Nelly Sachs

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Nelly Sachs (deutsche Briefmarke 2001)

Nelly Sachs (eigentlich Leonie Sachs; * 10. Dezember 1891 in Berlin; † 12. Mai 1970 in Stockholm) war eine deutsche Schriftstellerin und Lyrikerin. 1966 verlieh das Nobelpreiskomitee ihr – gemeinsam mit Samuel Josef Agnon – den Nobelpreis für Literatur „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren.“

Leben

Gedenktafel an Nelly Sachs' Geburtshaus in Berlin-Schöneberg, Maaßenstraße 12

Nelly Sachs wurde 1891 in Berlin-Schöneberg als einziges Kind in die Familie des Erfinders und Fabrikanten William Sachs und seiner Frau Margarete, geborene Karger, geboren; sie wuchs in einer kultivierten, assimilierten jüdisch-großbürgerlichen Atmosphäre auf. Aufgrund ihrer kränklichen Konstitution wurde sie zunächst drei Jahre von Privatlehrern unterrichtet, bevor sie 1903 in eine Höhere Töchterschule eintrat, wo sie fünf Jahre später ihr „Einjähriges“ (entspricht Mittlerer Reife) absolvierte. Mit 15 Jahren war sie so fasziniert von Selma Lagerlöfs Debütroman Gösta Berling, dass sie mit der schwedischen Schriftstellerin in einen Briefwechsel eintrat, der über 35 Jahre andauerte. Erste Gedichte schrieb sie mit 17 Jahren.

Nelly Sachs lebte mit ihren Eltern zurückgezogen und nahm wenig am gesellschaftlichen Leben der 1920er Jahre teil. Sie blieb unverheiratet, nachdem eine Liebesbeziehung zu einem geschiedenen Mann vom Vater unterbunden wurde. Allerdings hielt sie die Beziehung zu dem namentlich unbekannten Mann vermutlich über Jahrzehnte aufrecht und wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen mit ihm verhaftet — in einigen Gedichten ist später von einem „Bräutigam“ die Rede, der in einem Konzentrationslager umgekommen sei. Genaueres ist nicht bekannt.

1921 erschien mit Unterstützung des Schriftstellers Stefan Zweig Nelly Sachs' erster Gedichtband unter dem Titel Legenden und Erzählungen; die frühen, melancholisch gefärbten Gedichte sind noch ganz von neoromantischen Einflüssen geprägt und kreisten um Motive aus Natur und Musik. Bei der Herausgabe ihrer gesammelten Werke nahm Nelly Sachs diese Gedichte später jedoch nicht mit auf.

Nach jahrelanger Krebserkrankung starb 1930 ihr Vater William, woraufhin Nelly Sachs mit ihrer Mutter in eines der eigenen Mietshäuser in der Berliner Lessingstraße zog. Gegen Ende der 1920er Jahre wurden ihre Gedichte in verschiedenen Berliner Zeitungen gedruckt, darunter die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt und die Zeitschrift Die Jugend. Kritik und Publikum erkannten ihre Gedichte gleichermaßen an. Gedichte mit eher experimentellem Charakter und einem die traditionellen Wege verlassenden, schwer verständlichen Stil vernichtete sie hingegen.

Sachs und ihre Mutter lebten in den 1930er Jahren in Berlin so unauffällig und zurückgezogen, wie das für Juden möglich war. Wiederholt wurde sie zu Gestapo-Verhören einbestellt; die Wohnung wurde von SA-Leuten geplündert. Gezwungenermaßen setzte sie sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinander; sie bekam zu Beginn des Krieges Martin Bubers Erzählungen der Chassidim zu lesen und fand darin vertrautes mystisches Gedankengut wieder, das ihr Kraft gab.

