Straße der Toleranz (Hannover)

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Die Straße der Toleranz in Hannover[1][2][3][4][5][6][7][8][9][10] bezeichnete ein Ensemble von Sakralbauten verschiedener Glaubensgemeinschaften, das sich zwischen 1870 und 1938, sichtbar wie an einer Kette aufgereiht, quer durch die Calenberger Neustadt zog: die katholische St.-Clemens-Kirche, die jüdische Neue Synagoge[11], die evangelisch-lutherische Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis sowie die evangelisch-reformierte Kirche.[11] Sie gilt als Beispiel für friedliches Zusammenleben der Glaubensgemeinschaften und Bürger seit 1827.[3]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ursprung der „Straße der Toleranz“ weist in die Reformationszeit zurück. 1588 legte ein Religionsedikt fest, dass innerhalb der Mauern Hannovers nur Lutheraner leben durften.[12] Katholiken, Juden und offenbar auch evangelische Täufer und Reformierte zogen in die damals selbständige „Neustadt vor Hannover“. Mit herzoglicher Unterstützung konnten sie Gotteshäuser errichten. 1670 wurde die evangelisch-lutherische Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, 1705 die Reformierte Kirche und 1718 die katholische St. Clemenskirche fertiggestellt.[12]

Die Juden hatten bereits Ende des 16. Jahrhunderts ein Gebetshaus in der Neustadt, das jedoch 1593 auf Veranlassung des Herzogs Heinrich Julius „destruiert und abgeschafft“ worden war. Sie selber waren aus der Neustadt vertrieben, ihr Besitz war vom Herzog „der Kirche gnädiglich zugeeignet“ worden.[13] 1608 durften sie zurückkehren und stellten 1609 ihre neue Synagoge fertig.[14] Doch Kirchenführer des Calenberger Landes empörten sich, weil die Juden in der Neustadt erneut einen „Tempel“ errichtet hätten. Der Ronnenberger evangelische Superintendent Wichmann Schulrabe, zu dessen lutherischem Sprengel die Neustadt vor Hannover gehörte, protestierte im Februar 1613 schriftlich beim Konsistorium in Wolfenbüttel.[13] Dabei berief er sich auf den „Kirchenvater“ Ambrosius, der sich im Jahre 388 gegen Kaiser Theodosius I. durchsetzte und verhinderte, dass dieser einen Bischof bestrafte, der die Menge zum Niederbrennen einer Synagoge aufgehetzt hatte.[15] Noch im selben Jahr 1613 ließ der Großvogt zu Calenberg auf fürstlichen Befehl hin auch dieses zweite jüdische Gotteshaus in der Calenberger Neustadt niederreißen.[14] „Längere Zeit hindurch“ hatten die Juden „keinen Ort, in welchem sie gemeinsam Gottesdienst halten“[14] konnten. „Erst im Jahre 1688“ durften sie „im Hause ihres damaligen Vorstehers Levin Goldschmidt“ eine „kleine Synagoge“[14] einrichten, bis 1703 der Hof- und Kammeragent Leffmann Behrens eine neue Synagoge errichten durfte, und zwar an der Stelle, an der die 1613 beseitigte Synagoge gestanden hatte – nämlich abseits der drei christlichen Kirchen und auf einem abgeschiedenen, für die Öffentlichkeit nicht einsehbaren Platz in einer Seitenstraße zwischen der Neustädter Kirche und der St. Clemenskirche.[14] Als die Synagoge nach 120 Jahren baufällig wurde und abgerissen werden musste, durften die Juden erneut an derselben Stelle einen klassizistischen Ziegelbau errichten, der 1827 eingeweiht und später „Alte Synagoge“ genannt wurde.[16]

