Martin Dannecker

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Martin Dannecker (2011)

Martin Dannecker (* November 1942 in Oberndorf am Neckar) ist ein deutscher Sexualwissenschaftler und Autor. Er lehrte als außerordentlicher Professor am Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Themenschwerpunkte waren männliche Homosexualität, sexuelle Minderheiten und HIV/Aids. Außerdem veröffentlichte Dannecker zahlreiche Sachbücher, darunter mehrere Standardwerke zur Homosexualität, und führte Filmseminare über die Konstruktion von Geschlechtern und Sexualität im Film durch. Seit seiner Emeritierung lebt er in Berlin.

Leben

Martin Dannecker wuchs in einer Kleinstadt im Schwarzwald auf. Er machte zuerst eine Ausbildung zum Industriekaufmann und besuchte später in Stuttgart eine Schauspielschule. Etwa im Alter von 18 Jahren stellte er fest, dass er homosexuell ist, und begann, die damals vorhandene Literatur zur Homosexualität zu studieren. Da sie ihm „nicht adäquat“ und zu pathologisierend erschien und sich weder mit seinen Vorstellungen noch mit seinen eigenen Erfahrungen deckte, setzte er sich in den Kopf, eines Tages selbst eine Studie über Homosexualität zu machen. 1966 übersiedelte er nach Frankfurt am Main und arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft bei der freiberuflich tätigen Soziologin Maria Borris. Er holte das Abitur nach und studierte dann Philosophie, Soziologie und Psychologie. 1974 publizierte er gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Reimut Reiche, seinerzeit Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die große empirische Studie „Der gewöhnliche Homosexuelle“. Nach der Promotion arbeitete er seit 1977 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem von Volkmar Sigusch geleiteten Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort war er nach seiner Habilitation für das Fach Sexualwissenschaft bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005 als Professor tätig. Seine Forschungsschwerpunkte lagen auf dem Gebiet der männlichen Homosexualität, HIV/AIDS, Pädosexualität sowie der Theorie der Sexualität. Nach seiner Pensionierung übersiedelte er nach Berlin. Gegenwärtig beschäftigt er sich vor allem mit dem Thema Internetsexualität. Er ist Kuratoriumsmitglied der Initiative Queer Nations e.V. mit Sitz in Berlin. Er hat einen festen Beiratssitz in der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung seit deren Gründung im Jahr 1991.

Zusammen mit Gunter Schmidt und Volkmar Sigusch ist er Herausgeber der Buchreihe Beiträge zur Sexualforschung, die im Psychosozial-Verlag erscheint (bisher 87 Bände). Er war zudem lange Zeit Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sexualforschung, die im Georg Thieme-Verlag in Stuttgart erscheint. Er ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung.

Martin Dannecker war Co-Autor bei Rosa von Praunheims erstem Filmerfolg Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Nach der Ausstrahlung dieses Filmes zunächst nur im „Dritten“ des WDR Fernsehens und erst viel später im Ersten Programm (mit Ausnahme Bayerns) und nach vielen regionalen Vorführungen dieses Filmes mit anschließenden Diskussionen gründeten sich die ersten politischen Schwulengruppen der Nachkriegszeit. Dannecker selbst war Mitgründer der 1971 entstandenen, homosexuellen Emanzipationsgruppe Rote Zelle Schwul (RotZSchwul) in Frankfurt am Main, der er viele Impulse gab.[1]

„Schwule wollen nicht schwul sein, sondern so spießig und kitschig leben wie der Durchschnittsbürger. Schwule fordern vom Schwulen, ein Ästhet zu sein. Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie, noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Ihre politische Passivität und ihr konservatives Verhalten sind der Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden.“ (Zitat aus dem Film)

Das war ein wesentlicher Teil des Textes, der im Film von Volker Eschke aus dem Off gesprochen wurde.

1974 erschien auch die erste wissenschaftliche Arbeit zum Thema Homosexualität, Der gewöhnliche Homosexuelle, die Martin Dannecker zusammen mit Reimut Reiche im S. Fischer Verlag veröffentlichte.

„Die erste Untersuchung, die den gesamten Lebenszusammenhang Homosexueller in den Blick nimmt und den Zusammenhang von individuellem Triebschicksal Homosexueller und dem sozialen Zwang, dem sie ausgesetzt sind, im einzelnen aufzeigt.“ (Klappentext des Buches)

Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen zu seinen Forschungsschwerpunkten vor.

Auszeichnungen

Zusammen mit Judith Butler, die die Annahme des Preises coram publico ablehnte[2], wurde Dannecker 2010 mit dem Zivilcouragepreis des CSD Berlin ausgezeichnet.

Am 7. Juli 2012 wurde Martin Dannecker anlässlich des ColognePride in Köln für seine Verdienste vom Schwulen Netzwerk NRW mit der „Kompassnadel“ geehrt.[3]

Werke (Auswahl)

  • Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der BRD, mit Reimut Reiche. Fischer, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-10-014801-0
  • Der Homosexuelle und die Homosexualität. Syndikat, Frankfurt am Main 1978, ISBN 3-8108-0067-8
  • Das Drama der Sexualität. Athenäum, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-610-08468-5
  • Homosexuelle Männer und AIDS. Eine sexualwissenschaftliche Studie zu Sexualverhalten und Lebensstil Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1990, ISBN 3-17-011429-8
  • Der homosexuelle Mann im Zeichen von Aids. Klein, Hamburg 1991, ISBN 3-922930-02-6
  • Vorwiegend homosexuell. Aufsätze, Kommentare, Reden. MännerschwarmSkript, Hamburg 1997, ISBN 3-928983-50-4
  • Sexualität und Gesellschaft. Festschrift für Volkmar Sigusch (zusammen mit Reimut Reiche herausgegeben). Campus, Frankfurt am Main 2000, 418 S., ISBN 3-593-36617-7
  • 100 Jahre Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«. Aktualität und Anspruch, mit Agnes Katzenbach. Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, ISBN 3-89806-494-8

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. Jannis Plastargias: RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung (1971–1975). Querverlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-89656-238-8.
  2. War die Absage von Judith Butler das richtige Signal?, taz, 20. Juni 2010
  3. Kompassnadel für die Liebe und den Intellekt. Kölner CSD-Empfang. 8. Juli 2012, abgerufen am 29. August 2013.