Johann Jakob Guggenbühl

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Johann Jakob Guggenbühl etwa Anfang der 1850er Jahre mit einigen der von ihm betreuten Kinder (Abbildung aus: J. Guggenbühl: Die Cretinen-Heilanstalt auf dem Abend-Berg in der Schweiz, Ct. Bern, Bern und St. Gallen, 1853)

Johann Jakob Guggenbühl, auch Johann Jacob Guggenbühl (* 13. August 1816 in Meilen, Kanton Zürich; † 2. Februar 1863 in Montreux, Kanton Waadt) war ein schweizerischer Arzt und Vorreiter der modernen Behindertenhilfe. Er war überzeugt davon, dass Kretinismus heilbar sei und gründete im Jahr 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken mit der „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“ eine der ersten Einrichtungen für geistig behinderte junge Menschen, die mit wissenschaftlich-medizinischem und pädagogisch-therapeutischem Betreuungsansatz über die bis dahin üblichen konzeptionslosen Verwahranstalten hinausging.[1]

Guggenbühls Anspruch, Kretinismus zu heilen, sorgte in medizinischen Fachkreisen seiner Zeit zunächst für eine hohe auch internationale Aufmerksamkeit für seine Arbeit. Auch, wenn er mit diesem Anspruch letztlich scheiterte und seine Anstalt 1860 nach zunehmender Kritik behördlicherseits geschlossen worden war, lieferte er mit seinen Schriften und Erkenntnissen aus der Alltagsarbeit mit den von ihm betreuten Kindern und Jugendlichen über seine Lebenszeit hinausreichende maßgebliche Impulse für die weitere Entwicklung zur heutigen Geistigbehindertenpädagogik.

Leben und Wirken

Johann Jakob Guggenbühl war der Sohn des Landwirts Hans Jakob Guggenbühl und seiner Ehefrau Maria, geb. Hottinger aus der seinerzeit eigenständigen Gemeinde Obermeilen am Zürichsee.

Er studierte zunächst in Zürich, dann in Bern Medizin, wo er im Jahr 1836 promovierte. Im Kanton Glarus eröffnete er zwei Jahre später eine Arztpraxis. Betroffen durch den Kontakt zu einem geistig behinderten (kretinen) Kind, begann er, diese Form der Behinderung zu erforschen und gelangte zur Überzeugung, dass der Kretinismus heilbar sei. Erste Erfahrungen mit neuartigen, zum Teil an den Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi angelehnten pädagogischen Konzepten machte er im landwirtschaftlichen Erziehungsheim von Philipp Emanuel von Fellenberg in Hofwil. In der 1840 erschienen Abhandlung Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus stellte Guggenbühl die Ergebnisse seiner Untersuchungen vor und plädierte an die Öffentlichkeit, sich mit dem Ziel einer Heilung der betroffenen Kinder anzunehmen.

Guggenbühl beschreibt die regionalen klimatischen Bedingungen und die schlechten Hygiene-Zustände in den Dörfern als Ursachen für den Kretinismus:[2]

„Kein frisches Lüftchen durchstreicht die Gemächer, der gräßlichste Gestank ist den Leuten ein wahrer Lebensbalsam; kein Sonnenstrahl kann sie erleuchten, da die ohnedies kleinen Fenster vor Schmutz ganz undurchsichtig und obendrein meist mit Papier verklebt sind. Die Stuben sind so feucht, das Cryptogamen an den Wänden gedeihn, dazu mit unsaubern Kleidern und was sonst noch stinkt behangen, so dass ein Gifthauch den Raum erfüllt, der mich […] mehrfach zum Erbrechen reizte. […] Nach der Geburt werden die Kinder in die Wiege eingebunden, bleiben Tage lang auf ihrem Unflath liegen; in eine Kammer eingeschlossen, ganz isoliert und sich selbst überlassen, bis die Arbeit vollbracht ist.“

Er entwickelte ein umfassendes Konzept zur Behandlung des Kretinismus, das unter anderem gesunde Ernährung, frische Höhenluft, Bewegungstherapie sowie spezielle pädagogische Förderung einschließlich Beschulung vorsah. Mit diesem Konzept eröffnete er im Jahr 1841 eine „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“ auf einem Gehöft in der Nähe von Interlaken.

