Lotte in Weimar

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Lotte in Weimar ist ein Roman Thomas Manns über Johann Wolfgang von Goethe: Die nunmehr um 44 Jahre gealterte und verwitwete Charlotte Kestner, geb. Buff aus Wetzlar, das literarische Vorbild für Lotte in Die Leiden des jungen Werthers, reist 1816 nach Weimar. Sie tut dies vorgeblich, um ihre Schwester zu besuchen, eigentlich aber in der Hoffnung, Goethe noch einmal zu sprechen.

Das Werk entstand laut Tagebuch zwischen dem 11. November 1936 und dem 25. Oktober 1939.

Datei:Thomas Mann Lotte in Weimar 1939 .jpg
Erstdruck von 1939 in Original-Broschur

Das Werk

Mit der Postkutsche, die vor dem Gasthof Zum Elephanten hält, dem ersten Haus am Platze, trifft morgens in aller Frühe Charlotte Kestner mit Tochter und Zofe in Weimar ein. Ihr Ruf, das Urbild der Lotte in „Die Leiden des jungen Werthers“ zu sein - des erfolgreichsten Romans einer Epoche -, ist ihr Jahrzehnte vorausgeeilt.

Kaum eingetroffen, wird sie in Beschlag genommen. Der zitatenfeste, enthusiastische Kellner Mager stiehlt ihr die Zeit mit seiner Redseligkeit. Anschließend wird sie von einer jungen irischen Zeichnerin behelligt (eine fahrende Stümperin wird Charlotte sie später nennen), die sich auf das Skizzieren von Berühmtheiten verlegt hat. Und dann geben sich Besucher und Besucherinnen die Klinke in die Hand. Sie wollen - oder müssen - sich vor der Besucherin über Goethe aussprechen: Herr Dr. Riemer, der ehemalige Privatlehrer von Goethes Sohn August von Goethe, ersucht um ein Gespräch. Sodann bittet Adele Schopenhauer, dem Hause Goethes nahe stehend, dringend, vorsprechen zu dürfen. Schließlich kommt Goethes Sohn. Ihrer aller Leben hat Goethe tief beeinflusst, und das nicht immer beglückend, was ja auch für Lotte gilt.

Formal sehr elegant, wird der 67-jährige Goethe zunächst nur im Goethebild seiner Umgebung widergespiegelt. Sehr spät, erst im siebenten Kapitel, lernt ihn der Leser selbst kennen. Goethe ist gerade erwacht (mit einer morgendlichen Erektion) und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Es folgt ein langer innerer Monolog, der nur unterbrochen wird, wenn Goethe mit seinen Hausangestellten spricht.

Sein Sohn überbringt ihm die Nachricht von Charlottes Ankunft. Goethe reagiert ärgerlich: "Konnt' sie sich's nicht verkneifen, die Alte, und mir's nicht ersparen?". Er beschließt - die Nachricht von Charlottes Ankunft hat sich mit Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet - sie samt Tochter in größerem Kreis einzuladen. In dieser Tafelrunde wird beklemmend spürbar, wie ein Genie auf seiner Umgebung lasten kann. Der Hausherr fühlt sich verpflichtet, seine Gäste mit Anekdoten und improvisierten Geplauder zu unterhalten. Dabei zitiert Goethe, als die Rede auf die Demokraten kommt, ein chinesisches Sprichwort: „Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.“ Die Reaktion auf diese vermeintliche Absurdität ist schallendes Gelächter. Gemeint ist jedoch Hitler. [1]

Unter vier Augen - was doch Charlottes Wunsch gewesen sein wird - spricht Goethe nicht mit ihr. Ein weiteres Treffen mit Charlotte findet nicht statt.