In den folgenden Jahren wurde die Synagoge für die wachsende Judenschaft Hannovers zu klein. Auf der Grundlage der staatlichen Gesetzgebung, der Religionsfreiheit und der rechtlichen Gleichbehandlung, konnte sie 1870 eine „Neue Synagoge“ einweihen, und zwar in gleichberechtigter Größe und Nachbarschaft zu den drei christlichen Kirchen.[17] Das vierteilige Ensemble, das nun entstanden war, galt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Sinnbild der religiösen Toleranz und gegenseitigen Akzeptanz eines gehobenen Bürgertums, das sich weitgehend ökonomisch, sozial und politisch einig wusste. Das Nebeneinander der Häuser der verschiedenen Glaubensgemeinschaften wurde jedoch nicht dauerhaft und auch nicht in allen Bevölkerungskreisen als Ausdruck religiöser Koexistenz nachvollzogen. In der Reichspogromnacht 1938 wurde die „Neue Synagoge“ von den Nationalsozialisten zerstört.

Kirchen und „Mahnmal Synagoge“[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die drei christlichen Gotteshäuser, die Opfer der Luftangriffe auf Hannover geworden waren[11], wieder aufgebaut. Auf dem überbauten Grundstück der Neuen Synagoge wurde 1958 eine Gedenktafel angebracht. 1978 wurde auf einem zur Roten Reihe gelegenen Eckstück des ehemaligen Synagogenplatzes ein kleines, 1993 erweitertes, „Mahnmal Synagoge“ errichtet[18]. Dort halten die Stadt Hannover und die Region Hannover jährlich am 9. November ein Gedenken zur Erinnerung an die Reichspogromnacht. Die christlichen Gemeinden pflegen auf ihrer „Straße der Toleranz“, die sie auch als „Kirchenmeile“ bezeichnen, enge ökumenische Zusammenarbeit im Sinne „innerchristlicher Toleranz“.[7][19] Im Allgemeinen wird die Straße der Toleranz heute auch als „ein Symbol des Versuches und ein Symbol des Scheiterns“ gemeinschaftlichen Zusammenlebens insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen.[11]

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Annette von Boetticher: Die Calenberger Neustadt in Hannover und ihre Kirchen in der „Straße der Toleranz“, in: Kirchenpädagogik. Zeitschrift des Bundesverbandes Kirchenpädagogik e.V., Ausgabe 1 (2002), S. 26–27;[5] auch als PDF-Dokument
  • Peter Hertel: Die Juden von Ronnenberg. Teil 1: 1700-1933, Hrsg.: Stadt Ronnenberg, Schriften zur Stadtentwicklung, Bd. 4, Ronnenberg 2012.
  • Peter Hertel und Christiane Buddenberg-Hertel: Kirche und Synagoge, in: Die Juden von Ronnenberg – Eine Stadt bekennt sich zu ihrer Vergangenheit, Hrsg.: Region Hannover (Mahn- und Gedenkstätte Ahlem). Hannover 2016, ISBN 978-3-7752-4903-4, S. 22–24.
  • Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9.
  • M.[eir] Wiener: Liepmann Cohen und seine Söhne, Kammeragenten zu Hannover, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, Hrsg.: Oberrabbiner Z.[acharias] Frankel, Jahrgang 13, Heft 5, Breslau 1864, S. 161–184.

Allgemein:

