Die Orthotropie (von griechischορθόςorthos „korrekt, senkrecht, gerade stehend“ und τρόποςtropos „Weg, Art und Weise“) ist eine spezielle Art der Richtungsabhängigkeit eines Materials. Orthotrope Materialien wie im Bild haben die folgenden Eigenschaften:
Das Kraft-Verformungs-Verhalten ändert sich nicht, wenn man das Material um 180 Grad um bestimmte, aufeinander senkrecht stehende Achsen dreht, die man Orthotropieachsen nennt.
Im Bezugssystem parallel zu den Orthotropieachsen gibt es keine Kopplung zwischen Normaldehnungen und Schubverzerrungen.
Ein linear elastisches orthotropes Material besitzt maximal neun Materialparameter.
Den speziellen Fall, dass ein Material (an einem Teilchen) unabhängig von der Belastungsrichtung jeweils dasselbe Kraft-Verformungs-Verhalten zeigt, bezeichnet man als Isotropie. Den allgemeinen Fall, dass das Kraft-Verformungs-Verhalten von der Belastungsrichtung abhängt, bezeichnet man dagegen als Anisotropie. Die Orthotropie ist ein Spezialfall der Anisotropie und enthält ihrerseits die transversale Isotropie und Isotropie als Sonderfälle.
Viele Konstruktionswerkstoffe sind orthotrop, z. B. technisches Holz, Gewebe, viele Faser-Kunststoff-Verbunde und Walzbleche mit Textur.
Die Richtungsabhängigkeit eines Materials zeichnet sich dadurch aus, dass das Kraft-Verformungs-Verhalten unabhängig (invariant) ist gegenüber nur bestimmten Drehungen des Materials: Bei der Orthotropie sind dies alle 180-Grad-Drehungen um die Orthotropieachsen. Diese Drehungen bilden die Symmetriegruppe des orthotropen Materials[1].
Die Invarianz gegenüber diesen Drehungen des Materials veranschaulichen zwei Experimente an einem Teilchen: Im ersten Experiment bringt man am Teilchen eine bestimmte Kraft auf und misst die resultierende Verformung. Im zweiten Experiment dreht man das Material zunächst nacheinander um beliebige Orthotropieachsen – und zwar jeweils um 180 Grad. Dann bringt man dieselbe Kraft auf wie im ersten Experiment und misst erneut die Verformung. Bei orthotropem Material wird man im zweiten Experiment dieselbe Verformung messen wie im ersten. Und zwar auch bei nicht-linear elastischem Materialverhalten.
Die Abhängigkeit von den Drehungen des Materials erkennt man, wenn man im zweiten Experiment um einen anderen Winkel als 180 Grad dreht. Wenn nicht der Spezialfall transversale Isotropie oder Isotropie vorliegt, wird man nun immer eine andere Verformung messen als im ersten Experiment.
Orthotropie in der Linearen Elastizitätstheorie
Gegeben sind zwei Tensoren zweiter Stufe und mit 3×3-Koeffizienten bzw. . Der allgemeinste lineare Zusammenhang, den es zwischen diesen Koeffizienten gibt, ist:
.
Darin sind 81 Koeffizienten mit denen die neun Komponenten auf neun Komponenten abgebildet werden. In der linearen Elastizitätstheorie, in der der symmetrische Spannungstensor und der symmetrische Verzerrungstensor ist, reduziert sich die Anzahl der unabhängigen Tensor-Komponenten auf sechs, so dass nur 36 Koeffizienten unabhängig sind. Diesen Zusammenhang zwischen Spannungen und Verzerrungen kann man nun in Voigt’scher Notation auch als Matrizengleichung schreiben:
.
Die Matrix mit den 36 unabhängigen Komponenten repräsentiert den Elastizitätstensor des Materials. Im Fall der Hyperelastizität ist diese Matrix symmetrisch, so dass dann nur noch 21 Einträge unabhängig sind.
