Jüri Reinvere

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Jüri Reinvere. Im Tessin, Schweiz (2011)

Jüri Reinvere (* 2. Dezember 1971 in Tallinn) ist ein estnischer Komponist, Lyriker und Essayist, der seit 2005 in Berlin lebt. Seine Musik verwendet oft eigene Dichtungen, deren symbolisch komplexe Sprache sich aus kosmopolitischer Lebenserfahrung speist. Die stilistische Vielfalt seiner Kunst geht einher mit genauer psychologischer Beobachtung und untergründig theologischen Anspielungen.[1][2]

Leben

Jüri Reinvere wuchs in der estnischen Hauptstadt Tallinn auf. Er besuchte von 1979 bis 1990 das Tallinner Musikgymnasium (Tallinna Muusikakeskkool). Sein erster Lehrer in Komposition war Lepo Sumera. Die dortige Klavierausbildung führte ihn bis zur Konzertreife, was ihm später eine Nebentätigkeit als Pianist und Organist ermöglichte.[1]

Das Leben in Estnischen SSR war zu jener Zeit von starkem Russifizierungsdruck geprägt. Davon unberührt blieb Reinveres Aufgeschlossenheit für die Kultur Russlands, die ihm frühzeitig vertraut war.

Von 1990 bis 1992 studierte Reinvere Komposition an der Fryderyk-Chopin-Musikakademie in Warschau. Von 1992 bis 2005 lebte er in Finnland. Ab 1994 begann er, begleitet von Studien in Theologie, ein Kompositionsstudium an der Sibelius-Akademie in Helsinki, das er bei Veli-Matti Puumala und Tapio Nevanlinna 2004 abschloss. Daneben arbeitete er als Organist in der Kreuzkirche von Lahti, als Radio-Essayist für finnische und estnische Sender, schrieb gelegentlich Drehbücher für Dokumentarfilme und war beim Fernsehen als Produzent tätig. [1][3]

1993 lernte er die estnisch-schwedische Pianistin und Schriftstellerin Käbi Laretei kennen, die Reinvere selbst als seine wichtigste Mentorin bezeichnet. Anderthalb Jahrzehnte stand er mit ihr und ihrem früheren Ehemann, dem schwedischen Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman, in enger Verbindung. Durch Bergman wurde Reinvere in die Tradition der nordeuropäischen Dramatik von Henrik Ibsen und August Strindberg sowie in die psychologische Durcharbeitung dramatischer Figuren eingeführt.[1][2][4]

Laretei und Bergman waren es auch, die Reinvere zum literarischen Schreiben ermutigten. Nach erster Prosa folgte bald eigene Lyrik in englischer Sprache.[5] Diese Arbeit war Voraussetzung dafür, dass Reinvere für seine Opern die Libretti selbst verfasst hat: „Puhdistus“ auf Finnisch, „Peer Gynt“ auf Deutsch.[6]

Im Jahr 2000 gewann er den International Rostrum of Composers, den Kompositionspreis des Internationalen Musikrates der UNESCO, und wurde vom selben Gremium 2006 erneut ausgezeichnet.[7] Von 2000 bis 2001 gehörte er zu den Stipendiaten der Berliner Akademie der Künste.[8] Reinvere ist heute finnischer Staatsbürger.

Schaffen

Reinveres Ästhetik kennt zwei Richtungen, eine entschiedene Modernität mit allen klanglichen Härten und zugleich einen ungebrochenen Mut zur Romantik, weshalb seine Musik sehr unterschiedlich klingen kann. Seine Großwerke, besonders die Opern, vermitteln zwischen beiden Richtungen. Sie halten an einem psychologischen Verständnis des Dramas fest, erweitern aber die Mittel der Darstellung über die bisherige Tradition hinaus. Häufig verbindet Reinvere in seiner Musik avancierte Verfahren der Klangerzeugung mit klassischen Erzählstrukturen. Die strenge Durcharbeitung der Werkgestalt geht dabei einher mit einer inhaltlichen Öffnung für andere Künste, für Fragen der Theologie, der Politik, der allgemeinen Geschichte und der alltäglichen Lebenswelt. Jedoch liegt das Gewicht auf der unmittelbar sinnlichen Präsenz der Kunst.[1][6][2][9]

Bühnenwerke: Ballette und Opern

In den Jahren 2000 und 2001 arbeitete Reinvere erstmals in Deutschland, vor allem mit der Choreografin Michaela Fünfhausen. Die Ballette „Dialog I“, „Luft-Wasser-Erde-Feuer-Luft“ oder seine Radio-Oper „Auf der anderen Seite“ führen das strukturelle Denken, wie es an der Sibelius-Akademie geschult wurde, zusammen mit Einflüssen der Klangkunst, teilweise im Rückgriff auf elektronisch bearbeitete Naturgeräusche.[5][10][11][12]

