Wilhelm Roscher

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Wilhelm Roscher

Georg Friedrich Wilhelm Roscher (* 21. Oktober 1817 in Hannover; † 4. Juni 1894 in Leipzig) war ein deutscher Historiker und Ökonom. Er gilt als Begründer der älteren Historischen Schule der Ökonomie.

Leben

Roscher entstammte einer hannoverschen Beamtenfamilie, deren Mitglieder seit Generationen im Militär- und Zivilbereich dienten. Sein Vater, der zuletzt Oberjustizrat im hannoverschen Justizministerium gewesen war, starb schon 1827. Er besuchte das Lyceum in Hannover, das damals vom bekannten Keilschriftentzifferer Georg Friedrich Grotefend geleitet wurde, verließ es aber 1835 vor Beendigung des Kurses, um in Göttingen Altertums- und Geschichtswissenschaft zu studieren, wo er Mitglied des Corps Hannovera war. Zu Roschers Göttinger Professoren gehörten die Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Gottfried Gervinus und Karl Otfried Müller.

Am 10. September 1838 wurde er mit einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation unter dem Titel „De historicae doctrinae apud sophistas maiores vestigiis“ promoviert (zu deutsch: Über die Spuren der historischen Lehre bei den älteren Sophisten). Er setzte seine Studien in Berlin bei den Historikern August Boeckh und Leopold von Ranke fort. Dort arbeitete er im historischen Seminar Rankes, dem er später wiederholt für erfahrene Förderung dankte. 1840 habilitierte sich Roscher für Geschichte und Staatswissenschaften an der Universität Göttingen. Bereits 1843 wurde er dort zum außerordentlichen und 1844 zum ordentlichen Professor ernannt.

Eine Vorlesung zu einem genuin historischen Thema gab er allerdings nur im ersten Semester über die „historische Kunst nach Thukydides“. Die Ergebnisse seiner eingehenden Beschäftigung mit dem antiken griechischen Historiker hielt er in dem 1842 erschienenen Werk „Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides“ fest. Danach wandte er sich den Staatswissenschaften zu und hielt seit 1845 Lehrveranstaltungen zur Nationalökonomie, Geschichte der politischen Theorien, Politik, Statistik und Finanzen. Seine weiteren Vorlesungen und Werke lassen die Veränderung seines Forschungsschwerpunktes erkennen, wobei er seinen Interessenkreis im Verlauf seiner 54-jährigen Lehrtätigkeit immer wieder erweiterte. Ziel seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war die Begründung einer Staatswissenschaft auf historischer Methode, welche die Entwicklungsgesetze der Volkswirtschaftslehre und des Staates aufzeigen sollte. Seine historische Herangehensweise bezog sich zunächst auf die Nationalökonomie, dann aber auch auf die Lehre von den Verfassungsformen des Staates. Diese „historische Methode“ stand im Gegensatz zu der „philosophischen Methode“ seiner Vorgänger. Mit Hilfe seiner Methode leitete er bestimmte Gesetzmäßigkeiten ab, die im Gegensatz zur Klassischen Nationalökonomie standen.

1848 folgte Roscher einem Ruf an die Universität Leipzig, die er, trotz auswärtiger Rufe nach München, Wien und Berlin, nicht mehr verließ. Zu den in Göttingen gehaltenen Vorlesungen kamen dort Vorlesungen zur Volkswirtschaftspolitik, die er später als „praktische Nationalökonomie und Wirtschaftspolizei“ bezeichnete, und seit 1871 eine Vorlesung über landwirtschaftliche Politik und Statistik hinzu. Außerdem ließ er der Statistik eine besondere Beachtung zukommen und hielt zwischen 1851 und 1869 zahlreiche Vorlesungskurse über vergleichende Statistik, vergleichende Staatskunde der sechs großen Mächte, vergleichende Statistik und Staatskunde von Deutschland, von Großbritannien und Frankreich und der europäischen Völker. Bald hielt er zudem Vorlesungen unter den Titeln: „Einleitung in das Studium der gesammten Rechts-, Staats- und Cameralwissenschaft“, „Geschichte der politischen (und sozialen) Theorien“, „Geschichte des Naturrechts, der Politik und Nationalökonomie“, „Grundlehren der praktischen Politik“, „Naturlehre des Staats“ und an Stelle der Letzteren seit 1870 die Vorlesung „Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie als Vorschule jeder praktischen Politik“.

1889, kurz nach Vollendung seines 71. Lebensjahres, wurde er auf seinen Antrag hin von seiner Lehrverpflichtung entbunden. Er hielt von da an nur noch öffentliche Vorlesungen zur Politik, denen er noch eine neue über „Armenpolitik und Armenpflege“ mit einer Einleitung zu Sozialismus und Kommunismus hinzufügte. Im Frühjahr 1894 stellte er seine akademische Tätigkeit ein.

Sein Sohn war der klassische Philologe Wilhelm Heinrich Roscher.

Wirken

Roscher gilt mit Bruno Hildebrand und Karl Knies als der Begründer der älteren Historischen Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre. Er entwickelte eine monistisch-teleologische Wirtschaftsstufentheorie (Natur–Arbeit–Kapital). Dieses wurde von Karl Marx kritisiert, für den diese Theorie zu den von ihm so genannten Theorien der Vulgärökonomie zählte. Der klassischen Nationalökonomie setzte Roscher ein Konzept entgegen, das im historischen Zugang den einzig sinnvollen theoretischen Ansatz sieht und um die Herausstellung des Individuums als Wirtschaftsfaktor bemüht ist – hierin ist Roschers Konzept gerade von Max Weber kritisiert, aber auch weiterentwickelt worden.

