Juristenprozess

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Der Nürnberger Juristenprozess fand vom 17. Februar 1947 bis zum 14. Dezember 1947 als dritter der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus im Nürnberger Justizpalast vor einem amerikanischen Militärgericht statt. Offiziell wurde das Verfahren als Vereinigte Staaten vs. Josef Altstötter et al. bezeichnet. Angeklagt waren 16 hohe Justizbeamte und Richter des NS-Regimes.

Die prominentesten Akteure der NS-Justiz lebten 1947 allerdings nicht mehr. Reichsjustizminister Franz Gürtner war im Januar 1941 verstorben, der Staatssekretär im Reichsjustizministerium und spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler im Februar 1945 bei einem alliierten Luftangriff ums Leben gekommen. Reichsjustizminister Otto Thierack hatte ebenso Suizid begangen wie der Präsident des Reichsgerichts Erwin Bumke. Der „Reichsrechtsführer“ und spätere Generalgouverneur für die besetzten Gebiete Polens Hans Frank war bereits 1946 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.

Gegenstand des Juristenprozesses waren der Erlass und der Vollzug der NS-Terrorgesetze, namentlich solcher, die sich auf die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebiete bezogen. Es wurden nur solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, die in Verbindung mit diesem verbrecherischen Angriffskrieg standen, also nicht das Geschehen zwischen 1933 und 1939.[1] Verhandlungsgegenstand waren etwa die Volksschädlingsverordnung vom 5. September 1939, die Polenstrafrechtsverordnung vom 4. Dezember 1941 oder der Nacht-und-Nebel-Erlass vom 7. Dezember 1941, mit denen insbesondere die Sondergerichte durch Verhängung zahlreicher Todesurteile dem verbrecherischen Kriegsziel der Ermordung aller ideologisch missliebigen Personen (politische Gegner, Juden, Zigeuner, Polen, Russen und Ukrainer, „Gewohnheitsverbrecher“ und sonstige „asoziale Elemente“) gedient hatten.

Die Urteile wurden am 3. und 4. Dezember 1947 verkündet. Vier Angeklagte wurden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, vier weitere wurden freigesprochen. Im Übrigen verhängte das Gericht Freiheitsstrafen von fünf bis zehn Jahren Zuchthaus. Im Gegensatz zu dem Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof und zu anderen Folgeprozessen wurden keine Todesurteile verhängt. Das Urteil wurde vielfach als zu mild empfunden.

Der Juristenprozess in Nürnberg

Anklage und Rechtsgrundlagen

Basis der Anklage bildete das Kontrollratsgesetz Nr. 10, welches die Rechtszuständigkeit für diesen Prozess mit Anordnung Nr. 7 der Militärregierung dem Militärgerichtshof Nr. 1 in Nürnberg zuwies und aus dem folgende vier Anklagepunkte abgeleitet wurden:

Die Anklagepunkte I bis III richteten sich gegen alle Angeklagten, der Anklagepunkt IV nur gegen einzelne Beschuldigte. Kern der Anklage war „das NS-Rechtswesen als kriminelles Institut“. Nicht Exzeßtäter wurden angeklagt, sondern jene, die als Beamte des Justizministeriums die verbrecherischen Gesetze entworfen und mitgestaltet oder als Staatsanwälte oder Richter am Volksgerichtshof und den Sondergerichten vollzogen hatten und damit den NS-Unrechtsstaat verkörperten. Angeklagt waren jene 'Juristen, die den Dolch unter dem Talar getragen hatten'.[2] Ankläger war Telford Taylor, der auch die Anklageschrift vom 4. Januar 1947 verfasst hatte. Auf Antrag der Verteidigung und nach Prüfung der Rechtsgrundlage erfolgte ein Gerichtsbeschluss, den Anklagepunkt der Verschwörung nicht eigenständig zu verhandeln.

Das Gericht

Richter

Das Gericht setzte sich aus vier amerikanischen Richtern zusammen:

Nachdem Marshall aufgrund seines gesundheitlichen Zustands aus dem Verfahren ausscheiden musste, wurde Brand zum Vorsitzenden Richter bestimmt und Harding rückte vom stellvertretenden Richter zum Richter auf.

