Māturīdīya

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Die Māturīdīya (arabisch الماتريدية, DMG al-māturīdīya) oder Maturidi-Schule ist eine theologische Richtung des sunnitischen Islam, die sowohl in ihrer Methodologie als auch ihren theologischen Anschauungen dem Asch'arismus ähnelt. Sie wurde von Maturidi – dem berühmten hanafitischen Gelehrten des 10. Jahrhunderts aus Samarkand – begründet und sieht sich als Erbin der von dem hanafitischen Rechtsgelehrten Abu Dscha'far at-Tahawi etablierten Lehre. Maturidi wandte sich gegen die Ansichten der Mu'taziliten aber auch der Qarmaten und der Schia. Maturidi betonte stets, dass die islamische Rechtswissenschaft den Bereich theologischer Debatten auf das absolut Notwendige begrenzt.

Es war die Richtung dieser Schule, der im Laufe der Jahrhunderte die Hanafiten in Glaubensfragen in der Regel folgten.

Sie ist heutzutage in der Türkei, auf dem Balkan, in Zentralasien, China, Indien, Pakistan und Eritrea anzutreffen.[1]

Lehre

Grundsätze

Nach Ansicht der Maturidiyyah ist jeder Muslim verpflichtet, bedingungslos an 6 Grundsätze zu glauben:

  • der Glaube an Gott (Allah) und daran, dass er der einzige Gott sei (Tauhīd)
  • der Glaube an al-Mala'ika (Engel)
  • der Glaube an die Propheten des Islam
  • der Glaube an die "Bücher" - wobei nur der Koran als unverändert und fehlerlos gilt
  • der Glaube an den Jüngsten Tag
  • der Glaube an das Schicksal.[2]

Glaubensfrage

Die hanafitisch-maturidische Glaubenslehre الإيمان لا يزيد ولا ينقص / al-īmān lā yazīd wa-lā yanquṣ / ‚Der Glaube nimmt weder zu noch nimmt er ab‘ ist eine besonders ausgearbeitete Lehre und stützt sich auf Quellen bis zu Abu Hanifa.

Die Gelehrten der Maturidiyya waren der Meinung, dass der Īmān (Glaube) weder abnehmen noch zunehmen kann, sondern nur schwächer oder stärker werden kann und dass der Īmān aller Muslime derselbe war und ist. Da alle Glaubensgrundlagen (siehe ʿAqīda) dieselben sind und deren Zahl dieselbe ist, schlussfolgerte Abu Hanifa, dass der Iman nicht abnehmen oder zunehmen kann, da jemand, der nur eine einzige Glaubensgrundlage leugnet, oder etwas zurückweist, was von der Religion (d.h. von Gott) befohlen wird, zu einem Kāfir (Ungläubigen) wird. Oder anders: Mehr Īmān könne man nicht haben, da die Anzahl der Glaubensgrundlagen und der Pflichtgebote (fard) fest sind. Man kann also nicht an mehr glauben, als die Religion vorgibt. Der Īmān-Inhalt sei daher laut Abu Hanifa bei jedem Muslim, Engel, Prophet usw. derselbe und unterscheide sich lediglich in der Stärke des Glaubens und wirke sich auf die Handlungen aus. Wenn jemand also beispielsweise aus Faulheit nicht das salāt verrichte, sei das auf seinen schwächeren Īmān (Glauben), aber nicht auf Mangel an Īmān zurückzuführen - niemand habe „mehr“ oder „weniger“ (gemeint sind Inhalte) im Īmān.[3]

Die Lehre wird von den meisten salafitischen Kreisen mit Skepsis betrachtet.[4]

Takfir

Die Hanafiten gelten generell im Bereich Takfir (jemanden zu einem Ungläubigen, Kafir, erklären) eher als behutsam und zurückhaltend, unter anderem basierend auf dieser Lehre. Niemand, der nicht eine „große Sünde“ (z.B Schirk, Kufr, Ridda) begehe, könne grundsätzlich zu einem Ungläubigen erklärt werden.