Roscher unternahm erstmals den Versuch das absolutistische Zeitalter zu periodisieren und der aufgeklärten Epoche eine gesonderte historische Stellung zuzuweisen. Als Epochenbegriff ist „Absolutismus“ seit 1847 daher maßgeblich von ihm geprägt worden.[1] Er entwickelte die Vorstellung von einer historischen Stufenfolge, die mit einem „konfessionellem Absolutismus“ (16. Jh., Philipp II.) beginnt, in einen „höfischen Absolutismus“ (Zeitalter Ludwigs XIV.) übergeht und schließlich im aufgeklärten Absolutismus (Friedrich II.) mündet.[2] Diese Begriffe haben die Periodisierungsansätze in der Geschichtsforschung lange bestimmt; während inzwischen vom Epochenbegriff Absolutismus weitgehend Abstand genommen worden ist,[3] gibt es einige Historiker, die den Begriff aufgeklärter Absolutismus nach wie vor nicht ersetzen möchten.[4]

Sein Denken hatte starke Wurzeln im christlichen Glauben, wie u. a. die posthum herausgegebenen „Geistlichen Gedanken“ zeigen. Roscher, philosemitisch eingestellt und idealistisch romantisierend, unterstrich die herausragende und unentbehrliche Rolle des Judentums für den mittelalterlichen Handel, wodurch es seiner Ansicht nach zum ökonomischen Lehrmeister der europäischen Völker wurde.

Als Doktorvater beeinflusste er Karl Lamprecht.

Auszeichnungen

Werke

Literatur

  • Helmuth Beckmann: Die historische Methode Wilhelm Roschers. Bonn 1948.
  • Karl BücherRoscher, Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 53, Duncker & Humblot, Leipzig 1907, S. 486–492.
  • Chaim Jaffé: Roscher, Hildebrand und Knies als Begründer der Älteren Historischen Schule der Deutschen Volkswirte. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland. Bern 1916.
  • Harald Hagemann: Roscher and the Theory of Crisis. In: Jürgen G. Backhaus (Hrsg.): Wilhelm Roscher and the ‚Historical Method‘. In: Journal of Economic Studies 22 (1995), S. 171–186.
  • Heinz KurzRoscher, Wilhelm Georg Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11203-2, S. 39–41 (Digitalisat).
  • Tim Petersen: Wilhelm Roscher und seine pietistischen Ursprünge. Vortrag auf Tagung „Wirtschaft–Religion–Gesellschaft“, Evangelische Akademie Tutzing 8.–10. März 2006 (Text)
  • Wilhelm Rothert: Allgemeine Hannoversche Biographie. Band 1, S. 271–277.
  • Erich W. Streissler: Wilhelm Roscher als führender Wirtschaftshistoriker. In: Bertram Schefold (Hrsg.): Vademecum zu einem Klassiker der historischen Schule. Düsseldorf 1994. S. 37–121.
  • Guido Wölky: Roscher, Waitz, Bluntschli und Treitschke als Politikwissenschaftler. Spätblüte und Untergang eines klassischen Universitätsfaches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dissertation, Universität Bochum 2006 (Volltext)
  • Theodor Roscher: Zur Geschichte der Familie Roscher in Niedersachsen, Hannover: A. Harbers & Brager, 1892[5].
  • Theodor Roscher: Geschichtsblätter der Niedersächsischen Familie Roscher, Hannover 1909[5].
  • Justizrat Dr. Theodor Roscher: Roscheriana. Weihnachtsblatt 1911, Hannover: Göhmannsche Buchdruckerei, 1911[5].
  • Theodor Roscher: Roscheriana. Weihnachten 1913, Heft E, Hannover, Göhmannsche Buchdruckerei, 1913[5].

Einzelnachweise

  1. Siehe zur Entwicklung des Begriffs Reinhard Blänkner: „Absolutismus“. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, 1830–1870. 2., um eine Vorbemerkung ergänzte Auflage der Dissertation. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2011, und Wolfgang Schmale: Absolutismus. Biographie eines Begriffs. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 31 (2001), S. 5–10.
  2. Wilhelm Roscher: Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen. In: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 7 (1847), S. 79–88, 322–365 und 436–473 sowie 9 (1848), S. 285–413 (hier 7, S. 451). Kurzgefasst bei Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München: R. Oldenbourg 1874, S. 380 f. Maßgebende Kritik bei Otto Hintze: Roschers politische Entwickelungstheorie. In: Schmollers Jahrbuch 21 (1897), S. 767–811.
  3. Ronald G. Asch, Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700). Köln: Böhlau 1996; Heinz Duchhardt: Die Absolutismusdebatte – eine Antipolemik. In: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 323–331.
  4. Einen Überblick über den Stand der Debatte gibt Wolfgang Neugebauer: Aufgeklärter Absolutismus, Reformabsolutismus und struktureller Wandel im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Werner Greiling, Andreas Klinger, Christoph Kohler (Hrsg.): Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung. Köln: Böhlau 2005, S. 23–40. Vgl. auch Peter Baumgart: Absolutismus ein Mythos? Aufgeklärter Absolutismus ein Widerspruch? Reflexionen zu einem kontroversen Thema gegenwärtiger Frühneuzeitforschung. In: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 573–589.
  5. a b c d ZVAB.de
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