Erst spät entschloss sich Sachs, mit ihrer Mutter aus Deutschland zu fliehen. Ihre „arische“ Freundin Gudrun Harlan reiste im Sommer 1939 nach Schweden, um Hilfe von Selma Lagerlöf für ein schwedisches Visum zu erbitten. Diese jedoch konnte ihr wegen ihres Gesundheitszustandes nicht mehr helfen; sie starb, bevor Sachs in Schweden eintraf. Harlan wandte sich an den „Malerprinzen“ Eugen, einen Bruder des schwedischen Königs, der sie schließlich unterstützte. Nach monatelangen bürokratischen Hemmnissen konnten Nelly Sachs und ihre Mutter im Mai 1940 buchstäblich im letzten Moment – der Befehl für den Abtransport in ein Lager war bereits eingetroffen – mit einem Flugzeug Deutschland Richtung Stockholm verlassen.

In Schweden lebten die beiden Frauen in ärmlichen Verhältnissen in einer Einzimmerwohnung im Süden Stockholms; Nelly Sachs kümmerte sich um ihre alte Mutter und arbeitete zeitweise als Wäscherin, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Sie begann Schwedisch zu lernen und moderne schwedische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen. Ihre eigene Poesie während der Kriegsjahre entwickelte sich völlig weg von der frühen, romantischen Nelly Sachs: die Gedichte von 1943/1944, die später in der Sammlung In den Wohnungen des Todes erscheinen sollten, enthalten Bilder von Schmerz und Tod, sind eine einzige Todesklage für ihr gequältes Volk. Neben den Gedichten entstanden in den 1940er Jahren die zwei Dramen Eli und Abram im Salz.

In der Nachkriegszeit schrieb Nelly Sachs weiterhin mit einer hochemotionalen, herben, aber dennoch zarten Sprache über das Grauen des Holocaust. Ihr Biograph Walter Arthur Berendsohn nannte die Gedichte 1946 „klagend, anklagend und verklärend“:

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?
O die Schornsteine, in: In den Wohnungen des Todes, 1947

Die beiden Bände In den Wohnungen des Todes und Sternenverdunkelung (1949) wurden zunächst in Ost-Berlin auf Betreiben Johannes R. Bechers veröffentlicht; weder in der Schweiz noch in dem westlichen Zonen wurden Gedichte von Nelly Sachs gedruckt. Auch 1949 noch wurde der zweite Gedichtband Sternenverdunkelung, in Amsterdam verlegt, von der Kritik zwar gelobt, in der jungen Bundesrepublik jedoch kaum gelesen. In der DDR-Zeitschrift Sinn und Form erschienen einige ihrer Texte. Die finanzielle Misere für Sachs und ihre Mutter hielt an, weiterhin hielt sie sich mit Übersetzungen über Wasser.

Anfang 1950 starb Nelly Sachs' Mutter, was sie psychisch schwer traf. In den 1950er Jahren begann sie eine Korrespondenz mit Paul Celan, den sie 1960 auch in Paris besuchte. Erst 1953 erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Gegen Ende des Jahrzehnts, nach Jahren der Isolation, wurde sie schließlich auch im gesamten deutschsprachigen Raum zur Kenntnis genommen. Und niemand weiß weiter und Flucht und Verwandlung, Gedichtband mit Einflüssen des französischen Surrealismus erschienen 1957 und 1959 in Hamburg, München und Stuttgart. Das Mysterienspiel Eli wurde 1959 als Hörspiel beim Südwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlt. Nelly Sachs wurde von der jungen Literaturwelt der Bundesrepublik „entdeckt“.

Ein erster Literaturpreis aus Deutschland, der Lyrikpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie, wurde ihr 1959 noch in Abwesenheit verliehen. Nelly Sachs wollte nicht zurück nach Deutschland, zu groß war immer noch die Angst. Auch zeigten sich Anzeichen einer psychischen Krankheit, und nachdem sie 1960 zur Verleihung des Meersburger Droste-Preis für Dichterinnen das erste Mal seit zwanzig Jahren Deutschland betreten hatte, brach sie nach ihrer Rückkehr nach Schweden zusammen. Insgesamt verbrachte sie drei Jahre in einer Nervenheilanstalt bei Stockholm.

