Mehrpolbasierte Modellbildung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 19. Oktober 2016 um 13:57 Uhr durch 81.14.207.164 (Diskussion) (die Abhängigkeit der Anzahl?!? Wovon ist die abhängig?). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Mechatronisches Eintor

Als mehrpolbasierte Modellbildung bezeichnet man in der Mechatronik eine einheitliche Darstellung von technischen Systemen mit multidisziplinärem Charakter (Multidomänensysteme). Ausgehend von der Modellbildung mit konzentrierten Ersatzelementen, sowie allgemeiner Erhaltungs- und Bilanzgesetze, können Systemmodelle mit leistungserhaltenden Verschaltungsgesetzen gebildet werden (elektroanaloge Netzwerke,[1] Verallgemeinerte Netzwerke in der Mechatronik[2]). Ein klassisches Beispiel für reine elektrische Systeme sind die kirchhoffschen Netzwerke. Historisch geht diese Form der Modellbildung auf James Clerk Maxwell zurück. Er entwickelte 1873 sehr detaillierte mechanische Analogien zu den elektrischen Phänomenen. In seiner Impedanzanalogie verknüpfte er erstmals die Kraft und die elektrische Spannung als analoge Größen.[3]

Allgemeines

Bei der mehrpolbasierten Modellbildung werden konzentrierte Netzwerkelemente (engl. lumped elements) über ihre Torklemmen miteinander verschaltet. Dabei findet ein wechselseitiger Energieaustausch zwischen den einzelnen Netzwerkelementen statt. Abhängig von der Anzahl der vorhandenen Torklemmen jedes Netzwerkelements spricht man von einem Eintor, Zweitor, Dreitor oder Mehrtor. Der Energieaustausch eines Netzwerkelementes kann immer durch die zwei elementare Netzwerkvariablen (Torgrößen), der Flussgröße (von engl. flow) und der Differenzgröße (von engl. effort) beschrieben werden. Die Verschaltung der einzelnen Netzwerkelemente untereinander erfolgt mittels verallgemeinerter Kirchhoffscher Gesetzte (Kontenpunktsatz, Maschensatz).

Bildungsgesetze für die Systemvariablen

Bei der Bildung aller notwendigen Systemvariablen geht man zunächst davon aus, dass eine Energieänderung im n-dimensionalen Raum immer durch eine Massieu-Gibbs-Funktion (nach Josiah Willard Gibbs) ausgedrückt werden kann. Mathematisch sprechen wir von einer Pfaffschen Form oder linearen Differentialform

.

Innerhalb einer physikalischen Domäne existieren im Normalfall genau zwei Summanden der Massieu-Gibbs-Funktion, welche im Allgemeinen durch ihre unvollständigen Differentiale beschreiben werden.

Die beiden Intensitätsgrößen und bilden dabei die gesuchten Fluss- und Differenzgrößen (leistungskonjugierte Variablen).

Das Produkt beider Intensitätsgrößen ergibt in der jeweiligen physikalischen Domäne immer eine Leistung.

Jede einzelne unabhängige Energieänderung wird durch ein Paar von energiekonjugierten Variablen ausgedrückt.

Der Quantitätsbegriff reicht jedoch noch nicht aus, um alle Energieformen eindeutig zu charakterisieren. Bei Energieformen an denen feldartige Größen beteiligt sind, existiert kein einfacher mengenartiger Zusammenhang. Dazu wird der Begriff der Quantitätsgröße mit den nachfolgenden Regeln auf den Begriff der extensiven Größe erweitert.

Bildungsregeln

  • Zu jeder Energieform existiert eine extensive Variable.
  • Jede Quantitätsgröße ist auch extensiv.
  • Nicht jede extensive Größe ist eine Quantitätsgröße.

Somit werden den beiden mengenartigen Systemvariablen die folgenden Eigenschaften zugeordnet.

Variable Eigenschaft Name Formelzeichen
sind extensive Variablen
ist eine Quantitätsgröße Primärgröße
ist keine Quantitätsgröße Extensum

Quantitäts- und Intensitätsgrößen

Innerhalb einer physikalischen Domäne lassen sich immer genau vier Systemvariablen bilden, zwei Quantitätsgrößen und zwei Intensitätsgrößen. Ausgehend von der Primärgröße können die drei restlichen Systemvariablen eindeutig mathematisch abgeleitet werden.

