Kurt Lüscher

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Kurt Karl Lüscher (* 6. Juli 1935 in Luzern[1]) ist ein Schweizer Soziologe. Der emeritierte Ordinarius für Soziologie an der Universität Konstanz ist durch seine Arbeiten zur Soziologie der Familie und der Familienpolitik, des Kindes, der Generationenbeziehungen und durch eine Theorie der Ambivalenz hervorgetreten.

Leben

Der Sohn eines Gärtners[1] studierte an den Universitäten Basel und Bern, wurde dort bei Richard F. Behrendt 1964 zum Dr. rer. pol. promoviert und bildete sich anschliessend an der Columbia University (New York) und der Cornell University (Ithaca NY) weiter. 1967 habilitierte sich Lüscher für Soziologie an der Universität Bern, wo er ein Extraordinariat übernahm. 1969/70 war er Visiting Associate Professor an der University of North Carolina at Chapel Hill. Von 1971 bis 2000 hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Konstanz inne. Seit seiner Emeritierung erfüllt er Lehraufträge an der Universität Bern, betätigt sich in der Erwachsenenbildung sowie in der Politikberatung und führt seine Arbeiten im Bereich der Generationenanalyse und der Kultur- und Wissenssoziologie weiter. In jüngster Zeit gilt seine Aufmerksamkeit der Tragweite des Konzepts der Ambivalenz in unterschiedlichen Disziplinen und Praxisfeldern. Diese Arbeiten werden durch das Excellenzcluster „Kulturelle Grundlagen der Integration“ an der Universität Konstanz gefördert.

Lüscher ist seit 1962 verheiratet, hat drei Kinder[1] und lebt in Bern

Werk und Wirkung

Zu Beginn von Lüschers Lehr- und Forschungstätigkeit standen die Bildungs- und Mediensoziologie im Vordergrund, so in seiner Dissertation über den „Beruf des Gymnasiallehrers“ (1965). Darauf aufbauend erarbeitete er in seiner Habilitationsschrift einen Bezugsrahmen für die Analyse des „Prozesses der beruflichen Sozialisation“ (1968). Mit der Übernahme eines Lehrstuhles an der Universität Konstanz weitete er seine Interessen an Sozialisation auf das Geschehen in der Kindheit aus. Dabei arbeitete er eng mit dem amerikanischen Psychologen Urie Bronfenbrenner an der Entwicklung der Idee einer „Ökologie menschlicher Entwicklung“ zusammen und brachte in diese eine wissenssoziologische Perspektive ein. Dabei interessierte er sich auch für die politischen Implikationen dieses Ansatzes und lancierte 1979 die Idee einer „Sozialpolitik für das Kind“. Parallel dazu führte er mit einer ebenfalls analogen sozialökologischen Orientierung Untersuchungen im Bereich der Mediensoziologie durch (u.a. 1980). Er beteiligte er sich an den Debatten über die Wirkungen des Fernsehens sowie die Chancen und Probleme dessen Privatisierung. 1973 war er als sozialwissenschaftlicher Gutachter für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im so genannten „Lebach-Fall“ tätig (1975). Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Recht wurde seither immer wieder aktiviert, so mit Referaten im Rahmen des Deutschen Juristentags (1982, 2002).

In den 1980er Jahren wandte sich Lüscher vermehrt der Soziologie der Familie und der Familienpolitik zu. 1989 wurde Kurt Lüscher mit der Leitung eines vom Land Baden-Württemberg eingerichteten Forschungsschwerpunktes „Gesellschaft und Familie“ betraut. Wichtige Themen der konzeptuellen und empirischen Arbeiten waren die Prozesse der Familiengründung, der Lebensbedingungen von Familie und der familialen Sozialisation, die Gestaltung der Generationenbeziehungen, die öffentlichen Diskurse über Familie (Familienrhetorik), die Begründung von Familienpolitik sowie das Verhältnisses zwischen Familie und Recht. Dem wissenschaftlichen Beirat des Forschungsschwerpunkts gehörten an Ludwig Liegle (Tübingen) als Vorsitzender, Urie Bronfenbrenner (Ithaca), Wolfgang Glatzer (Frankfurt am Main), Charlotte Höhn (Wiesbaden), Franz-Xaver Kaufmann (Bielefeld), Lothar Krappmann (Berlin), Reinhart Lempp (Tübingen), Ilona Ostner (Göttingen) und Ingo Richter (Berlin).[2] Zu den Wissenschaftlern, die im Laufe ihrer Ausbildung eng mit Lüscher zusammengearbeitet und publiziert haben, gehören Heribert Engstler, Peter Gross, Hans Hoch, Martin Kohli, Andreas Lange, Wolfgang Lauterbach, Frank Lettke und Franz Schultheis.

