Lokalanästhetikum

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Als Lokalanästhetikum (Pl. -ka) werden Anästhetika zur örtlichen Betäubung bezeichnet. Moderne Wirkstoffe besitzen keine euphorisierende oder suchterzeugende Wirkung und dürfen nicht mit Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes wie Morphin oder Heroin verwechselt werden.

Geschichte

Die ersten als Ersatz für Kokain dienenden synthetischen Lokalanästhetika, die sich in der medizinischen Praxis (Chirurgie) durchsetzten, waren Stovain von Ernest Fourneau 1903, in der klinischen Praxis vom französischen Chirurgen Paul Reclus erprobt, und Novocain von Alfred Einhorn 1904, in der klinischen Praxis von Heinrich Braun 1906 erprobt. Andere Vorläufer wie Benzocain, Nirvanin (1898, Einhorn), Eukain (Georg Merling 1897), konnten sich nicht durchsetzen.

Chemische Struktur

Chemische Struktur der Lokalanästhetika

Die chemische Struktur aller Lokalanästhetika ist ähnlich. Sie bestehen aus einer lipophilen aromatischen Ringstruktur, einer Zwischenkette und einer hydrophilen Aminogruppe. Nach der Zwischenkette unterscheidet man Aminoester („Ester-Typ“) und Aminoamide („Amid-Typ“). Die Aminoester werden im Gewebe durch eine Cholinesterase metabolisiert; der Abbau der Aminoamide erfolgt in der Leber durch N-Dealkylierung oder Hydrolyse.

Wirkungsmechanismus

Lokalanästhetika entfalten ihre Wirkung an der Zellmembran von Nervenzellen. Hier blockieren sie Natriumkanäle und verhindern dadurch den Einstrom von Natriumionen in die Zelle und somit die Bildung von Aktionspotentialen. In höheren Konzentrationen wird zusätzlich der Kaliumkanal blockiert und Kaliumionen gehindert, aus dem Zellinneren auszuströmen. Damit wird die Bildung und Fortleitung von Empfindungen wie Temperatur, Druck oder Schmerz und die Überleitung motorischer Impulse an dieser Stelle abgeschwächt oder ganz unterbrochen.

Die meisten Lokalanästhetika sind schwach basische Amine (es gibt auch Estertypen, z.B. Procain) und liegen bei physiologischem pH-Wert in geladener und ungeladener Form vor. Der Wirkort liegt an der Innenseite der Natriumkanäle in der Zellmembran, daher ist eine Diffusion der Substanzen in das Zellplasma notwendig. Nur die ungeladene Base kann durch die Zellmembran ins Innere gelangen, dissoziiert hier in die geladene Form, welches auch die aktive Form des Lokalanästhetikums darstellt, gelangt an die Bindungsstelle des Natriumkanals und entfaltet dort ihre Wirkung.

Die Lokalanästhetika haben einen pKS-Wert zwischen 7 und 9. Wasserlöslich sind sie nur in der ionisierten (protonierten) Form, d. h. bei pH-Werten unter dem jeweiligen pKS-Wert. Daher werden sie in Injektionslösungen mit einem pH von 4–6 verabreicht. Im Gewebe mit einem pH-Wert von 7,4 wird die Injektionslösung abgepuffert und es liegen je nach pKS-Wert des Lokalanästhetikums 2–30 % des Lokalanästhetikums in der nicht–ionisierten, lipidlöslichen Form vor. Wirksam ist das Anästhetikum allerdings nur in der ionisierten Form, so dass ab einem pH-Wert von 9 alle Lokalanästhetika unwirksam werden. Umgekehrt kann auch ein niedriger pH–Wert, wie er z. B. im entzündeten Gewebe (pH ≤ 6) herrscht, dazu führen, dass das Lokalanästhetikum nicht in die Nervenfasern eindringen kann und ebenfalls unwirksam bleibt.

Anwendung

Präparate dieser Art werden fast ausschließlich zur Schmerzausschaltung bei medizinischen Prozeduren wie z. B. Operationen und zur Schmerztherapie eingesetzt. In der Chirurgie und vor allem in der Anästhesie haben sich im Laufe der Zeit vielfältige Methoden zur Lokalanästhesie entwickelt. Diese reichen von einfachen Infiltrationsanästhesien bis hin zur Anlage von rückenmarksnahen Schmerzkathetern (Periduralanästhesie). Neben der Zubereitung als Injektionslösung existieren für die Oberflächenanästhesie auch Salben, Gele, Sprays und Pflaster, die Lokalanästhetika beinhalten.

Diverse Techniken der Lokalanästhesie in der Zahnmedizin wurden zur Schmerzausschaltung im Mund- Kiefer- Gesichtsbereich entwickelt.

