Häftlingsfreikauf

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Als Häftlingsfreikauf bezeichnet man inoffizielle Transaktionen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Für die Freilassung politischer Gefangener zahlte die Bundesrepublik der DDR eine bestimmte Summe Devisen oder Waren. Auf eigenen Wunsch wurden die freigekauften Gefangenen in die Bundesrepublik ausgebürgert; oft direkt aus der Haft heraus und ohne sich vorher von ihren Angehörigen oder Mithäftlingen verabschieden zu können.

Der Häftlingsfreikauf begann Ende 1962 und endete ab Oktober 1989 infolge der beginnenden Freilassung der politischen Gefangenen in der Zeit der Wende und friedlichen Revolution in der DDR.[1] Zwischen 1964 und 1989 wurden insgesamt 33.755 politische Häftlinge freigekauft (für insgesamt etwa 3,5 Milliarden D-Mark nominell, also in damaliger jeweiliger Kaufkraft). Außerdem wurden etwa 250.000 Ausreisewillige freigekauft (also Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten).[2]

Dieser Geldfluss von West nach Ost trug zur Stabilisierung der DDR bei, die ab den 1970er Jahren in ständigen Finanznöten steckte.

Das Diakonische Werk der EKD in Stuttgart spielte bei der Vermittlung eine gewisse Rolle. Die Kontakte zwischen Kirchen und Kirchengemeinden in Deutschland waren eng und wurden von der SED geduldet.

Geschichte

Entwicklung des Häftlingsfreikaufs 1963–1989

Der erste Häftlingsfreikauf wurde Weihnachten 1962 realisiert: 20 Häftlinge und ebenso viele Kinder kamen gegen die Lieferung von drei Waggon-Ladungen Kalidünger frei.[2] Bundeskanzler war damals (seit 1949) Konrad Adenauer. Er hatte nach einer Koalitionskrise am 14. Dezember 1962 das Kabinett Adenauer V berufen und darin Rainer Barzel zum Minister für gesamtdeutsche Fragen. Die Häftlingsfreikäufe wurden bis 1989, einige Zeit vor dem Fall der Mauer, praktiziert. Sie wurden inoffiziell auf Regierungsebene ausgehandelt. Nachdem es zu Beginn noch um Einzelfälle gegangen war, wurde der Freikauf zunehmend organisiert. In der Zeit zwischen 1964 und 1989 wurden insgesamt 33.755 Häftlinge freigekauft. Der Preis pro Häftling betrug anfangs durchschnittlich ca. 40.000 DM und stieg später auf knapp 100.000 DM. Offiziell bemessen wurde die Summe an dem angeblichen „Schaden“, den der Häftling in der DDR angerichtet haben soll (so die halbamtliche Begründung) und dem Ersatz für die (kostenlose) Ausbildung bzw. das Studium. Tatsächlich hatte die DDR einen ständigen Devisenmangel und war sehr daran interessiert, an D-Mark oder andere konvertible Währungen zu gelangen. Außerdem entfiel mit dem Freikauf eines politischen Häftlings für die DDR das Problem, ihn wieder in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren: Der Historiker Stefan Wolle bezeichnet den Freikauf deshalb als „eine Art politischer Giftmüllentsorgung“.[3] Den Transport der freigekauften Häftlinge handhabte die DDR diskret; zum Beispiel waren bei zwei dazu eingesetzten West-Bussen der Marke Magirus-Deutz drehbare Nummernschilder eingebaut worden. Während der Fahrt auf ostdeutschem Gebiet zeigten die Busse Ost-Nummernschilder, um nicht aufzufallen; nach Passieren der innerdeutschen Grenze wurde per Knopfdruck auf West-Nummernschilder umgeschaltet.[4]