Zwei Wochen später ermöglicht Goethe Charlotte einen Theaterbesuch und lässt sie nach der Vorstellung in seiner Kutsche abholen. Während der Fahrt imaginiert Charlotte im Halbschlummer ein Gespräch mit dem nicht anwesenden Goethe, das die Flammen-Metaphorik des Divan-Gedichtes «Selige Sehnsucht» paraphrasiert. Gleichnishaft sieht Goethe den Dichter als Falter, der in der «tödlich lockenden Flamme» der Kunst verbrennt, «Leben und Leib» opfert «zu geistiger Wandlung». Lotte vergleicht ihrer beiden Schicksale: «Es ist etwas Fürchterliches um die Verkümmerung, das sage ich Dir! Und wir Geringen müssen sie meiden und uns dagegen stemmen, aus allen Kräften. Wenn auch der Kopf wackelt, vor lauter Anstrengung. […] Bei Dir, da war es was anderes. […] Dein Wirkliches [das Lebenswerk], das sieht nach was aus. Nicht nach Verzicht und Untreue, sondern nach lauter Erfüllung und höchster Treue!» Sie erwacht, als die Kutsche hält. Der Roman endet, wo er begonnen hat: Vor dem Gasthof "Zum Elephanten".

Das Wagnis, den ganzen weltberühmten Weimarer Kreis zu rekapitulieren, dazu Goethes Leben, sein Verhältnis zu Schiller, die Freiheitskriege, viele seiner Werke und Vorhaben u.a.m., ist dem Autor dank umfassender Vorstudien glänzend gelungen, ironisch, subtil und fulminant. Entstanden ist eine der besten Einführungen in dieses Zentrum der deutschen Geistesgeschichte und ein Goetheporträt, erstellt von einem um 126 Jahre jüngeren Schriftsteller, der ebenfalls erfahren ist im Umgang mit eigenen künstlerische Welterfolgen.

Hauptpersonen

Der Kellner Mager

Er ist in der ersten und letzten Szene präsent. „Der Kellner des Gasthofes 'Zum Elephanten' in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis.“ So beginnt der Roman.

Am Schluss gibt ihm Thomas Mann das letzte Wort: „Frau Hofrätin“, begrüßt er Charlotte, „willkommen wie immer! Möchten Frau Hofrätin in unserem Musentempel einen erhebenden Abend verbracht haben! Darf ich diesen Arm offerieren zur sicheren Stütze? Guter Himmel, Frau Hofrätin, ich muß es sagen: Werthers Lotte aus Goethes Wagen zu helfen, das ist ein Erlebnis – wie soll ich es nennen? Es ist buchenswert.“

Mager ist die nicht unsympathische Karikatur des literarischen Enthusiasten. Vom Autor wird er als ein „gebildeter Mann“ vorgestellt. Doch er steht für die fragwürdige Seite des Ruhms, für „die Seichtheit derer“, die den Ruhm bereiten. Als er im ersten Kapitel endlich die gerade angekommene Hofrätin in ihrem Gasthofzimmer allein lässt und nicht mehr auf sie einredet, muss er auf der Schwelle kehrt machen, um eine letzte Frage anzubringen. Es ist die naive Frage nach der biographischen Authentizität von Werthers Abschiedsworten.

Der Schnitzer „buchenswert“ erinnert an die ungebildete Frau Stöhr in Der Zauberberg.

Hofrätin Charlotte Kestner, geb. Buff

Lotte trägt, und schon seit vierundvierzig Jahren, »ein quälendes Rätsel« mit sich herum, eine »unbeglichene, quälende Rechnung«. Lotte nennt das Rätsel, die unbeglichene Rechnung beim Namen: »Dichter - Genügsamkeit«. [...] »Genügsamkeit mit Schattenbildern«, »Genügsamkeit der Poesie«, schließlich gar »Genügsamkeit des Kusses, aus dem, wie er [Goethe] sagt, keine Kinder werden«.

Ein hinzukommender »Dritter« sei der Jüngling Goethe gewesen, der sich als »der liebe Teilnehmer« gleichermaßen an sie und ihren braven Verlobten angehängt habe. »Er kam von außen und ließ sich nieder auf diesen wohlbereiteten Lebensumständen«,[...] »war verliebt in unsere Verlobtheit«.