Ihre messtechnische Eigenschaft wird dabei durch ihren jeweiligen Index charakterisiert.

P – für durch (von lat. per, engl. through)

T – für über (von lat. trans, engl. across)

Schritt Systemvariable Formelzeichen Gleichung Eigenschaft Energievariable Netzwerkvariable
0 Primärgröße - P-Quantität -
1 Differenzgröße T-Intensität
2 Flussgröße P-Intensität
3 Extensum T-Quantität -

Konstitutive Gesetze

Die konstitutiven Gesetze verknüpfen die vier Systemvariablen jeweils wechselseitig miteinander. Dabei ergeben sich zwei Energiespeicherelemente und zwei dissipative Elemente. Geht man von der Modellvorstellung der konzentrierten Ersatzelemente aus, so lassen sich die vier konstitutiven Gleichungen jeweils einem mechatronischen Eintor zuordnen. Für lineare Bauelementebeziehungen ergibt sich der folgende Zusammenhang:

Name Gleichung Bauelent Eigenschaft
kapazitives Gesetz mechatronische Kapazität Energiespeicher
induktives Gesetz mechatronische Induktivität Energiespeicher
resistives Gesetz mechatronischer Widerstand Energiewandler
memristives Gesetz mechatronischer Memristor Energiewandler

Übersichtsdarstellung

Die Bildungsgesetze für die Systemvariablen sowie die konstituierenden Gesetze für die Netzwerkbauelemente können sehr anschaulich gemeinsam in einem einfachen Übersichtsschema dargestellt werden.

Bildungsgesetz der Systemvariablen
Bildungsgesetz der Systemvariablen

Historie

Die früheste mechanisch-elektrischen Analogie geht auf James Clerk Maxwell[4] zurück. In seinen Überlegungen verknüpfte er erstmals die mechanische Kraft und die elektrische Spannung als analoge Größen, ohne jedoch den Impedanzbegriff zu verwenden. Dieser wurde erst 1886 von Oliver Heaviside[5] geprägt, lange nach Maxwells Tod. Die Idee der komplexen Impedanz wurde dann von Arthur E. Kennelly[6] 1893 eingeführt. Ab 1900 gehörte die mechanisch-elektrische Analogie dann zu den Standard-Analyse-Verfahren.[7] Mit der Entwicklung der Analogrechentechnik ab 1923 erhielten die Analogiebeziehungen durch Vannevar Bush[8] erneut einen Aufschwung. 1931erschien von Walter Hähnle[9] fast zeitgleich mit Floyd A. Firestone[10] ein umfassender Beitrag zur Darstellung von elektromechanischen Gebilden durch rein elektrische Schaltbilder. Das Konzept dieser beiden Veröffentlichungen stützte sich maßgeblich auf die FU-Analogie. Die Einführung der FI-Analogie wurde 1955 durch Horace M. Trent[11] vorgeschlagen. Trent verwendet erstmals lineare graphische Verfahren zur Darstellung von elektromechanischen Netzen. Letztlich führte diese mathematische Darstellung 1960 durch Henry M. Paynter[12] zu den bis heute sehr erfolgreich angewendeten Bondgraphen. Unter Barkhausen etablierte sich Reichardt, Kraak und Lenk erfolgreich die Dresdner Schule der Akustik.[13] Hier erschien 1971 erstmals von Arno Lenk ein Lehrbuch.[14] über Elektromechanische Systeme. Eine ähnlich umfangreiche Betrachtungsweise ist 1979 bei Peter E. Wellstead[15] zu finden. Wellstead verwendet neben der mehrpolbasierten Modellbildung auch erstmals den Lagrange- und Hamilton-Formalismus.

