Maßwerk

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Maßwerk im Kloster Bebenhausen

Mit Maßwerk bezeichnet man in der Architektur die filigrane Arbeit von Steinmetzen in Form von flächigen Gestaltungen von Fenstern, Balustraden und geöffneten Wänden. Das Maßwerk besteht aus geometrischen Mustern, die als Steinprofile umgesetzt werden, wobei der Stein komplett durchbrochen (skelettiert) wird. Werden diese Dekorationen einer geschlossenen Wandfläche aufgelegt, spricht man von Blendmaßwerk. Stehen sie frei vor einer Wand, bezeichnet man sie als Schleiermaßwerk.

Das Maßwerk ist ein Element der gotischen Architektur und ist eines der wichtigsten Merkmale der Hoch- und Spätgotik, wo es ein unabdingbarer Bestandteil der Fenster war. Die Gotik setzte Maßwerk an vielen weiteren Stellen ein, zum Beispiel an den Balustraden der Laufgänge (Triforium), Emporen, an Turmhelmen oder durchbrochenen und vorgespannten Wänden in der Fassade.

Das feine Maßwerk musste mit Eisendübeln stabilisiert werden, einfaches Vermauern mit Mörtel reichte nicht aus. Dazu wurden an den Stoßflächen dünne Löcher geschlagen, die eiserne Dübel aufnahmen. Der verbleibende Hohlraum wurde mit Blei ausgegossen. Die zum Teil sehr langen Stäbe zwischen den Lanzettfenstern sind zusätzlich mit horizontalen Eisenstäben untereinander verbunden und teilen die Fenster in rechteckige Felder, die einzelne Scheiben der Buntglas-Fenster aufnahmen. Bei großen und sehr großen Fenstern wird das Maßwerk vor allem von den Eisenstäben stabilisiert, von denen die Sturmeisen die Aufgabe haben, den Winddruck aufzunehmen. Das Maßwerk an Balustraden besteht manchmal aus rechteckigen Steintafeln, die in der gewünschten Form durchbrochen wurden. Im Außenbau sind Maßwerke als filigrane Bauteile stark durch Verwitterung gefährdet und sind je nach Grad der Verwitterung Gegenstand von teilweisem oder komplettem Austausch.

Geschichte

Die immer größer werdenden Glasflächen der spätromanischen Fenster mussten vor der ‚Erfindung‘ des Maßwerks durch eine Vielzahl von – wenig dekorativen – Eisenankern gegen Winddruck und Eigengewichtskräfte stabilisiert werden (Beispiel: Westfenster der Kathedrale von Le Mans). Das Maßwerk bot Auftraggebern und Architekten des Hoch- und Spätmittelalters die Möglichkeit, ästhetische Ansprüche und technische Notwendigkeiten zu einer – über Jahrhunderte währenden – Einheit zu verbinden.

Als Vorläufer des Maßwerks müssen die sogenannten ‚Radfenster‘ des ausgehenden 12. Jahrhunderts (Beauvais, St. Étienne; Chartres, Westrose) angesehen werden. Eine Vorform des Maßwerks ist das Plattenmaßwerk, bei dem aus gemauerten Steinplatten geometrische Formen als Löcher herausgearbeitet wurden, so dass sie wie „ausgestanzt“ wirken, beispielsweise im Langhaus der Kathedrale von Chartres.

Vom Maßwerk im eigentlichen Sinne spricht man aber nur, wenn die geometrischen Formen aus Steinprofilen zusammengesetzt sind. Die ersten Maßwerkfenster sind in den hochgotischen Chorkapellen der Kathedrale von Reims zu finden, deren Bau 1211 begonnen wurde. Das in der frühen Hochgotik zweibahnige Fenster wurde mit zunehmender Größe weiter gegliedert, indem die beiden Lanzetten wiederum geteilt wurden, so dass vierbahnige Fenster entstanden. Erst später lösten sich die Baumeister von dieser strengen Gliederung und setzten eine beliebige Zahl von gleich großen Lanzetten ein. Bei einem systematisch ausgeführten Maßwerk liegen die Profilschichten der kleineren Formen tiefer (d. h. weiter hinten) als die der großen Formen, die die kleinen überfangen, so dass eine hierarchische Schichtung der Maßwerkformen entsteht. Die Seitenverhältnisse dieser Figuren ergeben oft den goldenen Schnitt[1] und wirken daher sehr ästhetisch. Eine Sonderform der gotischen Fenster ist die kreisrunde Rose, bei der das Maßwerk radialsymmetrisch angeordnet ist.

Das Rippengewölbe der Gotik wurde gelegentlich auch als Maßwerk-Gewölbe ausgeführt. Dabei wurden die Kappen nicht gefüllt, sondern zusätzlich freistehende Rippen („Luftrippen“) als Maßwerk vor dem eigentlichen Gewölbe aufgebaut.

