) propagierte.

Auch nachdem der Arzt William Harvey durch die Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahre 1628 die Grundlagen des Aderlasses widerlegt hatte und erste Schritte zu einer auf wissenschaftlichen Methoden basierenden Medizin gemacht waren, blieb der Aderlass eine verbreitete Behandlungsmethode. Selbst der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland empfahl noch im frühen 19. Jahrhundert den Aderlass. Der Nachweis von Pierre-Charles-Alexandre Louis 1828, dass der Aderlass bei Lungenentzündung und verschiedenen Fiebererkrankungen unwirksam sei (la méthode numérique), hatte kaum Einfluss auf die allgemeine Anwendung.

In den USA favorisierte der Arzt Benjamin Rush ein extensives Aderlassen. George Washington wurden wegen einer Kehlkopfinfektion mehr als 1,5 Liter Blut entnommen; dieser Verlust kann zu seinem Tode beigetragen haben. Auch beim Tod des Kaisers Leopold II. beschleunigte, so die Kritik Samuel Hahnemanns, ein vierfacher Aderlass innerhalb von 24 Stunden durch seinen Leibarzt Lagusius das Ableben des Herrschers.

Methoden

Der Bader des Mittelalters verwendete Aderlass-Messer, sogenannte Flieten, oder ab dem 15. Jahrhundert ein Gerät, dessen spezielles Messer nach dem Anritzen der Ader zurückschnappt, den Schröpfschnepper.

Heutzutage wird Venenblut mit einer größeren Kanüle abgenommen. Die Menge des abgenommenen Blutes liegt zwischen 50 und 500 ml.

Eine weitere Methode der Blutentziehung ist der Einsatz von Blutegeln. Die spezielle Zusammensetzung des Speichels des Blutegels verhindert die Gerinnung des Blutes. Allerdings ist die entnommene Blutmenge ziemlich gering.

Einsatz in der heutigen Medizin

Der Aderlass spielt heute nur bei wenigen Erkrankungen eine wichtige Rolle:

  • Bei der Polycythaemia vera, einer Erkrankung, die insbesondere zu einer krankhaft vermehrten Bildung von Erythrozyten (rote Blutkörperchen) und damit zu einer Erhöhung der Blutviskosität führt. Zur Behandlung der Erkrankung werden anfänglich häufig 6 bis 8 Aderlässe im wöchentlichen Abstand (bis zu 500 ml) durchgeführt, um den lebensbedrohlich hohen Hämatokritwert (teilweise über 60 %) auf einen Normalwert (ca. 45 %) abzusenken. Danach erfolgt diese Maßnahme in einem 6- bis 12-wöchigem Abstand, wenn nicht andere medizinische Schritte eingeleitet werden.[13]
  • Bei der Hämochromatose, einer Erkrankung des Eisenstoffwechsels, werden lebenslang Aderlässe zur Senkung des Eisengehaltes im Körper durchgeführt.[14]
  • Bei einer Polyglobulie[15] kann eine Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes durch Aderlass erforderlich werden, wenn beispielsweise eine Zentralvenenthrombose im Auge droht oder bereits aufgetreten ist. Bei reaktiven Formen der Polyglobulie ist die Aderlass-Therapie jedoch kontraindiziert, da die die Patienten die vermehrten Sauerstoffträger benötigen.[16]
  • Bei einer Porphyria cutanea tarda, einer Störung der Synthese des roten Blutfarbstoffs Häm, kann durch Aderlässe Eisen verringert werden, das ansonsten in der Leber Schäden anrichtet.[17]
  • Alle Erkrankungen mit venöser Stase, besonders der gesamte variköse Symptomenkomplex. Hier wird vor allem der lokale Aderlass eingesetzt.[18]

Im japanischen Aderlass (auch Mikroaderlass oder Shiraku) werden Krampfadern oder Besenreiser mit einem Messer oder einer Lanzette aufgestochen. Behandelt wird der Unterschenkel. Die Anwendung erfolgt bei Blutstauungen, die mit einer Dehnung von Blutgefäßen einhergehen.

In der Alternativmedizin zählt der Aderlass (wie auch das Schröpfen) zu den ausleitenden Verfahren.

Aktuell (2010er Jahre) erlebt das Verfahren insofern eine gewisse Rehabilitation, als dass klinische Studien erste Hinweise auf eine nicht nur vorübergehende Wirksamkeit bei Bluthochdruck zeigen. Die dauerhafte Drucksenkung bei regelmäßigem Aderlass, wie beispielsweise häufiger Blutspende, soll der unter Einnahme von Betablockern in üblicher Dosierung vergleichbar, unter bestimmten Umständen sogar überlegen sein. [19] [20]

Kuriosa

  • In früheren Jahrhunderten trug der Januar die Bezeichnung Lassmonat. Dies rührte daher, dass dieser Zeitraum von den Badern als der geeignetste Monat für den Aderlass angesehen wurde.[21]
  • Der Aderlass nach Hildegard von Bingen.[22] soll den Körper durch die Entnahme von „schlechtem Blut“ von Giften befreien, die durch übermäßiges Essen, Diätfehler, Stress, Sorgen, Angst und Enttäuschungen entstanden seien (vgl. Humoralpathologie). Das Blut soll dadurch von „krankmachenden Schlacken und Fäulnisstoffen“ gereinigt werden. Diese „Leistung“ bieten einige Heilpraktiker an.[23]