Abu Hanifa äußert sich in dem ihn zugeschriebenen Werk al-Fiqh al-Akbar: „Wir erklären keinen [Muslim] wegen einer Sünde für ungläubig und sprechen keinem den Glauben ab. Wir fordern zum Guten auf und halten vom Schlechten ab. Wisse, dass das, was dir zustößt, dich nicht verfehlen könnte, und was dich verfehlt, dir nicht zustoßen könnte! Wir sagen uns von keinem der Gefährten des Propheten los, noch wenden wir uns zu einem [von ihnen] mit Ausschluss eines anderen.“

Wesen Gottes

Der Anthropomorphismus gilt für die Maturidiyyah als schwerer Unglaube (schirk, kufr), der dem Tauhīd widerspreche. Niemand und nichts komme Gott gleich oder könne mit ihm verglichen werden.

Als einer der Belege für die Meinung gilt folgender Vers aus dem Koran (Sure 42:11):

„[Er ist] der Schöpfer von Himmel und Erde. Er [Gott] hat euch [Menschen] und [auch] die Herdentiere zu Paaren gemacht und dadurch bewirkt, daß ihr euch [auf der Erde] verbreitet. Es gibt nichts, was ihm [Gott] gleichkommen würde. Er [Gott] ist der, der [alles] hört und sieht.“

Übersetzung Rudi Paret

Darauf stützend lehnte Maturidi es strikt ab, eine Auslegung (Tafsīr) von bestimmten Koranversen zu machen. Den Taʾwīl hielt er für möglich, falls dieser nicht gegen Grundsätze des Glaubens und der Scharia verstoße.

Maturidis Aussage zu الرحمن على العرش استوى / ar-Raḥmān ʿāla al-ʿarš Istawāʾ / ‚Er, der Allerbarmer, erhob sich über den Thron‘ (Sure 20:5), die von den Hanafiten vertreten wird:

„Für uns ist das eigentliche in dieser Angelegenheit, dass Allah jegliche Ähnlichkeit zu seiner Schöpfung von seinem Wesen (Dhat) abgewiesen hat, indem er sagte: „Kein Ding gleicht ihm.“ Wir haben davor erwähnt, dass er in seinen Taten und Eigenschaften keinen gleichen hat. Daraus folgt, dass man den Vers: „Er, der Allerbarmer machte Istiwa auf den Thron“, so zu verstehen hat, wie er es in seiner Offenbarung meint, ohne dass er mit seiner Schöpfung gleichgestellt wird. Denn dies (das er nichts gleicht) wurde mit der Offenbarung bestätigt und dem Verstand unterstützt. Mit diesem geben wir auch keiner Interpretation über Istiwa eine abschließende Gültigkeit, es können auch die Interpretationen richtig sein, indem keine Ähnlichkeit zur Schöpfung erwähnt wird, aber über die wir keine Kenntnisse haben und die uns nicht erreicht haben. Wir machen an das Überzeugung (Iman), was Allah mit Istiwa meint. Genauso muss man an die Thematiken wie die Vision Allahs glauben, da es darüber göttliche Offenbarungen gibt, aber man muss jegliche Ähnlichkeit zu den Geschöpfen ableugnen und eins von den Möglichkeiten (der Interpretation) nicht eine abschließenden Gültigkeit geben…“

Kitab at-Tauhid, S.94, Isam Yayinlari, 2003

Maturidi erklärte den Unterschied zwischen Tafsīr (Erklärung) und Taʾwīl (Interpretation) so:

„Tafsir ist die kategorische Schlussfolgerung, dass die Bedeutung eines in Frage kommenden Begriffs diese ist, und es ist das Zeugnis vor Gott, dass es dies ist, was Er gemeint hat. Hingegen ist Taʾwīl die Bevorzugung einer von mehreren Möglichkeiten ohne kategorische Schlussfolgerung oder Zeugnis.“

Maturidi in „Kitab Taʾwīlāt al-Qurʾān“

Aufgrund dessen sei Gottesexistenz auch nicht auf einen "Ort", aber auch nicht auf "Überall" zuzuschreiben. Gott existiere jenseits von Zeit, Raum, Ort und Körperlichen sowie physischen Richtung. Das „wie?“ der Existenz Gottes entzieht sich laut den Maturidi dem Verstand der Menschen. Daher kann von einem Menschen das „wie?“ der Existenz Gottes nicht begriffen werden. So heißt es im „Fiqul-Absat“: Gott existiert seit der Ewigkeit, und es gab keinen Ort. Er existierte, bevor er die Schöpfung erschuf. Er existierte, und es gab keinen Ort, keine Schöpfung oder andere Dinge; und er ist der Schöpfer von allem.