Die langjährigen wissenschaftlichen Mitgliedschaften zusätzlich zu den Fachorganisationen umfassen u.a. den wissenschaftlichen Beirates beim deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), die Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienpolitik, das Netzwerkes Generationenbeziehungen der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und der „Interdisziplinären Arbeitskreises Ambivalenz“.

Wissenschaftlicher Ansatz

Schon in seinen frühen Arbeiten thematisierte Lüscher die Dynamik von Individualität und Sozialität, vorerst in der Analyse sozialer Rollen. So charakterisierte er in seiner Dissertation den „Beruf des Gymnasiallehrers“ (1965) das Selbstverständnis von Gymnasiallehrern im Spannungsfeld zwischen pädagogischen und fachwissenschaftlichen Kompetenzen bzw. Erwartungen. In den nachfolgenden Arbeiten über Sozialisation arbeitete er eng mit dem amerikanischen Sozialpsychologen Urie Bronfenbrenner (Cornell University, Ithaca N.Y.) an der Entfaltung der Idee einer interdisziplinären „Ökologie menschlicher Entwicklung“ zusammen und ergänzte diese wissenssoziologisch mit dem Konzept des „Sozialisationswissens“ (1976). Diese Orientierung führte er später in seinen Arbeiten zu Soziologie der Familie mit der Betonung der Relevanz einer polarisierenden „Familienrhetorik“ weiter (1995). Gleichzeitig bemühte er sich um ein analytisch fruchtbares, nicht normatives zeitgemäßes Verständnis von Familie. Darum hebt er in seiner Definition von Familie die Aufgaben der lebenslangen Gestaltung der Beziehungen zwischen Eltern und Kinder im Mehrgenerationenverbund hervor und schlägt vor, diese als der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Eltern vorgeordnet zu betrachten (2012). In der Folge erweiterte er den Horizont der Arbeiten zur Analyse der „Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft“, worüber er gemeinsam mit Ludwig Liegle ein monographisches Lehrbuch verfasste (2010).

Im Rahmen dieser Arbeiten akzentuierte sich ein spezifisches Interesse am Konzept der Ambivalenz. Die damit verbundene analytische Orientierung wird seit den 1990er Jahren in der Generationenforschung als Alternative zu der primär normativen Ausrichtung auf das Konzept der „Solidarität“ breit rezipiert, u.a. initiiert durch eine Diskussionsforum im „Journal of Marriage and the Family“ (2002). Sie entwickelte sich zu einem international breit akzeptierten Forschungsrichtung. Der Ansatz wird indessen auch in der Praxis rezipiert, so in den Projekten zum „Dialog der Generationen“.

Konstitutiv für das von Lüscher vorgeschlagene Verständnis von Ambivalenz ist die Idee, dass die dafür kennzeichnende Erfahrungen polarer Spannungsfelder, des Oszillierens, der Suche nach Bedeutungen und der Handlungsbefähigung („agency“) mit der Vorstellung der dynamischen Entfaltung persönlicher Identität verknüpft wird. Dementsprechend erscheint der Umgang mit Ambivalenzen nicht nur als belastend, sondern auch als anregend für innovative Denk- und Verhaltensweisen. Diese Sichtweise ausweitend interessiert sich Lüscher für die Tragweite des Konzept der Ambivalenz (2011) auch in anderen Disziplinen und beruflichen Tätigkeitsfeldern wie z.B. der Psychologie, der Psychotherapie, der Politischen Wissenschaft, der Theologie und den Literaturwissenschaften genutzt und weiter entwickelt wird. In diesem Zusammenhang hat er die Idee des „homo ambivalens“ (2010) zur Diskussion gestellt. Damit ist gemeint, dass Menschen fähig sind, Ambivalenzen zu erfahren und zu gestalten, diese Fähigkeit zugleich kritisch zu bedenken vermögen und diese ihrerseits „ambivalent“ einschätzen können.

Insgesamt ist für die wissenschaftliche Orientierung Lüschers ein wissenssoziologisch fundierter Pragmatismus kennzeichnend. Diese Sichtweise wird – unter Einbezug interdisziplinärer Orientierungen – theoretisch und empirisch in der Analyse unterschiedlicher sozialer Beziehungen, Praxis- und Politikfelder entfaltet.