Siehe auch

Literatur

  • Gerrit Bauer: Das „Haager Aderlaßbüchlein“ (= Studien zum ärztlichen Vademecum des Spätmittelalters, 1), Würzburg 1978 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 14).
  • Josef Bauer: Geschichte der Aderlässe. München 1870, Neudruck (mit Register) München 1966.
  • Gerhard Eis und Wolfram Schmitt: Das Asanger Aderlaß- und Rezeptbüchlein (1516–1531). Stuttgart 1967 (= Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, Neue Folge, 31).
  • Konrad Goehl, Johannes Gottfried Mayer und Gundolf Keil: Der Aderlaßmann aus Michelstadt – Ein Plakat aus dem Mittelalter. In: Bewahren und Erforschen. Beiträge aus der Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek Michelstadt. Festgabe für Kurt Hans Staub zum 70. Geburtstag), hrsg. von Wolfgang Schmitz, Michelstadt 2003, S. 56–74.
  • Friedrich Lenhardt, Gundolf Keil: Lob des Aderlasses, Laus phlebotomiae, Utilitas phlebotomiae und De minutionis utilitate. In: Verfasserlexikon, V, Spalte 862–865.
  • Ortrun Riha: Der Aderlaß in der mittelalterlichen Medizin. In: Medizin in Gesellschaft und Geschichte 8, 1989 (veröffentlicht 1991), S. 93–118.

Weblinks

Commons: Aderlass – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Aderlass – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Kurt Engert: Geschichte des Aderlasses bei den Haustieren bis zur Gründung wissenschaftlicher Pflegstätten der Tierheilkunde. Dresden 1912.
  2. Rüdiger Krohn (Hrsg.): Gottfried von Straßburg: Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke. (I–II und) Kommentarband, 2. Aufl. Stuttgart 1981, S. 143 (Anm. zu V. 15117).
  3. Gerhard Eis: Der Aderlaß in Gottfrieds Tristan. In: Medizinische Monatsschrift 2, 1948, S. 162 ff.
  4. Gerhard Jaritz: Aderlaß und Schröpfen im Chorfrauenstift Klosterneuburg (1445–1533). In: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg, Neue Folge, 9 (Wien/Köln/Graz 1975), S. 67–108.
  5. Gundolf Keil: Acht Parallelen zu den Blutschau-Texten des Bremer Arzneibuchs. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Hämatoskopie. In: Niederdeutsche Mitteilungen 25, 1969, S. 117–135.
  6. Friedrich Lenhardt: Zur Ikonographie der Blutschau. In: Medizinhistorisches Journal 17, 1982, S. 63–77.
  7. Friedrich Lenhardt: Blutschau. Untersuchungen zur Entwicklung der Hämatoskopie (Medizinische Dissertation Würzburg 1980), jetzt bei Königshausen & Neumann, Würzburg 1986 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 22)
  8. Johannes Mayer: Die Blutschau in der spätmittelalterlichen deutschen Diagnostik. Nachträge zu Friedrich Lenhardt aus der handschriftlichen Überlieferung des ‚Arzneibuchs‘ Ortolfs von Baierland. In: Sudhoffs Archiv 72, 1988, S. 225–233.
  9. Friedrich Lenhardt: „Wann ain mensch geswillet von lassen“. Anweisungen zur Therapie von Komplikationen beim Aderlaß. In: „gelêrter der arzeniê, ouch apotêker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Willem F. Daems. Hrsg. von Gundolf Keil, Horst Wellm Verlag, Pattensen/Hannover 1982 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 24), ISBN 3-921456-35-5, S. 269–300
  10. Heinz Bergmann und Gundolf Keil: Das Münchner Pest-Laßmännchen. Standardisierungstendenzen in der spätmittelalterlichen deutschen Pesttherapie. In: Fachprosa-Studien. Beiträge zur spätmittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte. Hrsg. von Gundolf Keil, Peter Assion, Willem Frans Daems und Heinz-Ulrich Roehl. Berlin 1982, S. 318–330.
  11. Stephan Giess: Merckwürdige Begebenheiten. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire, 1993/3.
  12. Holger Böning: Volksaufklärung und Kalender. In: York-Gothart Mix (Hrsg): Der Kalender als Fibel des Alltagswissens. Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 27, Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 3-484-81027-0, S. 137–174, hier S. 170
  13. Polycythaemia Vera (PV). Leitlinie. (PDF) Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, S. 10.
  14. Hämochromatose-Therapie. Universitätsklinikum Ulm.
  15. Aderlass. Kliniken Essen-Mitte.
  16. D. Köhler, D. Dellweg: Polyglobulie. In: Deutsche medizinische Wochenschrift. 2010; 135(46): 2300-2303. doi:10.1055/s-0030-1267515
  17. Wie kann die PCT behandelt werden? Europäische Porphyrie-Initiative (EPI)
  18. W. J. McCarthy et al.: Management of sudden profuse bleeding from varicose veins. In: Surgery. Februar 1993; 113(2), S. 178–183, PMID 8430366.
  19. Michalsen et al.: "Effects of phlebotomy-induced reduction of body iron stores on metabolic syndrome: results from a randomized clinical trial". In: BMC Medicine, 10.1186/1741-7015-10-54
  20. Manco, Fernandez-Real: "Back to past leeches: repeated phlebotomies and cardiovascular risk". In: BMC Medicine, 10.1186/1741-7015-10-53
  21. Januar: Bauern- und Wetterregeln. Verlag Eugen Ulmer, abgerufen am 14. Januar 2013.
  22. Naturheilverfahren: Richtig glücklich und entspannt nach dem Aderlass. In: Die Welt. 14. Juli 2012.
  23. Aderlass nach Hildegard von Bingen. Seminar des Bayerischen Bauernverbands, aufgerufen am 14. Januar 2013.