Dolchstoßlegende

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Der Dolchstoß - Titelblatt der Süddeutschen Monatshefte, April 1924

Die Dolchstoßlegende war in der Zeit der Weimarer Republik eine Verschwörungstheorie aus dem deutschnational und völkisch gesinnten Umfeld der extremen Rechten. Sie besagte, das deutsche Heer sei im Ersten Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und hätte durch die Novemberrevolution von 1918 einen „Dolchstoß von hinten“, also aus der Heimat, erhalten. Die Legende erwies sich als eine der verhängnis- und wirkungsvollsten Propagandalügen der deutschen Geschichte.

Begriffsbildung

Der Begriff geht auf einen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Dezember 1918 zurück, in dem der britische General Sir Frederick Maurice mit folgenden Worten zitiert wurde:

Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: Sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.

Das Zitat geht auf mehrere Artikel von Maurice in den Daily News zurück. Die Metapher wurde vom konservativ-nationalistischen deutschen Bürgertum bereitwillig aufgegriffen, da sie eine willkommene Erklärung für die im Herbst 1918 als überraschend empfundene Niederlage lieferte: Statt mit der strukturellen militärischen und ökonomischen Unterlegenheit des Zweibunds gegenüber der durch den Kriegseintritt der USA entscheidend verstärkten Entente und dem Versagen der politisch-militärischen Führung wurde der Ausgang des Krieges jetzt monokausal und personalistisch mit den angeblich zersetzenden Umtrieben der politischen Linken erklärt.

Frühe Agitation der Obersten Heeresleitung

Dass auch die Oberste Heeresleitung die gleiche Erklärung propagierte, verlieh der Dolchstoßlegende ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Paul von Hindenburg sagte am 18. November 1919 vor dem öffentlich tagenden Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung aus, die heimliche und systematische Zersetzungsarbeit der Parteien der Linken hätte das Heer zermürbt und seine kraftvolle Zusammenarbeit mit der Heimat „unmöglich“ gemacht.

So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen. Die Revolution bildete nur den Schlußstein. Ein englischer General sagte mit Recht: ‚`Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden`. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen.

Als Beleg verwies er neben dem erwähnten General Maurice auf seinen ehemaligen Generalquartiermeister Erich Ludendorff. Dabei erwähnte er nicht, dass dieser und er selbst die Reichsregierung am 29. September 1918 ultimativ aufgefordert hatten, Waffenstillstandsverhandlungen mit Präsident Wilson aufzunehmen, nachdem die Sommeroffensive von 1918 gescheitert war und Österreich-Ungarn um Waffenstillstand gebeten hatte. Nach einem Nervenzusammenbruch aufgrund der völlig hoffnungslosen und desolaten Lage an der Westfront hatte Ludendorff seinen Offizieren schon am Abend dieses Tages – also fünf Wochen vor Ausbruch der Revolution – gesagt, er habe

den Kaiser gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.

Dass er – mit Hindenburg als Aushängeschild – seit 1916 wie ein Militärdiktator herrschte, dass „diese Kreise“ folglich kaum über Einfluss verfügten und dass er diese bis in die letzten Tage mit geschönten Berichten über die wahre Lage bewusst getäuscht hatte, erwähnte er dabei wohlweislich nicht.