Literatur

  • Rüdiger G.Ballas, Günther Pfeifer und Roland Werthschützky: Elektromechanische Systeme der Mikrotechnik und Mechatronik: Dynamischer Entwurf – Grundlagen und Anwendungen. 2. Auflage. Springer, 2009, ISBN 978-3-540-89317-2.
  • Gottfried Falk, Wolfgang Ruppel: Energie und Entropie. Springer, Berlin / Heidelberg / New York 1976, ISBN 3-540-07814-2.
  • Gottfried Falk: Physik: Zahl und Realität: Die begrifflichen und mathematischen Grundlagen einer universellen quantitativen Naturbeschreibung. Birkhäuser Verlag, Basel 1990, ISBN 3-7643-2550-X.
  • Jörg Grabow: Verallgemeinerte Netzwerke in der Mechatronik. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2013, ISBN 978-3-486-71261-2.
  • Klaus Janschek: Systementwurf mechatronischer Systeme: Methoden – Modelle – Konzepte. Springer, 2010, ISBN 978-3-540-78876-8.
  • Dimitri Jeltsema, Jacquelien M. A. Scherpen: Multidomain Modeling of Nonlinear Networks and Systems. Energy- and Power-based Perspectives. In: IEEE Control Systems. Band 29, Nr. 4, August 2009, S. 28–59, doi:10.1109/MCS.2009.932927.
  • Ekbert Hering, Heinrich Steinhart: Taschenbuch der Mechatronik. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, 2005, ISBN 978-3-446-22881-8.
  • William Bolton: Bausteine mechatronischer Systeme – Bafög-Ausgabe. 3. Auflage. Pearson Studium, 2005, ISBN 3-8273-7098-1.
  • Christoph Strunk: Moderne Thermodynamik: Von einfachen Systemen zu Nanostrukturen. De Gruyter Oldenbourg, 2015, ISBN 978-3-11-037105-5.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rüdiger G.Ballas, Günther Pfeifer und Roland Werthschützky: Elektromechanische Systeme der Mikrotechnik und Mechatronik: Dynamischer Entwurf – Grundlagen und Anwendungen. 2. Auflage. Springer, 2009, ISBN 978-3-540-89317-2, S. 11.
  2. Jörg Grabow: Verallgemeinerte Netzwerke in der Mechatronik. 1. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2013, ISBN 978-3-486-71261-2, S. I.
  3. Robert H. Bishop: Mechatronics: An Introduction. CRC Press, 2005, ISBN 1-4200-3724-2, S. 8.4.
  4. Malcom C Smith: Synthesis of mechanical networks: the inerter. Hrsg.: IEEE Transactions on Automatic Control. Band 47, Nr. 10, Oktober 2002, S. 1648–1662.
  5. Oliver Heaviside: Note 4. Magnetic resistence etc. In: Electrical papers. Band 2. Macmillan and co., London 1894, S. 166 (archive.org).
  6. Frederick V Hunt: Electroacoustics: the Analysis of Transduction, and its Historical Background. Hrsg.: Harvard University Press. OCLC 2042530, 1954.
  7. Heinrich Barkhausen: Das Problem Der Schwingungserzeugung Mit Besonderer Berücksichtigung Schneller Elektrischer Schwingungen. August Pries Leipzig, Göttingen 1907.
  8. Vannevar Bush's Differential Analyzer. Abgerufen am 5. Juli 2015 (englisch).
  9. Walter Hähnle: Wissenschaftliche Veröffentlichungen aus dem Siemens-Konzern. XI. Band Erstes Heft. abgeschlossen am 12. März 1932 (= Wissenschaftliche Veröffentlichungen aus dem Siemens-Konzern. Nr. 1,11). Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 1932, S. 1–23, doi:10.1007/978-3-642-99668-9.
  10. Floyd A Firestone: A new analogy between mechanical and electrical systems. In: Journal of the Acoustical Society of America. Nr. 4, S. 249–267 (1932–1933).
  11. Busch-Vishniac, J. Ilene: Electromechanical Sensors and Actuators. Springer Science & Business Media, 1999, ISBN 0-387-98495-X.
  12. Henry M. Paynter: Analysis and Design of Engineering Systems. Hrsg.: MIT Press. OCLC 1670711, 1961.
  13. Die Dresdner Schule der Akustik in den Jahren bis 1990. Abgerufen am 5. Juli 2015.
  14. Arno Lenk: Elektromechanische Systeme: Systeme mit konzentrierten Parametern. 1. Auflage. Band 1. VEB Verlag Technik, Berlin 1971.
  15. Peter E. Wellstead: Introduction to Physical System Modelling. (PDF) Control Systems Principles, abgerufen am 4. Juli 2015 (englisch).