Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow

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Petrow (links) bei der Verleihung des Dresden-Preis in der Semperoper; Februar 2013

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow (russisch Станислав Евграфович Петров, wiss. Transliteration Stanislav Evgrafovič Petrov; *  9. September 1939) ist ein Oberstleutnant a. D.[1] der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte. Am 26. September 1983 stufte er als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom System gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR als Fehlalarm ein. Damit verhinderte er womöglich das Auslösen eines Atomkriegs, des befürchteten Dritten Weltkriegs.[1]

Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung und wegen politischer Spannungen wurde Petrows Vorgehen erst in den 1990er Jahren publik.[2]

Hintergrund

Spätestens ab 1947 befanden sich die USA und die UdSSR in einem mit unterschiedlicher Intensität geführten so genannten Kalten Krieg.

Die Spannungen zwischen den beiden Supermächten führten zur Bildung der beiden Bündnissysteme NATO und Warschauer Pakt und gipfelten in einem beispiellosen Wettrüsten. Beide Parteien versuchten, ihre Positionen mit Hilfe von mächtigeren Waffenarsenalen zu festigen. Mit der erneuten Verschärfung der Spannungen um 1980 hatten beide Seiten bereits ein Vielfaches der zum Auslöschen des Gegners erforderlichen nuklearen Zerstörungskraft akkumuliert (Overkill). So entstand ein fragiles Gleichgewicht der Mächte, jeweils von automatischen Frühwarnsystemen beschirmt, die im Fall eines gegnerischen Erstschlages die absolute Vergeltung in Form der totalen Vernichtung des Angreifers auslösen sollten (Mutual assured destruction). Im Jahr 1983 war das Verhältnis zwischen den beiden Blöcken wegen Ronald Reagans Bezeichnung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ und der Ankündigung des Raketenabwehrprogramms SDI im März sowie als Folge des Abschusses des Korean-Airlines-Flugs 007 durch die Sowjetunion am 1. September zusätzlich gespannt.

Der Vorfall

Am 26. September 1983 war Oberstleutnant Stanislaw Petrow diensthabender Offizier im Serpuchow-15-Bunker (ungefähr 50 Kilometer südlich von Moskau). Seine Aufgabe bestand in der computer- und satellitengestützten Überwachung des Luftraumes. Im Fall eines nuklearen Angriffes auf die UdSSR sah die Strategie einen mit allen Mitteln geführten sofortigen nuklearen Gegenschlag vor.

Kurz nach Mitternacht meldete der Computer eine auf die Sowjetunion anfliegende US-amerikanische Atomrakete. Petrow schlussfolgerte die Unwahrscheinlichkeit eines mit einer einzelnen Rakete durchgeführten Erstschlages, da der massive Gegenschlag die totale Auslöschung des Aggressors bedeuten würde. Zusätzlich war die Verlässlichkeit des Satellitensystems (Kosmos 1382)[1] zuvor mehrfach in Frage gestellt worden. Auf Satellitenaufnahmen der US-Militärbasis konnte Petrow keine Rakete erkennen. Da die Basis jedoch zu dem Zeitpunkt genau auf der Tag-Nacht-Grenze lag, hatten die Bilder nur eingeschränkte Aussagekraft. Petrow meldete der Militärführung einen Fehlalarm.[3] Kurze Zeit später meldete das Computersystem eine zweite, dritte, vierte und fünfte abgefeuerte Rakete. Da das Satellitensystem letztlich keine weiteren Raketen meldete, ging Petrow bei seiner Einschätzung weiterhin von einem Fehlalarm aus, da ein tatsächlicher Atomschlag seiner Ansicht nach mit deutlich mehr Waffen hätte stattfinden müssen. Dabei standen ihm keine anderen Daten zur Verfügung, um seine Einstufung im maßgeblichen Zeitraum überprüfen zu können. Das landgestützte sowjetische Radar konnte keine zusätzlichen Daten liefern, da dessen Reichweite dafür zu kurz war.

Petrow stand während dieser Entscheidungsphase unter erheblichem Druck: Einerseits würde eine Weiterleitung von fehlerhaften Satellitendaten (Fehlwarnung) zu einem sowjetischen Atomschlag führen. Andererseits würden im Falle eines tatsächlichen US-amerikanischen Angriffs umgehend dutzende nukleare Sprengköpfe auf sowjetisches Territorium niedergehen und seine Einstufung der Satellitenwarnung als Falschmeldung eine gravierende Einschränkung der sowjetischen Handlungsoptionen bedeuten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Sowjetunion damals eine dezentral organisierte Zweitschlagfähigkeit als Gegenmaßnahme gegen Enthauptungsstrategien erst teilweise aufgebaut hatte.