Publikationen (Auswahl)

Als Autor:

  • 1965: Der Beruf des Gymnasiallehrers. Eine soziologische Untersuchung über den Gymnasiallehrermangel und Möglichkeiten seiner Behebung. Bern: Haupt (Dissertation).
  • 1968: Der Prozess der beruflichen Sozialisation. Stuttgart: Enke (Habilitationsschrift).
  • 1975: Jurisprudenz und Soziologie. Die Zusammenarbeit in einem konkreten Rechtsfall. In: Friedrich Kübler (Hg.): Medienwirkung und Medienverantwortung. Materialien zur interdisziplinären Medienforschung. Band 1, Baden-Baden: Nomos, S. 81–113, 145–165.
  • 1976: Urie Bronfenbrenners Weg zur ökologischen Sozialforschung. Eine Einführung. In: Urie Bronfenbrenner: Ökologische Sozialisationsforschung. Stuttgart: Klett, S. 6–32.
  • 1980: Medienwirkungen in sozialökologischer Sicht. Beitrag zum „Wissenschaftlichen Gespräch“ des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 18. Januar 1980. In: Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung (Hg.): Mediennutzung; Medienwirkung. Berlin: Volker Spiess, S. 113–122.
  • 1995: Was heißt heute Familie? Thesen zur Familienrhetorik. In: Uta Gerhardt, Stephan Hradil, Dagmar Lucke, Bernhard Nauck (Hgg.): Familie der Zukunft. Lebensbedingungen und Lebensform. Opladen: Leske + Budrich, S. 51–65.
  • 1998, mit Andreas Lange: Kinder und ihre Medienökologie. München: KoPäd.
  • 2001: Soziologische Annäherungen an die Familie (= Konstanzer Universitätsreden). Konstanz: Universitätsverlag.
  • 2003, mit Ludwig Liegle: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag.
  • 2009, mit Walter Dietrich und Christoph Müller: Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten. Zürich: Theologischer Verlag Zürich (TVZ).
  • 2010, mit anderen: Generationen, Generationenbeziehungen, Generationenpolitik: Ein dreisprachiges Kompendium. Bern, Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.
  • 2010: „Homo ambivalens“: Herausforderung für Psychotherapie und Gesellschaft. In: Psychotherapeut. Bd. 54, H. 2, S. 1–10.
  • 2010: Ambivalenz der Generationen. Generationendialoge als Chance der Persönlichkeitsentfaltung. In: Erwachsenenbildung. Bd. 56, H. 1, S. 9–13.
  • 2010: Generationenpotentiale – eine konzeptuelle Annäherung. In: Andreas Ette, Kerstin Ruckdeschel, Rainer Unger (Hgg.): Bedingungen und Potentiale intergenerationaler Beziehungen. Würzburg: Ergon Verlag.
  • 2010: Generationenpolitik – eine Perspektive. In: Kurt Lüscher, Markus Zürcher (Hgg.): Auf dem Weg zu einer Generationenpolitik. Bern: Schweiz. Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.
  • 2011, mit Éric D. Widmer: Les relations intergénérationelles au prisme de l’ambivalence et des configurations familiales. In: Recherches familiales. Bd. 8, S. 49–60.
  • 2011: Ambivalence: A „Sensitizing Construct“ for the Study and Practice of Intergenerational Relationships. In: Journal of Intergenerational Relationships. Bd. 9, S. 191–206.
  • 2011: Ambivalenz weiterschreiben. In: Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis. Bd. 27, H. 4, S. 373–393.
  • 2012: Familie heute: Mannigfaltige Praxis und Ambivalenz. In: Familiendynamik. Bd. 37, H. 3, S. 212–223.

Als Herausgeber:

  • 1979: Sozialpolitik für das Kind. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • 1988: mit Franz Schultheis und Michael Wehrspaun: Die „postmoderne“ Familie. Familiale Strategien und Familienpolitik in einer Übergangszeit (= Konstanzer Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Bd. 3). Konstanz: Universitätsverlag.
  • 1993, mit Franz Schultheis: Generationenbeziehungen in „postmodernen“ Gesellschaften. Konstanz: Universitätsverlag.
  • 1995, mit Phyllis Moen und Glen H. Elder: Examining Lives in Context. Perspectives on the Ecology of Human Development. Washington: APA.
  • 1999, mit Felix Thürlemann: Die Kunst am Bau der Universität Konstanz. Ein Bildführer. Konstanz: Universitätsverlag.
  • 2004, mit Karl Pillemer: Intergenerational Ambivalences. New Perspectives on Parent-Child Relations in Later Life. Amsterdam u. a.: Elsevier.

Literatur

  • Wilhelm Bernsdorf, Horst Knospe (Hgg., 1984), Internationales Soziologenlexikon. Stuttgart: Enke, S. 515.
  • Andreas Lange, Frank Lettke (2005): Würdigung. Soziologie im „discovery mode“. Kurt Lüscher zum 70. Geburtstag am 6. Juli 2005. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Bd. 57, H. 4, S. 771 f.
  • Andreas Lange, Frank Lettke (2007): Generationen und Familien. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Wer ist wer? 42. Ausgabe (2003/04). S. 902.
  2. Ab 2000 führte Frank Lettke († 2007) den Forschungsschwerpunkt „Gesellschaft und Familie“ weiter.