Urteile

Angeklagter Rang Funktion Schuldig nach Anklagepunkt Urteil
Josef Altstötter

* 1892; † 1979
SS-Oberführer Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung für bürgerliches Recht im Reichsjustizministerium (RMJ) IV 5 Jahre – 1950 aus der Haft entlassen
Wilhelm von Ammon

* 1903; † 1992
Ministerialrat für die Strafrechtspflege im RMJ II, III 10 Jahre – Januar 1951 begnadigt
Paul Barnickel

* 1885; † 1966
Reichsanwalt am Volksgerichtshof Freispruch
Hermann Cuhorst

* 1899; † 1991
Senatspräsident und Vorsitzender am Sondergericht Stuttgart Freispruch
Karl Engert

* 1877; † 1951
SS-Oberführer Ministerialdirektor im RMJ, Vizepräsident des Volksgerichtshofes wegen Krankheit aus dem Verfahren ausgeschieden
Günther Joel

* 1903; † 1978
SS-Obersturmbannführer Ministerialrat im RMJ, danach Generalstaatsanwalt in Hamm II, III, IV 10 Jahre – Januar 1951 begnadigt
Herbert Klemm

* 1903; † 1957
Staatssekretär im RMJ II, III lebenslang – herabgesetzt auf 20 Jahre und Februar 1957 aus der Haft entlassen
Ernst Lautz

* 1887; † 1979
Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof II, III 10 Jahre – Januar 1951 begnadigt
Wolfgang Mettgenberg

* 1882; † 1950
Ministerialdirigent für Strafrechtspflege im RMJ mit besonderem Aufgabenbereich besetzte Gebiete II, III 10 Jahre – 1950 verstorben
Günther Nebelung

* 1896; † 1970
Präsident des IV. Senats des Volksgerichtshofes Freispruch
Rudolf Oeschey

* 1903; † 1980
Gauhauptstellenleiter des Rechtsamtes der NSDAP Landgerichtsrat beim Sondergericht Nürnberg III, IV lebenslang, 1951 auf 20 Jahre herabgesetzt, Mai 1955 aus der Haft entlassen
Hans Petersen

* 1885; † 1963
Laienrichter des I. Senats des Volksgerichtshofes Freispruch
Oswald Rothaug

* 1897; † 1967
Vorsitzender des Sondergerichts Nürnberg, zuletzt Reichsanwalt beim Volksgerichtshof III lebenslanges Zuchthaus, herabgesetzt auf 20 Jahre und im Dezember 1956 aus der Haft entlassen
Curt Rothenberger

* 1896; † 1959
Oberlandesgerichtspräsident in Hamburg, danach Staatssekretär im RMJ II, III 7 Jahre Zuchthaus, August 1950 aus der Haft entlassen
Franz Schlegelberger

* 1876; † 1970
Staatssekretär im RMJ und zeitweiliger stellvertretender Reichsjustizminister I, III lebenslanges Zuchthaus, Januar 1951 wegen Haftunfähigkeit begnadigt

Carl Westphal
* 1902; † um 1946
Ministerialrat im RMJ Suizid vor Verhandlungsbeginn

Die Urteilsbegründung

In der Begründung des Urteils[3] setzte sich das Gericht unter anderem eingehend mit dem Argument der Verteidigung auseinander, die Angeklagten könnten nicht für Taten verurteilt werden, die zur Tatzeit nicht strafbar gewesen seien, weshalb ihnen das Unrechtsbewusstsein gefehlt habe.[4] Diese Einwände verwarf das Gericht aber unter Hinweis auf allgemein anerkannte, auch ungeschriebene Regeln des Völkerrechts, die bereits zur Tatzeit Geltung beansprucht hätten sowie die Notwendigkeit eines Urteils der zivilisierten Welt über das „drakonische, korrupte und verderbte nationalsozialistische Rechtssystem“.

In dem 250 Druckseiten umfassenden Urteil heißt es als Begründung:

„Einfacher Mord oder Einzelfälle von Greueltaten bilden nicht den Anknüpfungspunkt für die Beschuldigung. Die Angeklagten sind solcher unermesslichen Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit und der Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts unter der Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Richters verborgen.“[5]

Strafvollstreckung

Am 31. Januar 1951 entschied der amerikanische Hohe Kommissar John Jay McCloy nach Empfehlung eines beratenden Ausschusses, den Gnadengesuchen der in der Justizvollzugsanstalt Landsberg Inhaftierten Günther Joel, Ernst Lautz, Wilhelm von Ammon und Franz Schlegelberger stattzugeben und diese aus der Haft zu entlassen. Außerdem wurde die Strafe von Herbert Klemm, Rudolf Oeschey und Oswald Rothaug von lebenslänglich auf 20 Jahre herabgesetzt.

Einige der Angeklagten, z. B. Lautz, Rothenberger und Schlegelberger[6], erhielten in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten Pensionszahlungen. Der Name Schlegelberger erschien noch lange als Begründer eines Kommentars zum Handelsgesetzbuch und anderer juristischer Werke, so z. B. Das Recht der Gegenwart (ISBN 3-8006-2859-7).

Rezeption

Das allgemeine Justizamt für die Britische Zone hatte bereits im Jahr 1948 in Hamburg den allgemeinen Teil des Urteils veröffentlicht, während der besondere Teil mit den Ausführungen zur Funktionsweise der NS-Justiz und zu den Taten der einzelnen Angeklagten damals „nur für den Dienstgebrauch“ veröffentlicht wurde.