Am Morgen stellte sich heraus, dass Petrows Einschätzungen richtig waren – das satellitengestützte sowjetische Frühwarnsystem hatte Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana, wo auch US-amerikanische Interkontinentalraketen stationiert waren, als Raketenstarts fehlinterpretiert.

Auch wenn den Befehl zum Gegenschlag letztlich noch das sowjetische Oberkommando und die Staatsführung hätten geben müssen, hatte Petrow durch sein Verhalten die hierarchische Kettenreaktion bis zu einem möglichen Nuklearkrieg rechtzeitig unterbrochen.

Das Nachspiel

Petrow wurde für sein Verhalten seitens seiner Vorgesetzten weder belobigt noch belohnt – aber auch nicht bestraft. Eine ursprünglich für sein Handeln geplante Ordensverleihung blieb aus, denn als sich der Grund für die Anfälligkeit des Systems herausgestellt hatte, zogen Vorgesetzte die Geheimhaltung vor, um ihr eigenes Gesicht zu wahren.[4] Jedoch erhielt er später einen Orden für andere Verdienste um den Aufbau der Anlage und wurde schließlich noch befördert. Er verließ das Militär im Folgejahr aus rein familiären Gründen, kehrte jedoch später als Zivilist wieder auf seinen früheren Posten zurück. Heute lebt Petrow als Rentner in Frjasino.

Die Association of World Citizens mit Sitz in San Francisco zeichnete Petrow sowohl am 21. Mai 2004 in Moskau – wo ihm mit der Auszeichnung auch 1000 US-Dollar überreicht wurden – als auch am 19. Januar 2006 im UN-Hauptquartier in New York mit dem World Citizen Award aus.[4]

Am 24. Februar 2012 wurde Stanislaw Petrow mit dem Deutschen Medienpreis ausgezeichnet.[5]

Am 17. Februar 2013 wurde Stanislaw Petrow in der Dresdner Semperoper der mit 25.000 Euro dotierte Dresden-Preis 2013 verliehen.[6][7]

Populärkultur

  • Der ebenfalls im Jahre 1983 entstandene US-amerikanische Film WarGames – Kriegsspiele behandelt ein ähnliches Szenario, in dem ein (allerdings US-amerikanischer) Befehlshaber an der Realität des vom Rechner angezeigten Raketenangriffs zweifelt.
  • Die Stoner Rock Band Beehoover widmete Petrow ein Lied.[8]
  • 2014 entstand der Dokumentarfilm: „The Man Who saved the World – Der Mann, der die Welt rettete“ in Kooperation von Russland, Dänemark und den USA (Dauer bei Arte im August 2015: 106 min)

Siehe auch

  • RJaN
  • Wassili Archipow (sowjetischer Marineoffizier, der während der Kubakrise an Bord des mit nuklearen Torpedos bestückten U-Bootes B-59 war)
  • Das sowjetische Filmdrama Briefe eines Toten, aus dem Jahr 1986, beschreibt die Welt nach einem Atomkrieg, der durch einen Computerfehler ausgelöst wurde.

Weblinks

Commons: Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c Benjamin Bidder: Der Mann, der den Dritten Weltkrieg verhinderte, in: einestages, 21. April 2010.
  2. Laut Interview mit Petrow, FAZ.NET (18. Februar 2013, eingesehen 21. Februar 2013), 1993 durch einen Artikel in der Prawda; ebenso das Interview in welt.de (29. Februar 2012, eingesehen 21. Februar 2013); laut Spiegel Online (21. April 2010, eingesehen am 21. Februar 2013) 1998 durch ein Interview mit Generaloberst Votintsev
  3. Heike Vowinkel: „Um 0.15 Uhr ging die Hölle los“ Interview mit Petrow in Welt Online. 27. Februar 2012, abgerufen am 28. Februar 2012
  4. a b Petrows Entscheidung. Die Zeit, 18. September 2008, abgerufen am 4. Oktober 2011.
  5. Deutscher Medienpreis 2011 für Dr. Sakena Yacoobi, Dr. Mitri Raheb, Stanislaw Petrow und Dr. Denis Mukwege. Deutscher Medienpreis, abgerufen am 24. Februar 2012.
  6. Früherer Sowjetoffizier erhält Dresden-Preis 2013. MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK, abgerufen am 16. November 2012.
  7. „Ich wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg.“ Auf dradio.de, 17. Februar 2013. Abgerufen am 16. März 2013.
  8. Recordings. Beehoover, abgerufen am 16. November 2011 („Stanislav Petrov“ auf „Heavy zooo“ (2008)).