Wilhelm Sander (SA-Mitglied)

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Wilhelm Sander (um 1930)
Wilhelm Sander (1934).

Bernhard Julius Wilhelm Sander (* 14. Juni 1895 in Aurich; † 1. Juli 1934 in Berlin-Lichterfelde) war ein deutscher SA-Führer, zuletzt im Rang eines SA-Brigadeführers. Er wurde bekannt als Stabschef der Berliner SA in den Jahren 1933 und 1934 sowie als eines der Opfer des sogenannten „Röhm-Putsches“.

Leben und Wirken

Deutsches Kaiserreich und Weimarer Republik (1895 bis 1933)

Nach dem Schulbesuch nahm Wilhelm Sander am Ersten Weltkrieg teil. Zu seinen Kriegskameraden gehörte unter anderem der spätere Katholikenführer Erich Klausener. Nach dem Krieg gehörte Sander der Preußischen Polizei an, aus der er nach einem Vorfall im Jahr 1922 als Polizeihauptmann a.D. entlassen wurde.

Ende der 1920er Jahre schloss Sander sich der NS-Bewegung an: Er wurde Mitglied der NSDAP und der SA. Zum 15. Mai 1931 wurde Sander unter Beförderung zum Standartenführer zum Führer der SA-Standarte 5 (Horst Wessel) in Berlin ernannt.[1] Diese Einheit führte er bis ins Jahr 1933, wobei er während des mehrmonatigen von der Regierung Brüning im April 1932 erlassenen SA-Verbotes vom Frühsommer 1932 diese Stellung zwar heimlich weiterhin ausübte, sie offiziell aber nicht inne hatte. Anlässlich der Wiederaufstellung der SA im Juli 1932 wurde er wieder als Führer der SA-Standarte 5 eingesetzt.[2]

NS-Zeit

Als Karl Ernst im März 1933, wenige Wochen nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, zum Führer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg ernannt wurde, wurde Sander als Stabschef der Gruppe eingesetzt. Im selben Jahr wurde Sander auch wieder in die Preußische Polizei aufgenommen, allerdings gleichzeitig mit seiner Wiederaufnahme aufgrund seiner Aufgaben im Stab von Ernst beurlaubt. Außerdem übernahm er die Funktion des Verbindungsmannes der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg zur Preußischen Polizei.

Am 20. April 1934 wurde Sander in den Rang eines SA-Brigadeführers befördert.[3]

Ermordung während des Röhm-Putsches

Am 1. Juli 1934 wurde Sander als zweithöchster Funktionär der Berliner SA im Zuge der als Röhm-Putsch bekannt gewordenen politischen Säuberungswelle der NS-Regierung vom Frühsommer 1934 erschossen.

Über sein Schicksal an diesem Tag ist folgendes bekannt: Nach Der Darstellung von Heinrich Bennecke reiste Sander in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1934 anlässlich einer für diesen Tag in Bad Wiessee bei München angesetzten SA-Führertagung mit dem Zug nach München. Dort sollte er seinen Vorgesetzten Karl Ernst, der sich entschieden hatte, aufgrund einer längeren Urlaubsreise nach Madeira, zu der er an diesem Tag aufbrechen wollte, nicht selbst an der Tagung teilzunehmen, als Repräsentant der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg vertreten. Am Mittag des 30. Juni nahm er an einer von Hitler kurzfristig einberufenen Sitzung aller nach München gekommenen höheren SA-Führer, die zu diesem Zeitpunkt nicht verhaftet waren, im Senatssaal des Braunen Hauses teil, bei der Hitler in einer Rede die Absetzung Ernst Röhms als Stabschef der SA und die Verhaftung aller in einen angeblich von Röhm geplanten Putsch gegen ihn, Hitler, verwickelten SA-Führer bekanntgab. Bennecke gibt an, dass er selbst miterlebt hätte, wie Sander kurz nach dem Ende von Hitlers Vortrag beim Verlassen des Braunen Hauses verhaftet worden sei. Kurz zuvor will er, Bennecke, bei einem Anruf in Berlin noch gefragt worden sein, wer die Gruppe Berlin-Brandenburg auf der geplanten Führertagung vertreten würde. Bennecke schlussfolgerte später, dass er mit der Nennung von Sanders Namen wahrscheinlich unwissentlich die Veranlassung dafür gegeben hätte, dass in Berlin der Befehl zur Verhaftung Sanders erteilt worden sei, der kurze Zeit später in München eingegangen sei und zur Festnahme Sanders geführt habe.[4]