Gekränkt, dabei verstärkt mit dem Kopf zitternd, einem Altersleiden, beklagt sich die 63jährige: »In ein gemachtes Nest« habe er »das Kuckucksei seines Gefühls gelegt«. Sie finde kein anderes Wort dafür als - »Schmarutzertum«. Um »die Liebe zu einer Braut« sei es dem Dichterjüngling gegangen, der Braut eines Anderen. Vierundvierzig Jahre ist ihr diese »Genügsamkeit« ein Rätsel geblieben.

Doktor Riemer

Der Philologe Doktor Riemer war Hauslehrer von Goethes Sohn August. Danach hat ihn Goethe weiter an sich zu binden gewusst, um auf des Doktors lexikalische Gelehrsamkeit jederzeit zurückgreifen zu können. Eigenständigkeit und energische Tatkraft scheinen Doktor Riemer abzugehen. Er ist ein Freund des verlängerten morgendlichen Schlummers und hat erst kürzlich eine Berufung an die Universität Rostock ausgeschlagen.

Goethe ist er in »lebenslanger Hörigkeit« verfallen. »Ein etwas verdrießlicher, gleichsam maulender Zug lag um seinen Mund«. Sein Verhältnis zu Goethe projiziert er, wohl nicht zu Unrecht, auf die Besucherin. Er hält Charlotte Kestner und sich für »Complizen in der Qual«.

Mit drängendem Mitteilungsbedürfnis spricht er bewundernd über Goethe, - doch dann beginnt er, sich mehr und mehr über die Kälte zu beklagen, die von dem Großen ausgehe.

In gut gesetzten Worten und gehobener Diktion berichtet Doktor Riemer über den nihilistischen Gleichmut Goethes, der so merkwürdig mit dessen persönlicher Anziehungskraft kontrastiere. Sich mehr und mehr in Verwirrung redend, vergleicht schließlich der Goethe-Verfallene – eine Bemerkung von ihm zitierend – das Gedicht mit einem Kuss, den man der Welt gibt und bricht endlich ab.

»Der Mann schien völlig erschöpft. Man redet nicht dermaßen lange in einem Zuge und in so angespannter Wohlgesetztheit. […] Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar.«

Das Goethe-Porträt

Der junge Goethe, denkt Lotte zurück, das war «der tolle Junge», der ihr einen Kuss geraubt hatte. Was für ein merkwürdiger Mensch war er gewesen, «barock wohl zuweilen von Wesen, in manchen Stücken gar nicht angenehm, aber so voller Genie und eigentümlich ergreifender Besonderheit.» Er hatte Lotte den Hof gemacht damals. Entschieden hatte sie sich aber für ihren braven Hans Christian, der ältere Rechte hatte als der hinzugekommene Dritte. «Nicht nur, weil Liebe und Treue stärker gewesen waren als die Versuchung, sondern auch kraft eines tiefgefühlten Schreckens vor dem Geheimnis im Wesen des anderen», diesem «Unmensch ohne Zweck und Ruh´. Wie sonderbar nur, daß ein Unmensch so lieb und bieder, ein so kreuzbraver Junge sein konnte […]».

Doktor Riemer nennt Goethes Duldsamkeit eine Lässlichkeit, die der Gleichgültigkeit, der Geringschätzung entspringe. Und doch sei auch Menschenliebe dabei, sodass Liebe und Verachtung in dieser Duldsamkeit eine Verbindung eingehen würden, die an das Göttliche erinnere. In mythologischen Kategorien denkend, spricht der Philologe Goethe das «Sigillum der Gottheit» zu.