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Andor Izsák, Ingrid Spieckermann: Feuerriss durch die Welt – 70 Jahre nach dem Synagogenbrand. Synagogale Gesänge von Israel Alter, Kantor an der zerstörten Synagoge Hannovers], Programmheft zur Veranstaltung Herbsttage der Jüdischen Musik 2008. Gedenken und Zuversicht auf der Seite der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, Hannover: HMTMH, 2008, S. 8; Herbsttage EZJM.pdf als PDF-Dokument
  2. Christopher Görlich: Reise Know-How CityTrip Hannover, 2. Auflage, Bielefeld: Reise Know-How Verlag Peter Rump, 2017, ISBN 978-3-8317-4866-2, S. 14, 54, 57, 60; Vorschau über Google-Bücher
  3. a b Klaus Mlynek: Calenberger Neustadt, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 106; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  4. Joachim Wolschke-Bulmahn, Sabine Albersmeier (Hrsg.): Herrenhausen – Gärten, Geist und Kunst. Sommerakademie Herrenhausen 2013 ( = Herrenhäuser Schriften, Band 1), 1. Auflage, München: Akademische Verlagsgemeinschaft München, 2014, ISBN 978-3-96091-016-9, S. 50; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  5. a b Thomas Fuchs (Bearb.), Annette von Boetticher, Karin Hartbecke (Mitarb.): Leibniz und seine Bücher. Katalog. Büchersammlungen der Leibnizzeit in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek ( = Schriften, Band 2), Hameln: Niemeyer, 2006, ISBN 978-3-8271-8902-8 und ISBN 3-8271-8902-0, S. 22, 31
  6. o. V.: Propsteikirche Basilika St. Clemens auf der Seite der gleichnamigen Gemeinde [ohne Datum], zuletzt abgerufen am 5. September 2019
  7. a b Anneliese Beckmann, Johannes Lim, Erhard Delacor: Die Calenberger Ökumene auf der Seite der katholischen Pfarrgemeinde St. Heinrich in Hannover [ohne Datum], zuletzt abgerufen am 5. September 2019
  8. Annedore Beelte-Altwig, Ulrike Duffing et al.: ... für Einheimische und Gäste / Interreligiöse Stadtführung auf der Seite des Hauses der Religionen in Hannover in der Version vom 27. August 2018
  9. Simon Benne: Stadtspaziergang mit Journalist Bernward Kalbhenn ... auf der Seite der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 17. August 2017, zuletzt abgerufen am 5. September 2019
  10. o. V.: 12. Stadtspaziergang – „Die Straße der Toleranz“ in der Calenberger Neustadt auf der Seite der Gemeinde der Gartenkirche [o. D.]
  11. a b c d e Christian Simon: Der Weg zur Hauptstadt des Protestantismus, in Katharina Schmidt-Vogt, Thomas Schwark (Red.): Provinz + Metropole. Hannover 1900 bis 1999. Ausstellung und Begleitbuch / Historisches Museum, Hannover. ( = Schriften des Historischen Museums Hannover, Heft 18), Hrsg.: Landeshauptstadt Hannover – Der Oberbürgermeister – Historisches Museum Hannover, Hannover : HMH, 2000, ISBN 978-3-910073-19-7 und ISBN 3-910073-19-0, S. 79–90; hier v. a. S. 80; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  12. a b Klaus Mlynek: Calenberger Neustadt, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 105
  13. a b Peter Hertel und Christiane Buddenberg-Hertel: Kirche und Synagoge, in: Die Juden von Ronnenberg – Eine Stadt bekennt sich zu ihrer Vergangenheit, Hrsg.: Region Hannover (Mahn- und Gedenkstätte Ahlem). Hannover 2016, ISBN 978-3-7752-4903-4, S. 22
  14. a b c d e M.[eir] Wiener: Liepmann Cohen und seine Söhne, Kammeragenten zu Hannover, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, Hrsg.: Oberrabbiner Z.[acharias] Frankel, Jahrgang 13, Heft 5, Breslau 1864, S. 171.
  15. Peter Hertel: Die Juden von Ronnenberg. Teil 1: 1700-1933, Hrsg.: Stadt Ronnenberg, Schriften zur Stadtentwicklung, Bd. 4, Ronnenberg 2012, S. 17 und 20.
  16. Peter Schulze: Synagogen, in: Klaus Mlynek: Calenberger Neustadt, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 614.
  17. vgl. Peter Schulze: Synagogen, in: Klaus Mlynek: Calenberger Neustadt, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 614.
  18. vgl. Peter Schulze: Synagogen, in: Klaus Mlynek: Calenberger Neustadt, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein: Stadtlexikon Hannover, Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 614 f.
  19. Rote Reihe. Straße der Toleranz, Artikel auf der Seite der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers

Koordinaten: 52° 22′ 19,1″ N, 9° 43′ 41,1″ O