Grenznutzenschule
Die Grenznutzenschule ist eine Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in England, Österreich und der Schweiz nahezu gleichzeitig aufgekommene Theorierichtung der Volkswirtschaftslehre, die den Begriff des Nutzens in den Mittelpunkt stellt. Sie strebt die Lösung des klassischen Wertparadoxons an, indem sie auf den Nutzen eines Gutes das mikroökonomische Marginalprinzip (auch Grenzprinzip) anwendet.
Bei diesem Grundprinzip der ökonomischen Entscheidungstheorie wird der Einfluss kleiner (marginaler) Handlungsveränderungen auf Zielgrößen wie Nutzen oder Kosten betrachtet. Mathematisch beruht das Marginalprinzip auf partiellen Differentialen der Kosten- oder Nutzenfunktionen, differenziert nach Einsatz- bzw. Konsummengen.
Die Grenznutzenschule stellt den Wert einer Sache als etwas fundamental Subjektives dar („subjektive Wertlehre“), das sich von Individuum zu Individuum unterscheidet, und steht der konkurrierenden, vor allem im Marxismus relevanten Arbeitswerttheorie gegenüber („objektive Wertlehre“), wonach der Wert einer Ware (nicht zu verwechseln mit dem „Gebrauchswert“ nach Marx, der anderen Seite bzw. Betrachtungsweise einer Ware) sich aus der zur Herstellung bzw. genauer: zur Reproduktion aufzuwendenden gesellschaftlich notwendigen Arbeit (nicht Arbeitskraft) ergibt; das heißt letztlich – abstrakt – messbar in Arbeitszeit; und zwar in der Zeit, die ein unter gesellschaftlich notwendigen Bedingungen produzierendes Unternehmen durchschnittlich benötigt, um eine Ware herzustellen. Dies impliziert in der marxistischen Arbeitswerttheorie den realen Austausch / Verkauf / Export etc. (Tauschwert). In der Logik der objektiven Wertlehre gibt es keinen Wert ohne Austausch. Der Gebrauchswert entspricht in etwa dem Begriff des Nutzens bzw. Grenznutzens nach H. H. Gossen, Carl Menger oder Léon Walras. Bei Marx ist der Gebrauchswert (im Sinne von Nutzen für die (durchschnittlichen) Käufer) überhaupt erst Voraussetzung dafür, dass Wert entstehen, reproduziert werden kann. Der Preis schwankt nach der objektiven Wertlehre je nach Angebot und Nachfrage um den abstrakten Wert, weicht also im Normalfall davon ab.
Das Marginalprinzip geht ursprünglich auf den deutschen Ökonomen Johann Heinrich von Thünen zurück, der die Differentialrechnung auf wirtschaftswissenschaftliche Fragen anwandte und die erste Lösung des klassischen Wertparadoxons lieferte. Dem französischen Wirtschaftstheoretiker Antoine-Augustin Cournot diente das Prinzip als Basis zur Entwicklung der Preis-Absatz-Funktion und der Bestimmung des Gewinnmaximums eines Angebotsmonopolisten (Cournotscher Punkt), während der deutsche Ökonom Hermann Heinrich Gossen es zur Erforschung der Bedürfnisbefriedigung und damit zur Entwicklung der Gossenschen Gesetze nutzte.
Bis ungefähr zum Ersten Weltkrieg gelten die Grenznutzenschulen, deren Überlegungen Auslöser der „Marginalistischen Revolution“ waren, als in der volkswirtschaftlichen Theorie vorherrschend, auch in der modernen Volkswirtschaftslehre sind die weiterentwickelten Überlegungen von wesentlicher Bedeutung.
Elementare Grundlagen zur theoretischen Fundierung der verschiedenen Grenznutzenschulen wurden bereits einige Jahre zuvor durch Hermann Heinrich Gossen in den Gossenschen Gesetzen formuliert. Der zentrale Begriff des Grenznutzens ist dabei als der Nutzen der letzten bedarfsdeckenden und verfügbaren Einheit eines Gutes zu verstehen, der Wert eines Gutes wird also durch die subjektive Wertschätzung seiner jeweils letzten Einheit („Grenzeinheit“) bestimmt.
Die verschiedenen Schulen
- Die österreichische Grenznutzenschule ist als Ausgangspunkt und bedeutender Teil der Österreichischen Schule zu sehen. Einflussreiche Personen waren Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk, Friedrich von Wieser, Joseph Schumpeter und im Rahmen einer weiterentwickelten jüngeren österreichischen Grenznutzenschule Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek.
- Von der österreichischen Schule beeinflusst wurde die sogenannte Schwedische Schule um Knut Wicksell und Erik Robert Lindahl.
- Die Lausanner Schule von Léon Walras hebt besonders die mathematische Methode und den mathematischen Charakter der Untersuchungen hervor. Der abgeleiteten und eng verknüpften Theorie der Wahlakte sind Vilfredo Pareto, Eugenius Slutsky und Irving Fisher sowie Heinrich von Stackelberg und Paul A. Samuelson zuzurechnen.
- Die anglo-amerikanische Schule (auch Cambridge School) mit William Stanley Jevons und Alfred Marshall überträgt das Grenznutzenprinzip auf den Bereich der Produktion und entwickelt die Grenzproduktivitätstheorie.
Literatur
- Hermann Heinrich Gossen, Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn, 1854; vollständige Ansicht in Google Books (http://books.google.de/books).
- Originaltexte der Österreichischen Schule auf mises.de.
- William Stanley Jevons, A General Mathematical Theory of Political Economy. Archiviert vom am 15. April 2012; abgerufen am 10. Mai 2014. 1862/1863.
- Ernest Mandel: The marginalist theory of value and neo-classical political economy. In: Ernest Mandel: Marxist Economic Theory, 1962.