Einer anderen Quelle zufolge soll Sander die Ereignisse des 30. Juni in Berlin erlebt und geglaubt haben, die dortigen Verhaftungen wären eine Sonderaktion Görings, der wahnsinnig geworden sei. Daraufhin erst soll er versucht haben nach München zu reisen, um Adolf Hitler von den Berliner Ereignissen zu verständigen.

Wohl in den frühen Morgenstunden des 1. Juli wurde Sander nach Berlin gebracht, wo er im Laufe des 1. Juli auf dem Gelände der Kadettenanstalt Lichterfelde von einem SS-Kommando erschossen wurde. Ein Tagebucheintrag von Joseph Goebbels über eine Besprechung von ihm mit Hitler am Mittag des 1. Juli 1934, bei der „mit größtem Ernst“ „Todesurteile“ gefällt wurden, legt nahe, dass auch der Fall Sander bei dieser Gelegenheit zur Sprache kam. Goebbels notiert kursorisch: „Ernst, Straßer, Sander, Detten +. Noch ein letztes Handeln, dann ist alles ausgestanden. Es fällt schwer, ist aber nicht zu umgehen.“[5]

Einem Bericht der Sopade zufolge soll Sander sich bei der Erschießung in Lichterfelde „außerordentlich feige“ benommen haben: Er habe sich im Angesicht des Exekutionskommandos immer wieder auf die Erde geworfen, so dass er immer aufs Neue aufgerichtet hatte werden müssen, bis man ihm schließlich am Boden liegend ins Gesicht geschossen habe.[6]

Hauptgrund für die Exekution Sanders dürfte seiner Zugehörigkeit zum Stab von Karl Ernst gewesen sein, dessen Umfeld besonders stark von der Säuberungsaktion des 1. Juli betroffen war: So wurden außer Sander auch Ernsts Adjutant Walter von Mohrenschildt, sein Rechtsberater Gerd Voss, sein Referent Daniel Gerth sowie sein Freund Erwin Villain erschossen.[7]

Nachleben

Nach seiner Ermordung wurde Wilhelm Sander immer wieder mit dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 in Verbindung gebracht. So taucht sein Name insbesondere im sogenannten „Ernst-Testament“ als der eines der angeblichen Hintermänner des Brandes auf: Bei diesem Dokument handelt es sich um ein erstmals im Herbst 1934 in französischen Zeitungen veröffentlichtes, vermeintlich von Karl Ernst einige Wochen vor seiner Ermordung verfasstes, politisches Testament, in dem Ernst sich scheinbar dazu bekannte, der Hauptorganisator des Reichstagsbrandes gewesen zu sein. Laut dem Text des Testamentes selbst soll Ernst dieses als eine Art Lebensversicherung angefertigt haben, um sich vor den Nachstellungen anderer NS-Führer zu schützen, indem er es im sicheren Ausland verstecken ließ und androhte, dass seine Vertrauensleute dieses die NS-Führung kompromittierende Dokument der ausländischen Presse zur Veröffentlichung übergeben würden, falls er eines gewaltsamen Todes sterben sollte.[8]

