Multiplikatives Geschlecht

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Ein multiplikatives Geschlecht auch Hirzebruch-Geschlecht[1] ist ein Objekt der Mathematik. Es wird in den Teilgebieten der Differentialtopologie und der algebraischen Topologie untersucht. Als topologische Invariante kann es helfen, Mannigfaltigkeiten, die nicht zueinander äquivalent (homeomorph) sind, zu unterscheiden.

In den späten 1950er Jahren entwickelte Friedrich Hirzebruch eine Methode, bei der er multiplikative Geschlechter mittels multiplikativer Folgen[2] (auch multiplikative Sequenzen[3]) definierte. Zu diesen Geschlechtern, die durch multiplikative Folgen definiert werden können, gehören das Todd-Geschlecht, das Â-Geschlecht, das L-Geschlecht und die Klasse der elliptischen Geschlechter. Diese Objekte sind zentral bei der Definition des topologischen Index für den Atiyah-Singer-Indexsatz. Für das L-Geschlecht bewies Hirzebruch in seinem Signatursatz, dass es mit der Signatur der Mannigfaltigkeit übereinstimmt.

Multiplikatives Geschlecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein multiplikatives Geschlecht ist eine Abbildung , die jeder geschlossenen orientierten glatten Mannigfaltigkeit der Dimension ein Element aus einem Integritätsring zuordnet, so dass für je zwei solcher Mannigfaltigkeiten und die drei Bedingungen

  • , wobei die disjunkte Vereinigung ist,
  • , falls es eine kompakte orientierte Mannigfaltigkeit der Dimension gibt mit

erfüllt sind. Ein multiplikatives Geschlecht kann also (äquivalent) als ein Ringhomomorphismus (der auch das Eins-Element beachtet) vom Kobordismusring nach verstanden werden. Oftmals wird als Integritätsring die Menge der rationalen Zahlen verwendet.

Multiplikative Folge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sei eine formale Potenzreihe mit rationalen Koeffizienten und konstantem Term und sei eine positive ganze Zahl. Die formale Potenzreihe ist dann symmetrisch. Daher existieren Polynome , so dass

gilt, wobei

das k-te elementarsymmetrische Polynom bezeichnet. Die Folge von Polynomen heißt multiplikative Folge oder multiplikative Sequenz bezüglich der formalen Potenzreihe .[4]

Geschlecht einer multiplikativen Folge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesem Abschnitt wird das Geschlecht einer Mannigfaltigkeit bezüglich einer multiplikativen Folge definiert. Dieses Geschlecht ist ein multiplikatives Geschlecht im obigen Sinn.[5] Die Definition geschieht getrennt nach glatten beziehungsweise komplexen Mannigfaltigkeiten. Jedoch sind beide Definitionen ähnlich.

Für glatte Mannigfaltigkeiten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sei eine orientierte glatte -dimensionale Mannigfaltigkeit, ihr Tangentialbündel, das ein reelles Vektorbündel ist, und eine multiplikative Folge zu der formalen Potenzreihe . Dann ist das multiplikative Geschlecht von definiert durch

,

falls ist und sonst durch . Dabei bezeichnet die -te Pontrjagin-Klasse von , die Fundamentalklasse von und die natürliche Paarung zwischen Homologie und Kohomologie.[6][7]

Für komplexe Mannigfaltigkeiten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sei eine orientierte komplexe Mannigfaltigkeit mit , sei ihr Tangentialbündel, das ein komplexes Vektorbündel ist, und eine multiplikative Folge zu der formalen Potenzreihe . Dann ist das multiplikative Geschlecht von definiert durch

,

falls ist und sonst durch . Dabei bezeichnet die -te Chern-Klasse von , die Fundamentalklasse von und die natürliche Paarung zwischen Homologie und Kohomologie.[8]

Besondere multiplikative Geschlechter[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In diesem Abschnitt werden spezielle, zentrale multiplikative Geschlechter angeführt.

Todd-Geschlecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die durch die (formale) Potenzreihe

,

wobei die Bernoulli-Zahlen sind, definierte multiplikative Folge , heißt Todd-Folge. Die ersten Terme der Folge mit Koeffizienten in den Chern-Klassen lauten:

Die totale Todd-Klasse ist dann gegeben durch

.