Maʿrifat Allah (Kenntnis über die Existenz Gottes)

Eine Eigenheit der maturidischen Ansicht ist die Meinung zu Kenntnis über Gottes Existenz / معرفة الله / maʿrifat Allāh.

Für die Maturidi ist jemand gezwungen, Allah zu kennen, auch wenn ihm nicht vom Islam erzählt wurde. Denn der Verstand ist laut Maturidi fähig, Allah zu erkennen.

Für die Aschariten ist jemand, der vom Islam nichts gehört hat, für nichts verantwortlich. Nach Ansicht der Maturidi sind Nicht-Muslime nach ihrem Tod für ewig mit der Hölle bestraft. Auch Nicht-Muslime, die noch niemals etwas vom Islam gehört haben, seien für das ewige Höllenfeuer bestimmt.

Maturidisch-hanafitische Gelehrte dazu:

„Unserer Ansicht nach ist Unwissenheit kein Entschuldigungsgrund. Verstand befördert jeden zum Wissen.“

Ahmed Ziyauddin in "Aqida der Ahlus Sunnah"

„Heute ist kein einziges Volk aufgrund von Unwissenheit zu entschuldigen. Denn Allah hat den Menschen Gesandte geschickt und damit ist die Hudscha (der Beweis) fertig; es kann niemand sagen: 'Was soll ich machen, ich habe Allah nicht gekannt, ich konnte kein Wissen über Ihn finden.'“

Ömer Nasuhi Bilmen in "Ilmihal"

„Auf der ganzen Welt ist heute Unwissenheit kein Entschuldigungsgrund; sei es im Kennen und Wissen von Iman und Kufr, oder sei es in der richtigen Ausführung der Gottesdienstlichen Handlungen. Wer die Religion nicht kennt und deshalb verirrt, wird sich aus der Hölle nicht erretten können. Allah hat von Seiner Religion auf der ganzen Welt hören lassen; es ist sehr leicht, halāl, harām, iman und die Pflichten zu erlernen. Es ist Pflicht, diese Dinge zu lernen, soviel wie davon notwendig ist.“

Hilmi Isik in "Saadet-i Abadiya"

Propheteneltern

Bezüglich des Propheteneltern-Problems vertritt die Maturiddiyya die Position: „Die Eltern des Gottesgesandten sind als Ungläubige gestorben“.

Einer der Unterschiede zwischen der asch'aritischen und der hanafitisch-māturīditischen Lehre bestand darin, dass erstere die Weite der göttlichen Gnade betonte, während letztere in Anlehnung an muʿtazilitische Positionen die Nicht-Einhaltung der göttlichen Drohverheißung (chulf al-waʿīd) bei Ungläubigen ausschloss und damit auch den Propheteneltern eine posthume göttliche Begnadigung versagte.[5] Wie wichtig diese Lehrauffassung für das hanafitisch-māturiditische Selbstverständnis war, zeigt sich unter anderem darin, dass ihr in der populären hanafitisch-māturiditischen Bekenntnisschrift, dem sogenannten Fiqh akbar II, ein eigener Lehrsatz gewidmet wurde. Er findet sich ganz am Ende der Schrift und lautet: „Die Eltern des Gottesgesandten sind als Ungläubige gestorben.“ (wa-wālidā rasūli Llāhi (s) mātā ʿalā l-kufr)[6]

Gegner und Gegenargumente

Als nennenswerte Gegner gelten die Schia, Muʿtazila, nicht-muslimische Philosophen (z.B Aristoteles), Aleviten und die Qaramita. Die Salafiten gelten ebenfalls als Gegner, obwohl der größte Teil des Glaubens beider Gruppierungen identisch ist. Zeitgenössische salafistische Gelehrte wie Muhammad Salih al-Munajjid bezeichnen die Maturidi als „fehlgeleitete Gruppe“, aber nicht als Sekte oder Ungläubige.