Elastizitätsgesetz für 3D
Ein Material ist linear elastisch orthotrop, wenn eine Orthonormalbasis existiert, so dass das Elastizitätsgesetz dargestellt in Bezug auf diese Basis folgende Form (mit nur zwölf unabhängigen Einträgen) annimmt:
Die Dimension der Elastizitätsmoduln und Schubmoduln ist Kraft pro Fläche während die Querkontraktionszahlen dimensionslos sind. Die Querkontraktionszahlen beschreiben, wie sich eine entlang einer Richtung – z. B. der 1-Richtung – gezogene Materialprobe quer dazu – z. B. in 2-Richtung – kontrahiert. Die entsprechende Querkontraktionszahl wäre dann . Die Normaldehnung in i-Richtung wird mit bezeichnet. Dann ist für beliebige Werkstoffe die Querkontraktionszahl das negative Verhältnis der Normaldehnung in j-Richtung (Wirkung) zu derjenigen in i-Richtung bei Zug in i-Richtung (Ursache):
Die Matrix S ist die Nachgiebigkeitsmatrix des Materials.
Materialparameter
Die zwölf in der obigen Nachgiebigkeitsmatrix vorkommenden Kennwerte ergeben sich bei orthotroper linearer Elastizität aus nur neun Materialparametern, die in Versuchen an makroskopischen Proben ermittelt werden können:
Für den Ebenen Spannungszustand (σ₃₃=0,σ₁₃=0,σ₂₃=0) lautet das oben angegebene lineare orthotrope Elastizitätsgesetz:
wobei gilt:
so dass es in der linearen orthotropen Elastizität für den Ebenen Spannungszustand sechs Materialparameter gibt, wenn nur an den Verzerrungen in der Ebene interessiert ist sind es nur mehr vier Materialparameter.
Ebener Verzerrungszustand
Hier sind die Verzerrungen ausschließlich in der Ebene, jedoch gibt es auch Spannungen aus der Ebene.
mit
Stabilitätskriterien
Die Materialparameter können nicht beliebig gewählt werden, sondern müssen gewissen Stabilitätskriterien genügen. Diese folgen aus der Forderung, dass die Steifigkeits- und Nachgiebigkeitsmatrizen positiv definit sein müssen. Dies führt auf die Bedingungen:
Alle Diagonalelemente der Steifigkeits- und Nachgiebigkeitsmatrix müssen positiv sein (damit sich das Material in Zugrichtung streckt, wenn man daran zieht, und nicht staucht) und
die Determinante der Steifigkeits- und Nachgiebigkeitsmatrix muss positiv sein (damit es unter Druck komprimiert und nicht expandiert).
Werden an einem realen Werkstoff Materialparameter identifiziert, die diesen Stabilitätskriterien widersprechen, ist Vorsicht geboten. Die Stabilitätskriterien lauten:[2]
Wenn die linke Seite der letzten Ungleichung gegen null geht, setzt das Material einer hydrostatischen Kompression zunehmend Widerstand entgegen. Aus der Symmetrie der Nachgiebigkeitsmatrix folgt ergänzend:
Gründe für die Besetztheit der Steifigkeitsmatrix
In diesem Abschnitt wird die Frage geklärt, warum die Steifigkeitsmatrix nur an den entsprechenden Stellen besetzt ist. Im Allgemeinen tauchen in einem linearen Materialgesetz 21 unabhängige Materialkonstanten auf (siehe Voigt’sche Notation). Im Fall der Orthotropie reduziert sich aber die Zahl der Konstanten auf 9. Warum das so ist, ist nachfolgend dargestellt.
Drehmatrizen bei 180-Grad-Drehungen
Die (linearen) Abbildungen, die 180-Grad-Drehungen um die
Orthotropieachsen beschreiben, lassen sich mit Matrizen beschreiben.