In der im Ernst-Testament präsentierten Beschreibung der vermeintlichen Hintergründe und des Ablaufes der Inbrandsetzung des Reichstagsgebäudes heißt es, dass Sander derjenige gewesen sei, der den am 28. Februar 1933 von der Polizei als Brandstifter im brennenden Reichstag verhafteten und hingerichteten Niederländer Marinus van der Lubbe in den Tagen vor den Brand auf seine Aufgabe als Brandstifter (bzw. Entzünder eines vorbereiteten Brandherdes) vorbereitet habe (so habe Sander den Gebäudeplan des Reichstags mit Lubbe vorab einstudiert, mit ihm die zur Brandstiftung erforderlichen Handlungsabläufe so oft gedanklich durchexerziert, bis dieser sie beherrscht habe usw.) sowie dass Sander es gewesen sei, der van der Lubbe am Abend des 28. Februar zum Reichstagsgebäude gebracht und sein Eindringen in dasselbe durch ein Fenster im Restaurationsbereich überwacht habe.[9] In zahlreichen Publikationen wie dem Weissbuch über die Erschießungen vom 30. Juni 1934 wurde daher bereits wenige Monate nach Sanders Ermordung behauptet, dass der Grund für seine Ermordung während der Röhm-Affäre gewesen sei, dass er der NS-Führung als unliebsamer Mitwisser der nationalsozialistischen Brandurheberschaft unliebsam gewesen sei.[10]

Seit den 1960er Jahren wird das „Ernst-Testament“ in der historischen Forschung überwiegend als Fälschung angesehen. Die dortige Behauptung, dass Sander in den Reichstagsbrand verwickelt gewesen sei, ist daher von die Authentizität des Ernst-Testaments bestreitenden Autoren wie Fritz Tobias, Hans Mommsen oder Sven Felix Kellerhoff ebenfalls auch als unzutreffend verworfen.[11]

Einzelnachweise

  1. Führebefehl der Obersten SA-Führung Nr. 7 vom 10. Februar 1932, S. 2.
  2. Führebefehl Nr. II der Obersten SA-Führung vom 9. September 1932, S. 7.
  3. Führerbefehl der Obersten SA-Führung Nr. 23a vom 20. April 1934, S. 3.
  4. Heinrich Bennecke: Die Reichswehr und der Röhm-Putsch, S. 58. Übereinstimmend auch die Erwähnung der Verhaftung Sanders im Tagebuch von Victor Lutze, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 14. bis 16. Mai 1957
  5. Elke Fröhlich (Bearb.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1 (Aufzeichnungen), Bd. 3/I, S. 73.
  6. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Deutschland-Bericht der Sopade. Jg. 1, 1934, S. 193.
  7. Siehe die Analyse zur „vertikalen“ Struktur, nach der die Erschießungen in der Form vorgenommen wurden, die sich bei Karl Martin Grass: Edgar Jung, Papenkreis und Röhmkrise 1933-34, 1966, S. 293 sowie Anhangteil S. 88 findet. Grass zufolge wurden nicht etwa alle SA-Führer einer bestimmten (hohen) Rangstufe nach einem horizontalen Prinzip in gleicher Weise erschossen (also z.B. alle Gruppenführer), sondern es wurden nur einige bestimmte höhere Führer erschossen, um dann, nach unten gehend, ihre persönlichen „Umgebungsclans“ (Stabsführer, Adjutanten usw.) in Form eines vertikalen Schnitts mitzuerschießen. Entsprechende Angaben finden sich auch bereits in dem Memoirenwerk von Hans Bernd Gisevius: Bis zum bitteren Ende: Vom Reichstagsbrand bis zum 20. Juli 1944. Vom Verfasser auf den neuesten Stand gebrachte Sonderausgabe, 1960, S. 155.
  8. Zum Ernst-Testament, vgl. die folgende Fußnote.
  9. Die entsprechenden Teile des Ernst-Testaments finden sich abgedruckt im Weissbuch über die Erschiessungen des 30. Juni, Paris 1934, S. 116f.; ebenso bei Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit, 1962, S. 663; sowie summarisch zusammengefasst bei Alexander Bahar/Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand: Wie Geschichte gemacht Wird, 2001, S. 562.
  10. Weissbuch über die Erschiessungen des 30. Juni, S. 106.
  11. Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit, 1962, S. 250f.