Der Hanbalit Ibn Taimiyya, auf dessen Gedankengut sich die salafitischen Strömungen ausrichten, fällte in einer Fatwa ein Urteil über die Maturidiyya, das die Frage der „Rechtleitung“ offen lässt: „Die Maturidiyyah gehören zu einer Gruppe, die größtenteils richtige, aber auch falsche Ansichten vertreten. Sie sind näher am Weg der Rechgeleiteten als auf dem der Fehlgeleiteten […] Der größte Teil ihres Glaubens ist rechtens […] Sie bekämpften falsche Ansichten der Muʿtazila, überspannten hier jedoch den Bogen durch Erneuerungen (Bidʿa) ihrerseits, so dass sie eine größere und ernstere Erneuerung mit einer kleineren und geringeren Erneuerung bremsten. Sie widerlegten eine große Lüge mit einer kleinen, das ist der Fall bei den meisten der Philosophen (Mutakallimūn), die von sich behaupten der Ahl al-sunna wa-l-Dschama'a (Rechtgeleiteten) anzugehören.“ (Ibn Taymiyah, al-Fataawa, 1/348)[7]

Vertreter der Schule

Literatur

  • Ulrich Rudolph: Al-Maturidi und die Sunnitische Theologie in Samarkand. Brill. 1996. ISBN 9789004100237

Weblinks

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. mb-soft.com: Maturidiyyah Theology, Maturidi - Advanced Information
  2. Feinheiten islamischen Glaubens: Islamischer Katechismus. Astec, o.O. o.J. (Bochum 2004), ISBN 3-00-015510-4;
  3. Abu Hanifa, zitiert in „Menaqib-i Imami-Azam k.II, S. 141.“ Ibn Bezzazi: Der Glaube von den Bewohnern der Himmel und der Erde ist eins. Von damals bis heute, seit dem Ursprung des Glaubens, der Glaube aller Propheten ist derselbe. Denn wir haben alle an den gleichen Gott geglaubt und ihn bestätigt. Die Pflichten aber sind verschieden, ebenfalls ist der Kufr gleich, denn die Kafir haben viele Eigenschaften. Wir haben alle an das geglaubt, woran auch die Propheten geglaubt haben. Jedoch war deren Glaube überlegen, und in jeder ihrer Handlungen waren ihre guten Handlungen den unseren überlegen. Denn wie sie in ihrer Gefolgschaft bevorzugt waren, so waren sie auch in ihren Angelegenheiten uns gegenüber bevorzugt. Unser Herr hat uns in diesem Fall kein Unrecht getan, denn Gott hat unser Recht nicht vermindert und nicht herabgesetzt. Möglicherweise hat Gott ihnen als Einladung und Bewirtung überaus mehr gegeben, denn sie waren die Führer für die Menschheit. Sie waren die vertrauenswürdigen Gesandten Allahs. Niemand kann gleich ihrem Rang sein. Denn die Menschen haben die Tugend aufgrund von ihnen [den Propheten] erreicht. Jene, die in das Paradies eintreten werden, werden durch ihre Bittgebete und Einladungen eintreten.
  4. Muhammad Nasiruddin al-Albani zitiert in „Nadhm Al-Fawa`id fi Silsilati Al-Albani min Al-Fawa`id“: Und die Wahrheit ist, dass dieser Hadith selbst, obwohl er einer Erklärung bedarf, ein Beweis gegen die Hanafiten ist, diejenigen, die nicht aufhören, hartnäckig darauf zu bestehen, sich uns mit ihrer Aussage, dass der Iman weder zu- noch abnimmt, zu widersetzen. Glauben ist ihrer Ansicht nach nur eine einzige Stufe [eine einzige Einheit]. Und folglich können sie sich einen mangelhaften Iman nicht vorstellen. Dies ist der Grund, warum al-Kawthari [ein hanafitischer Gelehrter] diesen Hadith zurückwies.
  5. Zu den Hauptunterschieden zwischen Asch'ariyya und Māturīdiyya vgl. Montgomery Watt u. Michael Marmura: Der Islam II. Politische Entwicklungen nd theologische Konzepte. Übersetzt aus dem Englischen von S. Höfer. Stuttgart u.a. 1985.S. 315-318, zur Frage des ḫulf al-waʿīd vgl. die monographische Abhandlung von ʿAlī al-Qārī: al-Qawl as-sadīd fī ḫulf al-waʿīd. Tanta 1412/1992.
  6. Vgl. die engl. Übersetzung bei A.J. Wensinck: The Muslim Creed. Its Genesis ans Historical Development. Cambridge 1932. S. 197. Wensinck erwähnt den Lehrsatz nur in einer Fußnote, weil er nicht in allen Textzeugnissen der Schrift enthalten ist. Vgl. dazu die Ausführungen unten.
  7. islam-qa.com:Are Deobandis part of Ahlus Sunnah? Are they within the folds of Islam?