Einigen Präparaten ist Adrenalin, Noradrenalin oder Phenylephrin beigemischt. Diese sogenannten Vasokonstriktoren verengen die Blutgefäße im Wirkbereich und senken so die Durchblutung. Dadurch wird der Abtransport der Lokalanästhetika verlangsamt und die Wirkdauer des Lokalanästhetikums verlängert. Außerdem führen sie zu einer Blutleere im OP-Gebiet und somit besseren Übersicht für den Operateur. Diese Mischungen dürfen in Bereichen wie Finger, Zehen, Ohr oder Penis nicht angewendet werden, da hier die Gefahr des Absterbens durch Minderdurchblutung besteht. Zusätzlich kann es bei herzkranken Patienten zu Komplikationen des Herz-Kreislaufsystems durch diese Substanzen kommen.

Bei Spinalanästhesien wird das Lokalanästhetikum in den Subarachnoidalraum des Spinalkanals gespritzt; dort liegt das Rückenmark (bis etwa zum 12. Brustwirbelkörper, darunter Nervenstränge, die weiter nach unten ziehen) in einer Flüssigkeit, dem Liquor cerebrospinalis. Für diese Art der Betäubung gibt es spezielle Zubereitungen, denen Glukoselösung beigemischt wurde. Diese sogenannten hyperbaren Lokalanästhetika sinken nach Einspritzen in den Subarachnoidalraum der Schwerkraft gehorchend nach unten, da sie wegen der Beimischung ein höheres spezifisches Gewicht als der Liquor cerebrospinalis haben. Dadurch lässt sich, abhängig von der Lagerung des Patienten, eine gezielte Ausbreitung des betäubten Bereiches erreichen.

Unerwünschte Wirkungen, Intoxikation

Lokalanästhetika können nicht nur die Bildung von Aktionspotentialen in peripheren Nerven blockieren, sondern auch in anderen Bereichen wie Gehirn oder Herz. Da sie im Allgemeinen (mit Ausnahme bei der intravenösen Regionalanästhesie) in die Nähe von peripheren Nerven bzw. Rückenmark appliziert werden, kommt es nicht zu solchen systemischen Wirkungen. Gelangt jedoch eine zu große Menge der verwendeten Substanz in das Kreislaufsystem, beispielsweise bei unbemerkter intravenöser Injektion, kann es zu unerwünschten Wirkungen kommen.

Mechanismus

Die Ursache der unerwünschten Wirkungen ist neben der Blockade der Natriumkanäle im Nervensystem und im Herzen auch die Störung von Kalziumkanälen sowie eine Entkopplung der Atmungskette in den Mitochondrien. Die durch die Symptome gestörte Atmung führt zu einer Azidose des Blutes, welche durch eine verringerte Plasmaeiweißbindung die Menge an freiem Lokalanästhethikum erhöht und das Eindringen in die Nerven und Herzzellen begünstigt. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Azidose der Blutfluss zum Gehirn erhöht wird und damit mehr Lokalanästhetikum dorthin gelangt. Schließlich entsteht auch eine intrazelluläre Azidose, welche das Lokalanästhetikum protoniert und an dem Herausdiffundieren aus der Zelle hindert. Dieser Mechanismus wird als ion trapping (Ionenfalle) bezeichnet. [2]

Die Intoxikation kann in vier Stadien eingeteilt werden:

  1. Prodromalstadium (periorale Taubheit, metallischer Geschmack)
  2. Präkonvulsives Stadium (Tremor, Tinnitus, Nystagmus, Somnolenz)
  3. Konvulsives Stadium (generalisierte tonisch-klonische Anfälle)
  4. Stadium der ZNS Depression (Koma, Apnoe, Kreislaufkollaps)

ZNS-Nebenwirkungen

Bei zu hohen Plasmaspiegeln von Lokalanästhetika kommt es primär zu Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems (ZNS). Diese können von Unruhe, Schwindelgefühl, oralem Kribbeln, metallischem Geschmack im Mund bzw. Taubheit bis hin zu generalisierten Krampfanfällen und Koma reichen. Da die zentralnervösen Symptome meist reversible sind, bemüht man sich, Medikamente zu verabreichen, deren ZNS-Nebenwirkungen lange vor den kardialen auftreten (hohe CC/CNS-Ratio, z. B. Ropivacain).

Kardiotoxizität

Auch am Herzen kann es bei zu hohen Plasmaspiegeln von Lokalanästhetika zu Nebenwirkungen kommen. Es kann zur Abnahme der Herzkraft, Verlangsamung der Erregungsweiterleitung im Herzen bis hin zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen kommen.

Therapie der Intoxikation

Die Therapie konzentriert sich auf die Sicherung der Vitalfunktionen. Sauerstoffgabe erfolgt mit 15 l/min über Maske. Achtung: Die Übergänge zwischen den Stadien sind zügig fließend und nicht in strenger Reihenfolge. Bei Krampfäquivalenten sollten die Atemwege sofort durch Intubation gesichert werden. Vor allem bei Bupivacain, aber auch bei Ropivacain sind durch die hohe Lipophilie der Substanzen Blockierungen des Reizleitungssystems des Myokards zu erwarten. Diese Lipophilie liegt auch der Notfalltherapie mit endovenösen Lipiden (lipid-sink) zugrunde.