Die Veröffentlichung des Urteils in der DDR im Jahr 1969[7] wurde in Westdeutschland kaum wahrgenommen.[8]

Auch die Ausgabe von Heribert Ostendorf aus dem Jahr 1985[9] enthält nicht den vollständigen Text der deutschen Fassung des Urteils. Dieser wurde erst 1996 von Lore Maria Peschel-Gutzeit vollständig in der amtlichen Übersetzung abgedruckt.[10]

Auf diese Tatsache der fehlenden Dokumentation des Urteils führen manche Autoren, z. B. Telford Taylor – für heutige Juristen und Historiker sei stellvertretend Klaus Bästlein genannt – zurück, dass die deutsche Rechtswissenschaft wegen des vermeintlichen Verstoßes gegen den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ bzw. „nulla poena sine lege“ überwiegend das Urteil ablehnte und sich in der Folgezeit nicht mehr mit dem Urteil befasste.[11]

Verfilmung

Der Juristenprozess war 1961 die Vorlage für den amerikanischen Spielfilm Judgement at Nuremberg, deutsch Das Urteil von Nürnberg mit Spencer Tracy, Burt Lancaster und Maximilian Schell in den Hauptrollen.

Siehe auch

Literatur

Bücher:

  • Manfred Görtemaker, Christoph Safferling (Hrsg.): Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 978-3-525-30046-6.
  • Jörg Friedrich: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt 1984. Erweiterte Neuausgabe, List, Berlin 2007, ISBN 978-3-548-60748-1.
  • Rudolf Wassermann: Fall 3: Der Nürnberger Juristenprozess. in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952 (Fischer-Taschenbücher. Die Zeit des Nationalsozialismus 13589). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 99 ff.
  • Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947 — historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge. Nomos, Baden-Baden 1996, ISBN 978-3-7890-4528-8.
  • Heribert Ostendorf, Heino ter Veen: Das „Nürnberger Juristenurteil“. Eine kommentierte Dokumentation. Campus, Frankfurt am Main/Berlin 1985, ISBN 3-593-33424-0.
  • Zentral-Justizamt für die britische Zone: Das Nürnberger Juristenurteil (Allgemeiner Tei). Herstellung und Vertrieb, Rechts- und staatswissenschaftlicher Verlag, Hamburg 1948.

Zeitschriftenaufsätze:

Weblinks

Commons: Juristenprozess – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rudolf Wassermann: Fall 3: Der Nürnberger Juristenprozess. in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952 (Fischer-Taschenbücher. Die Zeit des Nationalsozialismus 13589). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 103/104.
  2. Rudolf Wassermann: Fall 3: Der Nürnberger Juristenprozess. in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952 (Fischer-Taschenbücher. Die Zeit des Nationalsozialismus 13589). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-13589-3, S. 101.
  3. Das Nürnberger Juristenurteil Militärgerichtshöfe der Vereinigten Staaten, Justizpalast zu Nürnberg, Deutschland. Sitzung des Militärgerichtshofs Nr. III am 3. und 4. Dezember 1947 in Nürnberg, Urteilsbegründung
  4. Urteil in Peschel-Gutzeit, S. 64–66; vgl.: Klaus Bästlein: Der Nürnberger Juristenprozeß und seine Rezeption in Deutschland. In: Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947. 1996, S. 9–35, hier: S. 11 und für die nachfolgende Rezeption in der deutschen Rechtswissenschaft S. 23 ff.
  5. Urteil im Nürnberger Juristenprozess, in: BA, All. Proz. 1, XVII, S1 S. 56.
  6. Hennig von Alten: Recht oder Unrecht? Der Verwaltungsrechtsstreit des Staatssekretärs a. D. Prof. Dr. Dr. h. c. Franz Schlegelberger um seine beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge. Books on Demand, Norderstedt 2013, ISBN 978-3-8391-1582-4.
  7. P. A. Steiniger; K. Leszczyński Hrsg.: Fall 3- Das Urteil im Juristenprozeß. Gefällt am 4. Dezember 1947 vom Militärgerichtshof III der Vereinigten Staaten von Amerika. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin (DDR) 1969.
  8. Joachim Perels: Der Nürnberger Juristenprozess im Kontext der Nachkriegsgeschichte: Ausgrenzung und späte Rezeption eines amerikanischen Urteils. Kritische Justiz 1998, S. 84–98.
  9. Heribert Ostendorf, Heino ter Veen: Das „Nürnberger Juristenurteil“. Eine kommentierte Dokumentation. Campus, Frankfurt am Main/Berlin 1985, ISBN 3-593-33424-0.
  10. Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947 — historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge. Nomos, Baden-Baden 1996, ISBN 978-3-7890-4528-8.
  11. Klaus Bästlein: Das Nürnberger Juristenurteil und seine Rezeption in Deutschland. In: Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947 : historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge, Nomos, Baden-Baden 1996, ISBN 978-3-7890-4528-8, S. 26.