Zehn Jahre nach den Balletten arbeitete Reinvere den Roman „Puhdistus“ von Sofi Oksanen zu einem Opernlibretto um: Es war Reinveres erste dramatische Arbeit als Dichter und zugleich ein politisches Werk, dessen Bedeutung international registriert wurde. Die Uraufführung fand 2012 an der Finnischen Nationaloper Helsinki statt.[6][13]

Peer Gynt“ ist ein Auftragswerk für Den Norske Opera & Ballett Oslo unter dem Intendanten Per Boye Hansen. Im Anschluss an das Drama von Henrik Ibsen, das durch die Musik von Edvard Grieg zu einem Nationalsymbol Norwegens wurde, fragt Reinvere danach, was nationale Symbole heute bedeuten. Zugleich stellt er die Geschichte in den Horizont einer Theologie der Gnade im Anschluss an Søren Kierkegaard. Die Uraufführung fand am 29. November 2014 im Opernhaus Oslo statt.[14][6]

Werke nach eigener Lyrik

Seit „t.i.m.e“ (2005) für Soloflöte und Sprecher folgen auch die nicht-theatralischen Werke Reinveres häufig eigenen Texten. Dichterisch finden sich bei ihm überwiegend freie Verse, zugleich auch komplexe Metren und Reimformen. Seine Sprache arbeitet mit mehrschichtigen Symbolen und literaturgeschichtlichen Anspielungen, besonders in einer Reihe von Gedichten, die Autoren der englischen Romantik folgen. So bezieht sich „Norilsk, the Daffodils“ (für Orchester und Sprecherin) auf William Wordsworth, „The Empire of May“ (für Kammerensemble und Stimme) auf John Keats oder „The Arrival at the Ligurian Sea“ (für Soloflöte und Kammerensemble) auf Percy Bysshe Shelley.

Sein „Requiem“ von 2009 (für Kammerchor, Soloflöte und Sprecherin) setzt sich mit dem Sterben in der heutigen Welt auseinander. Obwohl Reinvere nicht auf religiöse Begriffe und Formen zurückgreift, bleibt sein „Requiem“ für eine Sinngebung des Todes in christlichem Glauben offen. Der Zyklus „Four Quartets“ verbindet eigene Gedichte mit Streichquartetten und folgt dem gleichnamigen Werk von T. S. Eliot. Wie ihm geht es auch Reinvere darum, konkrete Lebensorte zu Symbolen menschlicher Existenz zu machen. Im Tonbandzuspiel zum ersten der „Four Quartets“ nutzt Reinvere Originaldokumente von der Entbindungsstation des Zentralkrankenhauses in Tallinn.[2][5][15][16]

Weitere Werke

In Reinveres übrigen Werken findet man häufig die Überschreitung von Genregrenzen und die Kreuzung verschiedener Techniken, zum Beispiel die Bearbeitung dokumentarischen Materials und ästhetisch auskomponierter Musik durch die Mittel der Musique concrète. So verwendet sein „Livionian Lament“ von 2003 Tonaufzeichnungen von der livländischen Küste und erinnert an das Aussterben der lange marginalisierten livischen Sprache. Harmonisch gibt es im frühen Doppelquartett mit Soloklavier von 1994 noch klare tonale Bezüge. In späteren Werken sind solche tonalen Konzeptionen zwar weiterhin vorhanden, aber weniger offenkundig. Oft kommt Reinvere gänzlich ohne tonale Bindungen aus und verlässt sich auf Instrumental-, Sprech- und Vokalklänge, die dem Geräusch näherstehen als der genau definierten Tonhöhe. Die klar ausgearbeiteten Texturen werden nach einem klassischen Verständnis von Polyphonie eingesetzt. Die dramaturgisch gestaltete Zeit macht den Aufbau von Hörerwartungen ebenso möglich, wie sie den Hörer mit Unvorhersehbarem konfrontiert.[1][2]