Thomas Mann lässt Doktor Riemer die Vergottung des Dichtergenies immer weiter treiben. Der Leser kann sich den suggestiven Worten kaum entziehen. «Neuschaffen Wort hat lächelnd verwunschenen Sinn» in Goethes Dichtung, «ins Heiter-Geisterhafte wallt es hinüber». An Goethe zeige sich, dass Poesie «die Menschwerdung des Göttlichen» sei. Und doch gehe von dessen Wesen eine eigentümliche Kälte, ein vernichtender Gleichmut aus. Diese «umfassende Ironie», wie Doktor Riemer diese Haltung nennt, bedeute «jene erschreckende Annäherung ans Göttlich-Teuflische, welche wir ´Größe´ nennen.»

Die wortgewandte, scharf blickende Adele Schopenhauer, die Charlotte über den Klatsch in der kleinen Residenzstadt informiert, berichtet unter anderem über Goethes Einstellung zu Napoléon. In Erfurt hatte Napoléon Goethe empfangen. «Es war seit Erfurt zwischen ihm und dem Cäsar ein Verhältnis von Person zu Person. Dieser hatte ihn sozusagen auf gleichem Fuße behandelt, und der Meister mochte die Sicherheit gewonnen haben, daß er für sein Geistesreich, sein Deutschtum nichts von ihm zu befürchten hatte, daß Napoléons Genius der Feind des seinen nicht war.» Goethe erhoffte sich von Napoléon, dass «ein geeintes Europa unter seinem Scepter des Friedens genießen» könne.

Im neunten und letzten Kapitel fasst Lotte, einem ihrer Söhne schreibend, zusammen: «Nur so viel, ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Manne gemacht, welcher, wenn ich nicht wüsste, dass es Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hat» in «seiner steifen Art». [2] Thomas Mann zitiert damit aus einem historischen Brief (Selbstkommentar Thomas Manns am 18. Juni 1951 an Charlotte Kestner, eine Nachfahrin der Titelheldin).

Autobiographische Bezüge

Thomas Manns Goetheporträt ist in vielen Zügen auch Selbstanalyse. Mit ihm hat er sich wesenverwandt gefühlt und von einer «unio mystica» gesprochen, [3] von «mythischer Nachfolge» und «Spurengängerei». Gegen Ende des achten Kapitels erwähnt Thomas Mann beiläufig eine physiognomische Eigenart Goethes, «seine nahe beisammenliegenden Augen». Goethes Augen standen weit auseinander, die Thomas Manns eng zusammen.

Doktor Riemer bemerkt Charlotte Kestner gegenüber, man vernehme von Goethe oft Äußerungen, «die den Widerspruch zu sich selber schon in sich enthalten, - ob um der Wahrheit willen [4] oder aus einer Art von Treulosigkeit und - Eulenspiegelei.» Thomas Mann: «Nun, was vom Gaukler in mir ist - und im Künstlermenschen überhaupt -, habe ich früh denunziert, bin humoristisch darüber zu Gericht gesessen [...].»[5]

Der ´Nürnberger Goethe-Skandal´ [siehe unten] - Thomas Mann hat seine Gedanken zum Nationalsozialismus durch Goethe aussprechen lassen - gehört ebenfalls zu den unterschwelligen autobiographischen Bezügen.

Historischer Hintergrund

Charlotte Kestners Aufenthalt in Weimar, 44 Jahre nach dem Erscheinen des Werther, ist historisch verbürgt. «Goethe erwähnt in seinem Tagebuch am 25. September jenes Jahres sehr kurz und trocken: "Mittags Ridels und Madame Kestner von Hannover". Zu dem Mittagessen waren tatsächlich nur die Verwandten Charlottes, bei denen sie am 22. September eingetroffen war, geladen. Sie wohnte bei diesen und nicht, wie ich es darstellte, im Gasthaus zum Elephanten. Auch fand das Mittagessen nur in diesem engsten Kreise statt und war kein Diner von sechzehn Personen, wie ich es geschildert habe. Begleitet war Charlotte Kestner nicht von ihrer älteren Tochter Charlotte, sondern von einer jüngeren namens Clara. [...] Das Billet, das Charlotte aus dem Elephanten nach ihrer Ankunft an Goethe richtet, ist von mir frei erfunden.» [6]