Unterstützende Momente der These

Geschürt wurde die Legende von der Zersetzung im Inneren durch den Umstand, dass die Bitte um Waffenstillstand zu einem Zeitpunkt erfolgte, als das deutsche Heer immer noch weit in Feindesland stand und kein Soldat der Entente deutschen Boden betreten hatte. Der Abzug der deutschen Truppen vollzog sich selbstständig und geordnet, was den Eindruck vermittelte, dass das Heer nicht aus reiner Not, sondern auf Grund einer politischen Entscheidung heimkehrte. Dass diese Entscheidung in einer militärisch völlig ausweglosen Notlage und zu dem Zweck gefallen war, eine feindliche Besetzung Deutschlands, einen völligen Zusammenbruch der Front und ein ungeordnetes Zurückfluten der deutschen Soldaten zu verhüten, war somit nicht unmittelbar erkennbar. Die Propaganda der kaiserlichen Regierung hatte zudem über vier Jahre den bevorstehenden Sieg in leuchtenden Farben ausgemalt. Der Sieg über Russland im Friedensdiktat von Brest-Litowsk am 3. März 1918 schien diese Propaganda zu bestätigen. Bei den Waffenstillstandsverhandlungen von Compiègne war die Regierung außerdem gezwungen, die Bitte um ein Ende der Kämpfe als politische Entscheidung darzustellen, da eine Kritik an den Generälen und ein Eingestehen der militärischen Niederlage die Verhandlungsposition noch weiter geschwächt hätten.

Hinzu kam, dass sich Politiker der Linken und der Mitte in ähnlicher Weise äußerten: Der Vorsitzende des Rats der Volksbeauftragten, der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert begrüßte die heimkehrenden deutschen Soldaten mit dem Ausruf, sie seien „im Felde unbesiegt“ geblieben, und der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer vom Zentrum bescheinigte der Reichswehr, sie kehre „nicht besiegt und nicht geschlagen“ in die Heimat zurück.

Auf der äußersten Linken wurde die Revolution sogar explizit mit dem eigenen Wirken erklärt. Der sowjetische Außenminister Tschitscherin behauptete:

Der preußische Militarismus wurde zermalmt nicht durch die Geschütze und Tanks des verbündeten Imperialismus, sondern durch die Erhebung der deutschen Arbeiter und Soldaten.

Agitation im Lauf der Weimarer Republik

Die Deutschnationalen, die so genannten Völkischen und die Nationalsozialisten griffen die Dolchstoßlegende begierig auf, verknüpften sie mit der These, Deutschland sei unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und nutzten sie propagandistisch für ihre Zwecke aus. Denn wenn das angeblich unbesiegte deutsche Heer durch einen „Dolchstoß“ der Linken um den Sieg gebracht worden sei, dann hätten die Revolutionäre vom November 1918 und die demokratischen Politiker Schuld an der Niederlage und am folgenden Versailler Vertrag. Sie wurden deshalb als „Novemberverbrecher“ bezeichnet, die durch ihren „Verrat“ die Niederlage Deutschlands verschuldet hätten.

Die Dolchstoßlegende und die damit verbundene Rede von den „Novemberverbrechern“ war eine schwere Belastung für die junge Weimarer Demokratie. Sie trug wesentlich dazu bei, die staatstragenden Parteien der Weimarer Koalition in der Öffentlichkeit zu delegitimieren und trug zur Zerstörung der Republik bei. In diesem Zusammenhang kam es zu Beginn der 20er Jahre auch zu mehreren politischen Morden (etwa denen an Matthias Erzberger und Walther Rathenau).

Spätfolgen im Zweiten Weltkrieg

Die Dolchstoßlegende spielte vor allem auch in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges eine verhängnisvolle Rolle. Viele Offiziere lehnten es ab, sich an einem von einigen Angehörigen der Wehrmacht (beispielsweise im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944) geplanten Putsch gegen Hitler zu beteiligen – auch als es keine Chancen auf einen militärischen Sieg mehr gab –, weil sie das Entstehen einer neuen Dolchstoßlegende fürchteten.

Literatur

  • Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf 2003 [1]
  • Joachim Petzold: Die Dolchstoßlegende. 2. Auflage, Berlin 1963.
  • Irmtraud Permooser: Der Dolchstoßprozeß in München 1925, In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 59/1996, S.903-926 [2]
  • Rainer Sammet: »Dolchstoß«. Deutschland und die Auseinandersetzung mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg (1918–1933). trafo Verlag, Berlin 2003.
  • Wolfgang Benz (Hg.): Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte, 6. Auflage, dtv München 1992