Wählt man als Bezug eine Basis, deren Basisvektoren sich mit den
senkrecht aufeinanderstehenden Drehachsen decken, dann haben diese
orthogonalen Matrizen folgende Gestalt
Diese 3 Matrizen (und zusätzlich die Einheitsmatrix) bilden eine
Untergruppe von der Drehgruppe SO(3).
Symmetriebedingung in Indexschreibweise und Voigt’scher Notation
Gedankenexperiment: Ein Teilchen und dessen Umgebung wird einer bestimmten Deformation unterzogen und damit einem bestimmten Verzerrungstensor . Im einfachsten Fall (der allerdings zur Definition der Orthotropie nicht ausreichend allgemein ist) könnte das Teilchen nur in einer bestimmten Richtung gestreckt werden. Nun ändert man die Streckungsrichtung aktiv. Das heißt, man lässt den materiellen Punkt wie er ist (dreht also das Material nicht) und unterzieht den Punkt aber (derselben) Streckung in anderer Richtung. Man gelangt damit zu einem anderen Verzerrungstensor .
Die Änderung der Verzerrungsrichtung kann mit einer Drehmatrix beschrieben werden. Es gilt
Mithilfe eines linearen Materialgesetzes lässt sich für gegebenen Verzerrungstensor der zugehörige Spannungstensor ermitteln. Es sei
Im allgemeinen Fall der Anisotropie gilt zwar nicht
Aber genau dies fordert man für die oben beschriebene Teilmenge von SO(3) im Fall der Orthotropie: Ein Material heißt orthotrop, wenn für die Funktion folgende Symmetrietransformation für jede der oben genannten (orthogonalen) Drehmatrizen und für beliebige Verzerrungen gilt
In Indexschreibweise
Nun dieselbe Bedingung in Voigt’scher Notation: Mit der Definition
gilt
Mit der neuen Definition
ergibt sich
In Voigt’scher Notation erhält man also als Symmetriebedingung
Und da dies für beliebige Dehnungen gelten muss, ist die Symmetriebedingung
Spezialfall 180-Grad-Drehungen
Da im Spezialfall der Orthotropie die 3×3-Matrizen Matrizen nur auf
der Hauptdiagonalen besetzt sind, vereinfachen sich die Definitionen
von oben zu
Die drei 3×3-Matrizen entsprechen also den drei 6x6-Matrizen
Auswertung der Symmetriebedingungen für den Spezialfall
Die Symmetriebedingung ausgewertet für diese Matrizen ergibt
An den letzten 3 Gleichungen erkennt man, dass nur folgende Gestalt haben kann
Da diese Voigt’sche Steifigkeitsmatrix außerdem symmetrisch ist (siehe
Voigt’sche Notation), bleibt
Zusammenfassung
Die Orthotropie in der linearen Elastizitätstheorie lässt sich definieren als ein Spezialfall der Anisotropie, bei dem die Steifigkeits- oder Nachgiebigkeitsmatrix eine besonders einfache Form annimmt (9 Konstanten anstelle von 21 Konstanten im allgemeinen Fall).
Neben der Orthotropie gibt es noch andere Spezialfälle der Anisotropie, z. B. Transversalisotropie, Isotropie etc. Hierbei werden dieselben Symmetriebedingungen angegeben. Nur werden dann andere Untergruppen der Drehgruppe (also andere Matrizen ) betrachtet.
An der Form des elastischen Gesetzes erkennt man, dass die Kopplung zwischen Zug und Schub für Belastung entlang der Orthotropierichtungen entfällt.
H. Altenbach, J. Altenbach, R. Rikards: Einführung in die Mechanik der Laminat- und Sandwichtragwerke. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Stuttgart 1996, ISBN 3-342-00681-1.
P. Haupt: Continuum Mechanics and Theory of Materials. Springer, 2000, ISBN 3-540-66114-X.
H. Altenbach: Kontinuumsmechanik: Einführung in die materialunabhängigen und materialabhängigen Gleichungen. Springer, 2012. ISBN 3-642-24119-0.