Fettemulsion „lipid rescue“

Nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) soll bei einer Lokalanästhetikaintoxikation neben der Sicherung der Vitalfunktion nach den aktuellen Reanimationsleitlinien auch frühzeitig der Einsatz von intravenösen Fettinfusion (Lipidemulsion) erfolgen. In Tierexperimenten und klinischen Fallstudien am Menschen zeigt sich ein verbessertes Überleben, wenn mit Fettinfusion behandelt wurde. Man vermutet, dass das verabreichte Fett im Blut das (lipophile) Lokalanästhetikum teilweise bindet und/oder am Herzen die schädliche Wirkung der Lokalanästhetika verringert. Zum Einsatz kommen übliche 20 % Fettinfusionen, wie sie auch auf Intensivstationen zur intravenösen Ernährung genutzt werden. Der Einsatz dieser Fettinfusionen bei Lokalanästhetikaintoxikation ist jedoch ein sogenannter off label use außerhalb der vom Hersteller zugelassenen Verwendungszwecke. Die von der DGAI empfohlene Therapie ist der Tabelle zu entnehmen:

Vorgehen bei Lokalanästhetika-Intoxikation.[3]
1. Lokalanästhetikazufuhr stoppen
2. Adäquate Oxygenierung, ggfs. Beatmung
3. Kardiopulmonale Reanimation bei Herz-Kreislaufstillstand
4. Lipidemulsion (Bolus 1,5 ml/kg; Infusion 0,1 ml/kg/min über 30 Minuten oder 0,5 ml/kg/min über 10 Minuten)
5. Antikonvulsiva bei Krampfanfällen

Da noch vergleichsweise wenige klinische Erfahrungen zu der Behandlung mit Fettemulsion vorliegen, werden behandelnde Ärzte gebeten, ihre Erfahrung beim Einsatz von Fettemulsion bei Lokalanästhetika-Intoxikation strukturiert und anonym auf dafür vorgesehenen Webportalen zu melden: https://www.cirs-ains.de/ http://www.lipidrescue.org/

Allergien

Allergien treten vor allem bei Lokalanästhetika vom Ester-Typ (z. B. Procain) auf, da beim Abbau dieser Substanzen Paraaminobenzoesäure entsteht, die für die allergische Reaktion verantwortlich gemacht wird (Kreuzallergie). Lokalanästhetika vom Ester-Typ werden in Deutschland nur noch sehr selten angewendet. Bei Lokalanästhetika vom Amid-Typ wurden vor allem allergische Reaktionen gegen bestimmte Stabilisatoren, die den Präparaten beigemischt waren, beobachtet. Hier vor allem Methylparaben, welches als Konservierungsmittel dient. Neuere Lokalanästhetika vom Amid-Typ werden parabenfrei hergestellt.

Wirkstoffe

Substanz Struktur Wirkeintritt PKs Wirkdauer Proteinbindung Einführung
Aminoamide
Lidocain schnell 7,9 60–120 min 65 % 1943
Mepivacain schnell 7,6 90–180 min 75 % 1957
Prilocain schnell 7,7 60–120 min 55 % 1960
Articain
(bis 1984 Carticain)
schnell 7,8 0,5–5 h 95 % 1970
Bupivacain langsam 8,1 4–5 h 95 % 1963
Ropivacain langsam 8,1 4–6 h 94 % 1996
Etidocain schnell 7,7 4–6 h 95 % 1972
Dyclonin
Aminoester
Procain langsam 8,9 45–60 min 5 % 1905
Benzocain schnell 3,5 30–60 min 6 % 1900
2-Chlorprocain schnell 9,1 30–45 min 1952
Oxybuprocain
Tetracain langsam 8,6 60–180 min 80 % 1931
Fomocaine
Fomocain
Referenzen:[4][5][6]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Ulf Glade: Geschichte der Anästhesie. auf: www-user.uni-bremen.de
  2. P. H. Tonner: Pharmakotherapie in der Anästhesie und Intensivmedizin. Springer, Berlin 2011, ISBN 978-3-540-79155-3.
  3. DGAInfo: T. Volk, B. M. Graf, W. Gogarten, P. Kessler, H. Wulf: Empfehlungen zur Lipidbehandlung bei der Intoxikation mit Lokalanästhetika, Recommendations for the treatment of local anaesthetic toxicity with lipids. In: Anästh Intensivmed. 2009; 50, S. 698–702.
  4. S. Schulz-Stübner: Lokalanästhetika. In: Rolf Rossaint, Christian Werner, Bernhard Zwißler (Hrsg.): Die Anästhesiologie. Allgemeine und spezielle Anästhesiologie, Schmerztherapie und Intensivmedizin. 2. Auflage. Springer, Berlin 2008, ISBN 978-3-540-76301-7.
  5. H. Niesel, H. Van Aken: Lokalanästhesie, Regionalanästhesie, regionale Schmerztherapie. Georg Thieme Verlag, 2006, ISBN 3-13-143412-0.
  6. A. Dullenkopf, A. Borgeat: Lokalanästhetika. In: Anaesthesist. 2003 Apr; 52(4), S. 329–340. PMID 12715136