Im Besitz der Universitätsbibliothek Leipzig befindet sich eine Nachricht von Goethes Hand an Charlotte Kestner: «Mögen [im Roman steht dafür ´Wenn´] Sie sich, verehrte Freundin, heute abend meiner Loge bedienen, so holt mein Wagen Sie ab. Es bedarf keiner Billette. Mein Bedienter zeigt den Weg durchs Parterre. Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht selbst einfinde, auch mich bisher nicht habe selbst sehen lassen, ob ich gleich oft in Gedanken bei Ihnen gewesen. Herzlich das Beste wünschend - Goethe. W.d.9.Oktober 1816»[7]

Zur Rezeption des Romans

In Deutschland - wo der Roman wie alle Werke Manns verboten war - kursierten während der Kriegsjahre deutschsprachige Exemplare des Lotte-Romans, die in Schweden gedruckt worden waren. Schlagartig berühmt wurde das Buch in der deutschen Öffentlichkeit schließlich unmittelbar nach dem Krieg 1946 im Zuge des „Nürnberger Goethe-Skandals“, als der britische Hauptankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, Hartley Shawcross, ein vermeintlich von Goethe stammendes deutschenkritisches Zitat in sein Schlussplädoyer einbaute, um so den deutschen Nationaldichter gewissermaßen zum Mitankläger gegen den Nationalsozialismus zu machen: wie sich herausstellte, stammte das betreffende Zitat jedoch nicht, wie Shawcross geglaubt hatte, von Goethe selbst, sondern aus Manns Roman, in dem dieser es dem Dichter in den Mund gelegt hatte.

Einzelheiten dazu in folgendem Einschub:

Einschub: Nürnberger Goethe-Skandal 1946

Der sog. Nürnberger Goethe-Skandal 1946 war ein Vorfall im am Rande des Nürnberger Prozesses gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher von 1945/ 46.

Sir Hartley Shawcross, der Hauptankläger des britischen Königreiches, wies am Ende seines Schlussplädoyers am 26. Juli 1946 darauf hin, dass Johann Wolfgang von Goethe „vor vielen Jahren...vom deutschen Volk“ gesagt habe:

Das Schicksal wird sie schlagen [statt: Was gilts, das Schicksal wird sie schlagen], weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind. Dass sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, dass ihnen Dunst und Rauch [statt: Rausch] und berserkerisches [statt: all beserkeisches] Unmaß so teuer ist, ist widerwärtig. Dass sie sich jedem verrückten [statt: verzückten] Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Bosheit [statt: Roheit] zu begreifen, ist miserabel.“

In moralisierender Manier fuhr Shawcross fort: „Mit welcher prophetischen Stimme hat er gesprochen, denn dies hier sind die wahnwitzigen Schurken, die genau diese Dinge ausgeführt haben.“ [8]

Der Jurist nannte die Fundstelle des Zitates nicht. Eine Woche später wurde bekannt, dass das vermeintliche Goethe-Zitat über den deutschen Nationalcharakter dem Monolog des 7. Kapitels aus Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ entnommen war. Die Londoner Tageszeitung Times, die am 29. Juli 1946 Auszüge aus Shawcross' Plädoyer abdruckte, wies diesen in ihrer Literaturbeilage (Times Literary Supplement 12. Oktober 1946) noch einmal auf seinen Irrtum hin. Die Süddeutsche Zeitung widmete sich der Angelegenheit in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1946. Literaturkenner entdeckten darüber hinaus noch einen Fehler in der Übersetzung: Im Originaltext lautete das Attribut zu Schurke »verzückt« und nicht, wie in der Übersetzung, auf die sich Shawcross berief: »verrückt«.