Die Stadt Dortmund stiftete 1961 den Nelly-Sachs-Preis und verlieh ihn der Namensgeberin; als erste Frau erhielt sie 1965 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, was sie erneut zu einer Reise nach Deutschland veranlasste.

An ihrem 75. Geburtstag, am 10. Dezember 1966, erhielt Nelly Sachs den Literaturnobelpreis aus der Hand des schwedischen Königs. Ihre kurze Dankesrede hielt sie auf Deutsch, dabei zitierte sie ein eigens für diese Zeremonie geschriebenes Gedicht, in dem es heißt:

An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt

Nelly Sachs verschenkte ihr Preisgeld an Bedürftige, die Hälfte ging an ihre alte Freundin Gudrun Harlan. Sie selbst zog sich in ihren letzten Jahren wieder von der Öffentlichkeit zurück. Zu dem psychischen Leiden und einem weiteren Aufenthalt in der Nervenklinik kam eine Krebserkrankung, an der sie am 12. Mai 1970 in einem Stockholmer Krankenhaus starb. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof von Norra begravningsplatsen im Norden von Stockholm beigesetzt.

Sonstiges

Berliner Gedenktafel in Berlin-Hansaviertel (Lessingstr. 5, vor der Hansaschule)

Wolfgang Rihm vertonte in seinem Werk „Memoria – drei Requiembruchstücke“ zwei Gedichte von Nelly Sachs. Das Werk wurde anlässlich der Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Berlin uraufgeführt. Nach ihr wurde − schon vor der Verleihung des Literaturnobelpreises – das Nelly-Sachs-Gymnasium in Neuss benannt.

Werke

Sammel- und Werkausgaben

  • In den Wohnungen des Todes 1947
  • Die Leiden Israels 1951
  • Fahrt ins Staublose. Die Gedichte, Band 1 1961. Daraus das Gedicht "Chor der Geretteten" in: Andreas Lixl-Purcell (Hg): Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900 - 1990 RUB 1423, Reclam Lpz. 1992 und öfter ISBN 3-379-01423-0 S. 380f.
  • Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen 1962
  • Ausgewählte Gedichte 1963
  • Landschaft aus Schreien 1966
  • Teile dich Nacht, Gedichte 1971
  • Gedichte 1977
  • Suche nach Lebenden. Die Gedichte, Band 2 1979
  • Frühe Gedichte und Prosa 1983

Briefe

  • Ruth Dinesen & Helmut Müssener (Hrsg.): Briefe der Nelly Sachs Suhrkamp, Frankfurt 1984
  • Karl Schwedhelm: Nelly Sachs. Briefwechsel und Dokumente Rimbaud, Aachen 1998 ISBN 3-89086-856-8

Literatur

  • Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs: Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals Mit einem Prosatext "Leben unter Bedrohung", einer Auswahl von 30 Briefen aus den Jahren 1946-1958 und einem Bericht über die Nelly-Sachs-Sammlung in Dortmund / kommentiert von Manfred Schlösser. Agora, Darmstadt 1974 ISBN 3-87008-046-9
  • Gabriele Fritsch-Vivié: Nelly Sachs Monographie; Rowohlt, Reinbek, 3. Auflage 2001 ISBN 3-499-50496-0
  • Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie Suhrkamp, Frankfurt 1992 ISBN 3-518-40426-1
  • Petra Oelker: Und doch, am Ende steht wieder das Licht, wenn auch noch so fern in: Charlotte Kerner: Nicht nur Madame Curie. Frauen, die den Nobelpreis bekamen Beltz, Weinheim 1999 ISBN 3-407-80862-3
  • Gertraude Wilhelm (Hrsg): Die Literaturpreisträger – Ein Panorama der Weltliteratur im 20. Jahrhundert Econ, Düsseldorf, 1983 ISBN 3-612-10017-3
  • Gerald Sommerer: "Aber dies ist nichts für Deutschland, das weiß und fühle ich." - Nelly Sachs - Untersuchungen zu ihrem szenischen Werk, Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, ISBN 978-3-8260-3860-0

Weblinks