Vertrauter von Erich Honecker und Unterhändler der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland für den sogenannten „Humanitärbereich“ (Häftlingsfreikauf, Ausreisen) war der ostdeutsche Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (1925-2008). Seine Verhandlungspartner im Westen waren u. a. Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Ludwig A. Rehlinger, Walter Priesnitz und der Vizepräsident des Diakonischen Werkes, Ludwig Geißel. Andere Kontakte mit dem Rechtsanwalt Jürgen Stange und Mitarbeitern aus dessen Westberliner Kanzlei wie z.B. Herbert Taubert und Barbara von der Schulenburg sowie zu Ministerialdirektor Edgar Hirt vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in Bonn beförderten einen Skandal,[5] der um 1984 fast die humanitären Bemühungen zunichtegemacht hätte (vgl. dazu unter Literatur Brinkschulte et al.).[6] Auch der SPD-Politiker Hermann Kreutzer – er war 1949 als politischer Häftling zu 25 Jahren Haft verurteilt worden und 1956 freigekommen – hatte in den 1970er Jahren mit dem Häftlingsfreikauf zu tun.[7]

Kritik

Die Häftlingsfreikäufe wurden auch kritisch gesehen. So wurde zum einen das Potenzial der DDR-Opposition geschwächt und deren Druck auf die DDR-Führung bzw. das SED-Regime verringert. Auch galt der Häftlingsfreikauf als ein Anreiz für die DDR, viele politische Gefangene mit langen Haftstrafen zu „produzieren“. Zum Beispiel wurde das Haftmaß für den Straftatbestand der schweren Republikflucht 1979 von fünf auf acht Jahre erhöht.

Siehe auch

Literatur

  • Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR, 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-647-35079-0.
  • Wolfgang Brinkschulte, Hans Jörgen Gerlach & Thomas Heise: Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Frankfurt/M. & Berlin: Ullstein Report, 1993, ISBN 3-5483-6611-2.
  • Ludwig Geißel: Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen (mit einem Begleitwort von Manfred Stolpe). Stuttgart: Quell Verlag, 1991, ISBN 3-7918-1984-4.
  • Elke-Ursel Hammer: „Besondere Bemühungen“ der Bundesregierung Band 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch. Oldenbourg Verlag, München 2012, ISBN 978-3-486-70719-9.
  • Helmut Jenkis: Der Freikauf von DDR-Häftlingen. Der deutsch-deutsche Menschenhandel (Zeitgeschichtliche Forschungen Band 45), Duncker & Humblot, Berlin 2012, ISBN 978-3-428-83866-0.
  • Ludwig A. Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten. Frankfurt/M. & Berlin: Ullstein Verlag, 1991, ISBN 3-550-07503-0.
  • Jens Schmitthammer: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West. Hamburg: Verlag Hoffmann & Campe, 1987, ISBN 3-455-08665-9.
  • Craig A. Whitney: Advocatus Diaboli. Wolfgang Vogel – Anwalt zwischen Ost und West. Berlin: Siedler Verlag, 1993, ISBN 3-88680-510-7.
  • Jan Philipp Wölbern: Die Entstehung des „Häftlingsfreikaufs“ aus der DDR, 1962–1964. In: „Deutschland Archiv“ 41 (2008), 5; S. 856–867.
  • Kai Diekmann: Freigekauft. Der DDR-Menschenhandel. Piper Verlag, München 2012, ISBN 978-3-492-05556-7.
  • Alexander Koch: Der Häftlingsfreikauf. Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte. Allitera Verlag, München 2014, ISBN 978-3-86906-635-6.

Hörfunk

Einzelnachweise

  1. Information der Bundesregierung auf der Website „Deutsche Einheit“
  2. a b Klaus Schroeder: Der SED-Staat : Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990. Haner Verlag, München/Wien 1998, ISBN 3-446-19311-1, S. 191.
  3. Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Ch. Links, Berlin 1998, S. 209.
  4. Häftlingsdeals mit der DDR: Menschen gegen Maisladungen Onlineartikel bei einestages, abgerufen am 3. November 2012
  5. Der Spiegel 19. März 1984: Via Caritas – Ex-Minister Egon Franke soll vor Gericht, weil aus seinem Ministerium 5,6 Millionen Mark spurlos verschwanden.
  6. Der Spiegel vom 25. März 1985: Saubere Verhältnisse – Der SPD-Kanalarbeiter Egon Franke muß auf die Anklagebank. In seiner Ministerzeit sind seinem Haus 5,6 Millionen Mark abhanden gekommen.
  7. Am leeren Schreibtisch. In: Der Spiegel. Nr. 32, 1980, S. 22 f. (online).