Thomas Mann 1937. Foto von Carl van Vechten

Bei der Regierung in London unter Clement Attlee löste diese literarische Affäre am Rande des großen Prozesses gegen die Naziführer eine gewisse peinlich berührte Verlegenheit aus. Der britische Botschafter in Washington, A. Kerr, sandte Thomas Mann einen Brief in dessen kalifornisches Exil, in dem er diesen im Auftrag des Foreign Office darum bat, die heikle Angelegenheit aufzuklären. Mann antwortete, dass Hartley »guten Glaubens, verführt durch das aktuell Schlagende der Äußerungen« (wie er später äußerte), tatsächlich einem Irrtum aufgesessen und die Times im Recht sei. Darüber hinaus verbürgte er sich aber dafür, "dass Goethe alles, was er bei mir denkt und sagt, ganz gut wirklich hätte denken und sagen können, und in einem höheren Sinn (habe) der Prosecutor also doch richtig zitiert.“ Er räumte allerdings ein, "komische Verwirrung (...) angerichtet" zu haben und dass die Angelegenheit "ein peinliches Vorkommen" bleibe. [9] Unsicher ist bis heute, ob Erika Mann, die Tochter Thomas Manns, die als Pressebeobachterin dem Prozess beiwohnte, eine Rolle bei der Aufklärung von Shawcross' Irrtum spielte.

Für das Zustandekommen des Missverständnisses machte man später folgenden Sachverhalt verantwortlich: Da Manns Buch in Deutschland während der Nazi-Zeit verboten war und nicht im Lande gedruckt werden konnte, wurden einige in Schweden gedruckte Exemplare nach Deutschland eingeschmuggelt. Dort verfielen Gegner des NS-Regimes auf die Idee, deutschenkritische Passagen als "Aufrüttelungspropaganda" gegen die Nationalsozialisten zu verbreiten. Zu diesem Zwecke wurden entsprechende Passagen als Kassiber in einfachen Schreibmaschinendurchschlägen als Pamphlet unter dem Titel „Aus Goethes Gesprächen mit Riemer“ verbreitet. Nach dem Krieg wurde dieses Pamphlet unter dem Titel „Goethe über die Deutschen" gegen Ende des Jahres 1945 in diversen Tageszeitungen veröffentlicht. Mann ging daher davon aus, dass entweder ein Exemplar des besagten Pamphlets oder einer der Neuabdrucke in den Tageszeitungen Shawcross zugespielt worden sei, der die Möglichkeit, den deutschen Nationaldichter sozusagen zum Mitankläger in Nürnberg zu machen, dankbar aufgenommen habe.

Der Ankläger bzw. der Kompilator des Flugblatts, das Shawcross vorlag, zitierte dabei recht ungenau und zeigte auch wenig Sinn für die Art Manns, „Bruder Hitler“ als Beute des dionysischen Rausches darzustellen. Er entstellte vor allem solche Formulierungen des Textes, die das politische "factum brutum" ästhetisch überhöhen wollten.

In der deutschen Öffentlichkeit wurde die „Anklage Goethes gegen die Deutschen“ mit geteiltem Echo aufgenommen: Einige betrachteten das Zitat ungeachtet der Dekontextualisierung als zutreffende Beschreibung der Mentalität während der Nazijahre und letztlich gerechtfertigte Kritik, andere sahen Shawcross' Missgeschick hingegen als einen Beleg dafür, dass der Nürnberger Prozess „Siegerjustiz“ und eine „inszenatorische Darbietung“ mit vorher feststehendem Ausgang zuungunsten der Angeklagten sei.

Im Oktober 1951 meinte Mann in einem Brief über die Inspiration für die betreffende Passage, „irgendwo bei Eckermann, dem Kanzler Müller oder bei Riemer muss es sich finden“. Die Forschung kam später zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich eine Äußerung Goethes zu Friedrich Müller vom 14. Dezember 1808 im Sinn gehabt habe, in der es heißt: „Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel, und doch bilden sich letztere gerade das umgekehrte ein, verpflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt.“ (Biedermann, Goethes Gespräche II, S. 232).