Für eine kompakte komplexe Mannigfaltigkeit der (reellen) Dimension ist das Todd-Geschlecht definiert durch[8]

.

Â-Geschlecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die durch die (formale) Potenzreihe

definierte multiplikative Folge , heißt Â-Folge (gesprochen: A-Dach-Folge). Die ersten Terme der Folge mit Koeffizienten in den Pontrjagin-Klassen sind:

Die Â-Klasse ist dann definiert durch

.

Die Â-Klasse ist das reelle Analogon der Todd-Klasse. Für jedes orientierte reelle Vektorbündel gilt nämlich . Das Â-Geschlecht ist genauso wie zuvor das Todd-Geschlecht definiert als die Â-Klasse gepaart mit der Fundamentalklasse.[9]

L-Geschlecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die durch die (formale) Potenzreihe

,

wobei die Bernoulli-Zahlen sind, definierte multiplikative Folge , heißt Folge der L-Polynome. Die ersten Terme der Folge mit Koeffizienten in den Pontrjagin-Klassen sind:

Für eine kompakte komplexe Mannigfaltigkeit der Dimension ist das L-Geschlecht ebenfalls gegeben durch

.

Hirzebruch bewies mit dem Signatursatz, dass das L-Geschlecht mit der Signatur der Mannigfaltigkeit übereinstimmt.[10]

Elliptisches Geschlecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein multiplikatives Geschlecht wird elliptisches Geschlecht genannt, falls die formale Potenzreihe die Differentialgleichung

mit Konstanten und erfüllt.

Eine explizite Darstellung von ist

,

wobei

und die Jacobische elliptische Funktion ist. Also ist der Logarithmus des multiplikativen Geschlechts das elliptische Integral erster Art

.

Dieses wurde in der ersten Definition des elliptischen Geschlechtes genutzt wurde und daher heute auch das Attribut elliptisch im Namen trägt.[11] Gilt oder , dann nennt man das entsprechende elliptische Geschlecht degeneriert.

Setzt man beispielsweise und , so erhält man das L-Geschlecht. Das Â-Geschlecht erhält man, wenn man und setzt.[12]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Sergeĭ Petrovich Novikov: Topics in Topology and Mathematical Physics. American Mathematical Soc., 1995, ISBN 978-0-8218-0455-1, S. 25 (google.com).
  2. Ruedi Seiler, Volker Enss, Werner Müller: Geometrie und Physik (Akademie der Wissenschaften Zu Berlin. Forschungsberichte). De Gruyter, 1997, ISBN 978-3110139440, S. 170.
  3. Matthias Kreck: Eine invariante für stabil parallelisierte Mannigfaltigkeiten. Dissertation. (Online)
  4. H. B. Lawson, M. Michelson: Spin Geometry. Princeton University Press, 1989, ISBN 978-0691085425, S. 228–229.
  5. Charles B. Thomas: Elliptic Cohomology (University Series in Mathematics). Springer, 1999, ISBN 978-0-306-46097-5, S. 10.
  6. H. B. Lawson, M. Michelson: Spin Geometry. Princeton University Press, 1989, ISBN 978-0691085425, S. 230–231.
  7. Friedrich Hirzebruch: Topological methods in algebraic geometry (Grundlehren der mathematischen Wissenschaften 131). 2nd corrected printing of the 3rd edition. Springer, Berlin u. a. 1978, ISBN 3-540-03525-7, S. 77.
  8. a b H. B. Lawson, M. Michelson: Spin Geometry. Princeton University Press, 1989, ISBN 978-0691085425, S. 230.
  9. H. B. Lawson, M. Michelson: Spin Geometry. Princeton University Press, 1989, ISBN 978-0691085425, S. 231–232.
  10. John W. Milnor, James D. Stasheff: Characteristic classes. Princeton, N.J., Princeton University Press, ISBN 0691081220, 224.
  11. S. Ochanine, "Sur les genres multiplicatifs définis par des intégrales elliptiques" Topology , 26 (1987) pp. 143–151 MR0895567 Zbl 0626.57014
  12. Serge Ochanine, What is… an elliptic genus?, Notices of the AMS, volume 56, number 6 (2009) (Online)