Essays

In seiner Essayistik spielt die verbale und non-verbale Tradierung von Gedanken und Gefühlen eine Rolle sowie die Manipulation oder gar Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses. Diese Themen reflektieren vor allem die eigene Biografie und das Leben von Reinveres Vorfahren in Estland, weiten ihr Betrachtungsfeld aber auch auf ganz Europa und die USA aus. Reinvere, geprägt durch seine Erfahrungen in finnischen Pfarrgemeinden und in Städten wie Berlin, Moskau, London, Florenz und Warschau untersucht zudem Phänomene wie Trost, Gnade oder Schönheit, die Menschen zuteilwerden, ohne dass sie sich von Menschen herstellen lassen. Die Nähe von Schmutz und Erhabenheit, ein Thema auch in der Literatur von Fjodor Dostojewski, taucht in Reinveres Essays genauso auf wie in seiner Lyrik.[2][17][18]

Als Kommentator aktueller Zeitfragen hat er sich seit Dezember 2013 gelegentlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geäußert. So bezweifelte er grundsätzlich, dass westliche Strategien hilfreich für die Verbesserung der Lage sexueller Minderheiten in Russland seien. Daneben führte Reinvere die Ängste in den baltischen Staaten vor russischen Interventionen nach der Annexion der Krim 2014 auf unbewältigte Erfahrungen der Jahre 1939/40 und der Zeit nach 1990 zurück.[19]

Musikalische Werke (Auswahl)

  • Peer Gynt (Oper, 2014)
  • Puhdistus (dt. Fegefeuer) nach dem gleichnamigen Roman von Sofi Oksanen (Oper, 2012)
  • Norilsk, the Daffodils (für Orchester und Leser, 2012)
  • Four Quartets I (für Streichquartett und Leser, 2012)
  • The Empire of May (für Kammerensemble, 2010)
  • Requiem (für Soloflöte und Männerstimmen, mit Videoinstallation, 2009)
  • Frost at Midnight (für Bassflöte und Chor, 2008)
  • t.i.m.e. (für Soloflöte und Elektronik, mit Videoinstallation, 2005)
  • Luft-Wasser-Erde-Feuer-Luft (Musik zu Michaela Fünfhausens Tanz-Performance „Die gefiederte Schlange“, 2003)
  • Auf der anderen Seite (Radio-Oper, 2003)
  • Livonian Lament (Tonband, 2003)
  • Written in the Sand (für Orchester, 2001)
  • Northwest Bow (für Kammermusik-Ensemble, 1998)
  • Doppelquartett (mit Piano solo, 1994)

Diskographie

  • a second… a century (2009)[20]
  • Requiem (2010, CD+DVD)[20]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e f http://www.reinvere.de/re71aen.htm
  2. a b c d e f http://www.berliner-zeitung.de/kultur/jueri-reinvere-so-flirrt-musik-vor-ihrer-geburt,10809150,24030138.html
  3. http://www.imdb.com/name/nm2350481/?ref_=fn_al_nm_1
  4. http://reinvere.de/pdf/Second_Century_CD.pdf
  5. a b c http://www.emic.ee/?sisu=heliloojad&mid=58&id=75&lang=eng&action=view&method=teosed#2878
  6. a b c d http://www.peergynt-opera.net/wordpress/pdf/
  7. http://www.emic.ee/estonian-composers-toivo-tulev-and-juri-reinvere-successful-at-the-2006-rostrum-in-paris
  8. http://fuenfhausen.net/en/pieces/dialog-1/
  9. http://www.ft.com/intl/cms/s/2/12130fce-8d2d-11e1-8b49-00144feab49a.html
  10. https://soundcloud.com/reinvere/luft-wasser-erde-feuer-luft
  11. http://fuenfhausen.net/en/pieces/dialog-1/
  12. http://fuenfhausen.net/en/pieces/die-gefiederte-schlange/
  13. http://www.ooppera.fi/ohjelmisto/puhdistus_%282012%29/844
  14. Bernhard Doppler: „Peer Gynt“: Ein altbekannter Hochstapler als neuer Held Der Standard online, 7. Januar 2015
  15. http://reinvere.de/pdf/FourQuartetsI.pdf
  16. https://www.youtube.com/watch?v=vyXYY8veMd8
  17. http://www.ts.fi/uutiset/kotimaa/1074342824/Raiskattu+etela+naapuri+raapii+pois+neuvostokertomusta+historiastaan
  18. http://reinvere.de/pdf/Brahms.pdf
  19. http://fazarchiv.faz.net/?q=Reinvere&search_in=q&timePeriod=timeFilter&timeFilter=&DT_from=&DT_to=&KO=&crxdefs=&NN=&CO=&CN=&BC=&submitSearch=Suchen&sext=0&maxHits=&sorting=&toggleFilter=&dosearch=new#hitlist
  20. a b http://www.emic.ee/?sisu=heliloojad&mid=58&id=75&lang=eng&action=view&method=diskograafia