Insbesondere in rechtsgerichteten Kreisen wurde Shawcross' Lapsus noch lange ausgenutzt, um die Nürnberger Prozesse und Thomas Mann zu verunglimpfen: So schrieben das Salzburger Volksblatt und die Deutsche National-Zeitung und Soldatenzeitung noch 1965 vom „erbärmlichen Betrug“ und behaupteten, "Mann fälschte Goethe in antideutschem Sinn“ [27.8.1946]. Louis Glatt nannte Manns Formulierung 1966 ein „unwürdiges Attentat auf die geistige und sittliche Gestalt Goethes“ ("Zur Echtheit des Goethe-Zitats bei Thomas Mann", in: "Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe Gesellschaft" vom 28. August 1966, S. 310-314). All diese Argumentationsmuster hoben letztlich darauf ab, den Roman nicht als ein ästhetisch autonomes Gebilde zu beurteilen, sondern als Versuch, Fiktion für Realität auszugeben.

Verfilmung

In Egon Günthers filmischer Adaptation des Mannschen Goethe-Romans bleibt der Dichter über lange Zeit ein Phantom. Oberhofrätin Charlotte Kestner, geb. Buff, wird verkörpert von Lilli Palmer, die der hervorragenden Besetzung mit Rolf Ludwig [als Kellner Mager], Jutta Hoffmann [Adele Schopenhauer], Katharina Thalbach und Martin Hellberg ein besonderes Glanzlicht verleiht. Die nicht mehr ganz junge, international gefeierte Mimin spielt sich selbst.

Drucke

  • Erstausgabe.
  • Thomas Mann: Lotte in Weimar. Roman. Verbilligter Sonderdruck für deutsche Kriegsgefangene. Manufactured in USA mit Genehmigung Bermann-Fischer Verlag Stockholm 1945, 450 S.
  • Thomas Mann: Lotte in Weimar. Text und Kommentar. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Werner Frizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003, 1140 Seiten, ISBN 3-10-048336-7

Einzelnachweise

  1. In dem zeitgleich entstandenen Essay Bruder Hitler (1938), der Hitler als verkommenen Künstler entlarvt, spricht Thomas Mann u. a. auch von der „Verhunzung“ des Begriffes „des großen Mannes“ durch die Person Hitler.
  2. „Steife Art“ kann sich sowohl auf Goethes Förmlichkeit beziehen, als auch auf seine Art, sich zu bewegen. Goethes Rumpf-Motilität war in dieser Lebensphase eingeschränkt durch eine knöcherne Verwachsung von acht Brustwirbeln [T 5 –12]. Dazu waren rechts fünf Rippen [T 6 -10], die normaler Weise mit den zugehörigen Wirbeln durch Gelenke verbunden sind, durch Verknöcherungen dieser Gelenke mit den jeweiligen Wirbelkörpern verfestigt. Vgl. Ullrich, Herbert: Goethes Skelett – Goethes Gestalt. In: Goethe-Jahrbuch 2006, S. 167 - 187
  3. Thomas Mann am 15. Dezember 1938 an Ferdinand Lion. - In dem autobiographischen Text Die Entstehung des Doktor Faustus (1949) schreibt Thomas Mann ebenfalls von der Unio mystica, die er mit ihm, «dem Stern der schönsten Höhe» "vollzog." (S. 11)
  4. angesichts der Antinomien des Lebens
  5. am 29.12.1953 an Hans Mayer
  6. am 18.6.1951 an Charlotte Kestner, Ur-ur-Enkelin von Charlotte Kestner, geb. Buff
  7. Katalog er Ausstellung «450 Jahre Universitätsbibliothek Leipzig 1543 - 1993, 2. Aufl., S.78 mit Abb.»
  8. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946. Bd. 19, Nürnberg 1948, S. 529.
  9. Brief an Viktor Mann vom 4. Oktober 1946

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