Obwohl in Fachkreisen die Untersuchungen und die Arbeit Guggenbühls zu seinen Lebzeiten über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannt und beachtet wurden, und bald auch Behinderte aus anderen europäischen Ländern in seine Einrichtung einzogen, blieb ihm die Anerkennung durch die örtlichen Behörden auf längere Sicht verwehrt. Zudem stellte sich heraus, dass Guggenbühls Anspruch und Versprechen, den Kretinismus zu heilen, zu hoch gegriffen war, weswegen die Umstrittenheit seiner Thesen auch in Wissenschaftskreisen zunahm. Die Kritik reichte teilweise bis hin zum Vorwurf der Scharlatanerie. Ein letzter Anlass für die 1860 erfolgende Schließung seiner Heilanstalt durch die Berner Regierung war die Ersetzung der katholischen Haushälterinnen durch protestantische Diakonissen.

Auch wenn Johann Jakob Guggenbühl mit seinem Vorhaben, Kretinismus zu heilen, letztlich gescheitert war, so war seine Arbeit dennoch impulsgebend für neue Formen der Behindertenhilfe und der Geistigbehindertenpädagogik, die in anderen Einrichtungen aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, so beispielsweise durch den deutschen Arzt Carl Heinrich Rösch, einem der ersten, der sich Guggenbühls Heilanstalt zum Vorbild nahm und 1847 die Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg im Königreich Württemberg gegründet hatte, die noch heute unter dem Namen Mariaberg e.V. existiert und sich – mit inzwischen erweiterten stationären als auch ambulanten Angeboten und weiterentwickelter Konzeption – zu einem der größten Dienstleister der Jugend- und Behindertenhilfe im Landkreis Sigmaringen, Baden-Württemberg entwickelt hat.[3] Auch der römisch-katholische Pfarrer Joseph Probst, der die Kretinenanstalt Ecksberg in Bayern ins Leben gerufen hatte, ließ sich von den Ideen Guggenbühls inspirieren, was die Therapie der kretinen Kinder anbelangte. Guggenbühls Ratschlag allerdings, dass Probst Ordensfrauen als Pflegekräfte im Ecksberg einsetzen möge, wurde von Probst nicht befolgt.

Schriften (Auswahl)

  • Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus. In: Maltens Bibliothek der neuesten Weltkunde. Band 1, Aarau 1840, S. 191 ff. (online)
  • Briefe über den Abendberg und die Heilanstalt für Cretinismus, 1846
  • Die Heilung und Verhütung des Cretinismus und ihre neuesten Fortschritte, 1853

Literatur

  • Carl Heinrich Rösch: Die Stiftung für Kretinenkinder auf dem Abendberge bei Interlachen in der Schweiz. Ebner & Seubert, Stuttgart 1842 (Digitalisat).
  • Guggenbühl. In: Heinrich August Pierer: Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit. Band 7, Altenburg 1859, S. 759
  • Karl Alther: Dr. Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) und die Anfänge der schweizerischen Idiotenfürsorge / mit Rücksicht auf die V. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen. Zollikofer, St. Gallen, 1905
  • Hermann Rengger: Dr. med. Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863), der Begründer der ersten Heilanstalt für Kretinen, und seine Anschauungen über den Kretinismus. H. A. Gutzwiller A.-G., Zürich 1927
  • L. Kanner: Johann Jakob Guggenbühl and the Abendberg (englisch). In: Bulletin of the History of Medicine. Band 32, 1959, S. 489–502
  • Heinz Balmer: Guggenbühl, Johann Jakob. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin 1966, ISBN 3-428-00188-5, S. 294 f. (Digitalisat).
  • Rolf Streuli: Johann Jakob Guggenbühl und die Kretinenheilanstalt auf dem Abendberg bei Interlaken. 1973
  • Horst Isermann: The Swiss Physician Johann Jabob von Guggenbühl (1816—1863): A Pioneer in the Care for Mentally Retarded People? In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (Band 13). Königshausen und Neumann, Würzburg 2007

Einzelbelege

  1. siehe unter Geschichte der Sonderpädagogik (www.sonderpaed-online.de)
  2. Johann Jakon Guggenbühl: Hülfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Cretinismus. In: Maltens Bibliothek der neuesten Weltkunde. Band 1, Aarau 1840, S. 191 ff. (online)
  3. zum kontextuellen Überblick von Guggenbühls Wirkung und Scheitern vgl. Thomas Hoffmann: Arbeit und Entwicklung: Zur Institutionalisierung geistiger Behinderung im 19. Jahrhundert (PDF) Online-Auszug aus: Günther Cloerkes/Jörg-Michael Kastl, (Hrsg.): Leben und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen, Verlag Winter, Heidelberg 2007, S. 107