Das Maßwerk wurde beim Bau vermutlich auf einer aus Brettern gezimmerten Ebene, dem Rissboden, mit Zirkel und Schnüren in originaler Größe aufgezeichnet und dann in Stein gemeißelt. Auf dem Rissboden konnte das Fenster zur Probe zusammengebaut und auf Passung geprüft werden.

Stilgeschichte

Die Formwandlungen des Maßwerks sind ein wichtiges Mittel zur Einteilung der Architekturgeschichte der Gotik. Begriffe für Stilphasen sind oft von Maßwerkformen abgeleitet: Rayonnant, französisch „strahlend“, für die hochgotische Phase, in der die Fensterrosen in radial ausstrahlende Bahnen aufgeteilt sind. Flamboyant, französisch „flammend“, für die spätgotische Phase, in der das Maßwerk flammende und asymmetrisch züngelnde Formen bildet. Decorated, englisch „geschmückt“, für die von reichem Maßwerkdekor bestimmte gotische Stilphase in England. Perpendicular, englisch „senkrecht“, für die Spätphase der englischen Gotik, in der senkrechte Stäbe das Maßwerk kennzeichnen. In der deutschen Gotik wird der Übergang von der Hoch- zur Spätgotik auch durch das Auftreten von kurvigen Maßwerkformen wie Fischblase oder Schneuß definiert.

Maßwerkformen

Konstruktionsmöglichkeiten im Maßwerkaufriss

Die Fenster der hoch- und spätgotischen Kirchen sind ohne Maßwerk nicht denkbar, da sie aufgrund ihrer enormen Größe eine zusätzliche Gliederung benötigten. Das spitzbogige Fenster besteht typischerweise aus zwei oder mehreren senkrechten Bahnen, den so genannten Lanzetten, die ebenfalls mit einem Spitzbogen enden und meist bis zur Höhe des Bogenansatzes reichen. Der Bereich darüber im Bogenfeld ist feiner gegliedert mit zusätzlichen geometrischen Figuren. Er wird Couronnement (frz. Bekrönung, eingedeutscht auch: Kronument) genannt. Diese Figuren haben ihre eigene Namen, z. B.:

Verwendung

hochgotische Spitzbogenfenster
am Konstanzer Münster
Schema der großen Rose
in der Westfassade des
Straßburger Münsters
südliches Querschiff des Regensburger Doms:
Giebelfeld mit
vorgespanntem Schleierfachwerk
großes Fenster durch doppelte Teilung
und ein dazwischen liegendes Querfenster
in neun Lanzettfenster („Bahnen“) geteilt
Maßwerk-Gewölbe an der goldenen Pforte,
Peter Parler,
Veitsdom, Prag
Maßwerkbalustraden auf Dachtraufen, Giebelschrägen und Galerien des Rathauses von Löwen, 1448–1469
Rathaus in Bad Waldsee, Zinnengiebel mit Maßwerkbalustrade
Maßwerkbekrönung auf einem Stufengiebel,
Bürgermeisterhaus, 1538, Herford

Hölzernes Maßwerk

In der Gotik und dann wieder in der Neugotik gestaltete man gerne Wandverkleidungen, Profanmöbel (Sessel, Schränke und Truhen) und hölzerne Einrichtungsgegenstände für Kirchen (Kirchenbänke, Altäre, Kanzeln und Emporen) mit filigranen Schnitzereien, die dem gotischen Maßwerk nachempfunden waren. Auch diese Kunstschreiner-Arbeiten werden daher als Maßwerk bezeichnet. So setzte beispielsweise Erhart Falckener häufig fein ausgestochenes Blendmaßwerk auf die Flachschnittflächen seiner Kirchenmöbel.

Eisernes Maßwerk

In der Neugotik wurde Maßwerk auch in Gusseisen ausgeführt. Bekanntestes Beispiel ist der Vierungsturm der Kathedrale von Rouen, dessen 151,5 m hohe Turmspitze im Jahre 1877 komplett aus Gusseisen fertiggestellt wurde. Bis zur Fertigstellung des Kölner Doms 1880 hatte damit Rouen das höchste Gebäude der Welt.

Literatur

  • Günther Binding: Maßwerk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989, ISBN 3-534-01582-7
  • Leonhard Helten: Mittelalterliches Maßwerk. Entstehung – Syntax – Topologie. Reimer, Berlin 2006, ISBN 3-496-01342-7.
  • Lottlisa Behling: Gestalt und Geschichte des Maßwerks (1. Aufl. Halle a. d. Saale, 1944) 2. Aufl. Böhlau, Köln 1978, ISBN 3-412-03077-5

Einzelnachweise

  1. Vgl. aber im Artikel Goldener Schnitt die Kritik an der historischen Lehre vom Goldenen Schnitt

Weblinks

Commons: Maßwerksfenster – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: Gables – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien