Homo longi

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Homo longi

Zeichnung des Harbin-Schädels

Zeitliches Auftreten
0,309 bis 0,138 Mio. Jahre
Fundorte
Systematik
Menschenartige (Hominoidea)
Menschenaffen (Hominidae)
Homininae
Hominini
Homo
Homo longi
Wissenschaftlicher Name
Homo longi
Ji, Wu, Ji, Li & Ni, 2021

Homo longi ist die von chinesischen Paläoanthropologen 2021 vorgeschlagene Bezeichnung für einen fossilen homininen Schädel, der in der Nähe von Harbin im Nordosten der Volksrepublik China, vermutlich bereits im Jahr 1933, entdeckt worden war.[1] Die Stellung des Fundes im Stammbaum der Gattung Homo ist umstritten. Während ein Teil der chinesischen Forscher eine Nähe zum anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) zu erkennen glaubt, interpretieren andere Forscher den Fund als eher den Denisova-Menschen nahestehend[2] oder benennen den Schädel zurückhaltend als Harbin cranium („Harbin-Schädel“).[3]

Der Artname setzt sich zusammen aus der Gattungsbezeichnung Homo und dem Epitheton („Artzusatz“) longi, das auf die Provinz Heilongjiang verweist, in der der Fundort liegt. Da dieses long zugleich die Bezeichnung für den chinesischen Drachen ist, wurde dieser Artname in englischsprachigen Medien im Sinne eines Spitznamens zu „Dragon Man“ und in deutschsprachigen Medien zu „Drachenmensch“.[2][4]

Entdeckt wurde der Schädel mutmaßlich im Jahr 1933 von einem anonym gebliebenen Vertragsarbeiter, der für die damalige japanische Besatzungsmacht im Gebiet des von Japan errichteten Marionettenstaats Mandschukuo am Bau der Dongjiang-Brücke über den Fluss Songhua in der Nähe von Harbin arbeitete.[5] Unbemerkt von den japanischen Aufsehern – so die Überlieferung – entdeckte er eines Tages den Schädel am Flussufer und verbarg ihn vor den Japanern, vermutlich, weil Ende der 1920er-Jahre die Fossilien des Peking-Menschen auch in der chinesischen Öffentlichkeit große Beachtung gefunden hatten und er daher vom großen wissenschaftlichen Wert des Fundes überzeugt war. Der Arbeiter versteckte den Schädel – in China damals nicht ungewöhnlich – in einem aufgegebenen Brunnen. Nach Gründung der Volksrepublik China arbeitete der Mann in der Landwirtschaft und vermied alles, was ihn als ehemaligen Vertragsarbeiter für die japanischen Besatzer verraten hätte. Erst kurz vor seinem Tod berichtete er seinen Enkeln von dem Schädel, der daraufhin im Jahr 2018 aus seinem Versteck geholt und dem Geowissenschaftlichen Museum der Hebei GEO University (河北地质大学 / Héběi Dìzhì Dàxué) zur Verfügung gestellt wurde.

Der genaue Fundort des Schädels ist nicht bekannt, weswegen auch die geologische Schicht, aus der das Fossil entnommen wurde, ebenfalls nicht direkt bekannt ist. Gleichfalls nicht vorhanden sind Tierfossilien oder Artefakte, die zusammen mit dem Schädel geborgen wurden und anhand derer eine zumindest ungefähre Datierung (Altersbestimmung) möglich gewesen wäre. Selbst eine radiometrische Datierung des Schädels wurde durch den großen zeitlichen Abstand zwischen Entdeckung und wissenschaftlicher Bearbeitung erschwert. So ließ sich mit Hilfe der Uran-Thorium-Methode nur ein Mindestalter bestimmen, das den Analysen zufolge 146.000 bis 150.000 Jahre beträgt.[6]

Hilfsweise wurden mittels der Röntgenfluoreszenzanalyse diverse Tierfossilien aus der Region Harbin mit dem Schädel verglichen, mit dem Ergebnis, dass einige dieser Tierfossilien ähnliche Muster für Calcium, Phosphor, Eisen und Mangan aufwiesen wie der Schädel. Aus diesen Daten konnte geschlossen werden, dass der Schädel vermutlich aus der gleichen geologischen Schicht wie diese verlässlich dokumentierten Tierfossilien stammt. Des Weiteren wurden Anhaftungen aus der Nase des Schädels nach Metallen der Seltenen Erden gescannt und deren Konzentrationen ebenfalls mit den Konzentrationen von anderen, gesichert datierten Fossilien verglichen. Schließlich wurde mit Hilfe der Strontiumisotopenanalyse auch ein Vergleich von mineralischen Anhaftungen am Schädel und den Ergebnissen mehrerer Bohrungen unweit der Dongjiang-Brücke als Material für die Altersbestimmung herangezogen.

Aus all diesen Indizien wurde rekonstruiert, dass der Schädel aus dem obersten Bereich der Upper Huangshan Formation stammt, der mit Hilfe der optisch stimulierten Lumineszenz ein Alter von 309.000 bis 138.000 Jahren zugeschrieben wird.

Erstbeschreibung

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Holotypus und bislang einziges Fossil von Homo longi ist ein sehr gut erhaltener, massiver Schädel ohne Unterkiefer (Sammlungsnummer HBSM2018-000018[A]), dessen Mindestalter 148.000 ± 2.000 Jahre beträgt.[6] Das Innenvolumen des Schädels beträgt rund 1420 cm³, was sowohl annähernd der Gehirngröße des anatomisch modernen Menschen als auch der Gehirngröße des Neandertalers entspricht. Auch das kurze und flache Gesicht mit kleinen Wangenknochen deutet auf eine Nähe zu Homo sapiens hin. Die langgezogene und flache Schädeldecke, ausgeprägte Überaugenwülste, die Form der Augenhöhlen und der einzige erhaltene Zahn, ein sehr großer Backenzahn M2, erinnern hingegen an archaische Gruppen der Gattung Homo.[1]

Aufgrund der Beschaffenheit der Knochen wurde vermutet, der Besitzer des Schädels sei ein Mann und zum Todeszeitpunkt ungefähr 50 Jahre alt gewesen. Zugleich wurde aber erwähnt, dass der Zahnschmelz des Backenzahns nur gering abgekaut ist, was für ein deutlich jüngeres Lebensalter spreche. Die erhaltenen Zahnfächer geben Anlass zur Vermutung, dass auch die Frontzähne verhältnismäßig groß waren.[3]

In der Erstbeschreibung von Homo longi wird der Harbin-Schädel mit anderen, mutmaßlich ähnlich alten Schädelfunden aus China verglichen, insbesondere mit den von chinesischen Forschern als Dali-Mensch, Jinniushan-Mensch, Xuchang-Mensch und Maba-Mensch bezeichneten Fossilien sowie mit dem Schädelfund aus der Hualong-Höhle, von denen sich der Harbin-Schädel jedoch deutlich unterscheiden lasse. Man betone diese Unterschiede, indem man den Schädel einer eigenen Art zuschreibe. In einem mit „Anmerkungen“ überschriebenen Schlussabschnitt der Erstbeschreibung heißt es, jedoch ohne weitere Angabe von Merkmalen, vorausgesetzt der Harbin-Schädel und der Xiahe-Unterkiefer gehörten zu „Schwestergruppen“, dann sei es möglich, dass beide Fossilien zur gleichen Art (Homo longi) gehören; der Xiahe-Unterkiefer wurde anhand von DNA-Analysen als Überrest eines Denisova-Menschen identifiziert. In einer parallel zur Erstbeschreibung veröffentlichten morphologischen Analyse des Harbin-Schädels wurde dieser hingegen als Schwestergruppe von Homo sapiens ausgewiesen. Zudem wurde der Schädel durchgängig als Harbin-Schädel bezeichnet, der Artname Homo longi wurde nicht erwähnt.[3] Auch ein dritter, die Altersbestimmung des Schädels betreffender Bericht erwähnte den Artnamen nicht.[6]

Die einander widersprechenden Aussagen zu den mutmaßlichen Schwestergruppen und die Spekulation über eine mögliche Zugehörigkeit von Xiahe-Unterkiefer und Harbin-Schädel (von dem kein Unterkiefer existiert, so dass ein Vergleich der beiden Funde unmöglich ist) zur gleichen Art stieß in Fachkreisen umgehend auf Kritik. Sollte der Schädel tatsächlich zum Denisova-Menschen gehören, dann könne er keine Schwestergruppe des Homo sapiens sein, der nächste Verwandte wäre dann der Neandertaler.[2] Dies könne jedoch nur eine DNA-Analyse klären, die beim Harbin-Schädel bislang noch nicht vorgenommen worden sei. Auch die Benennung einer homininen Art anhand eines einzigen Fossils ist heute in Fachkreisen umstritten.[7][8] Tatsächlich haben sich nur fünf der insgesamt mehr als ein Dutzend an der Untersuchung des Schädels beteiligten Wissenschaftler als Autoren der Erstbeschreibung für die Benennung einer neuen Art entschieden.

Die Studien zum Harbin-Schädel hatten ursprünglich in einer der renommierten Fachzeitschriften – Nature oder Science – erscheinen sollen. Laut Chris Stringer, einer der Co-Autoren, wurden im Peer-Review-Verfahren aber derart umfangreiche Änderungen am zunächst vorgelegten Text eingefordert, dass dieses Vorhaben aufgegeben wurde. Ersatzweise erschienen die Studien in „The Innovation“, einer erst seit Mai 2020 erscheinenden Onlinezeitschrift, die in Kooperation mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird.[9] Stringer sieht zudem eine so große Ähnlichkeit zwischen dem Harbin-Schädel und dem seit 1978 bekannten Schädel des Dali-Menschen, dass er beide gemeinsam – mit Priorität für den früheren Fund – als Homo daliensis bezeichnen würde.[10] Jean-Jacques Hublin wiederum hatte den Harbin-Schädel bereits im April 2020 in die Nähe der Denisova-Menschen gestellt.[11]

2024 wurde von zwei Paläoanthropologen in der Fachzeitschrift Nature Communications vorgeschlagen, auch die Fossilien des Jinniushan-Menschen und des Dali-Menschen der Art Homo longi zuzuordnen.[12]

  • Christopher J. Bae et al.: „Dragon man“ prompts rethinking of Middle Pleistocene hominin systematics in Asia. In: The Innovation. Band 4, Nr. 6, 2023, 100527, doi:10.1016/j.xinn.2023.100527.
  1. a b Qiang Ji et al.: Late Middle Pleistocene Harbin cranium represents a new Homo species. In. The Innovation. Onlineveröffentlichung vom 25. Juni 2021, doi:10.1016/j.xinn.2021.100132.
  2. a b c Stunning ‘Dragon Man’ skull may be an elusive Denisovan – or a new species of human. Auf: sciencemag.org vom 25. Juni 2021.
  3. a b c Xijun Ni et al.: Massive cranium from Harbin in northeastern China establishes a new Middle Pleistocene human lineage. In: The Innovation. Onlineveröffentlichung vom 25. Juni 2021, doi:10.1016/j.xinn.2021.100130.
  4. ‚Dragon Man‘ skull may be new species, shaking up human family tree. Auf: nationalgeographic.com vom 25. Juni 2021.
  5. Supplemental Information – Massive cranium from Harbin in northeastern China establishes a new Middle Pleistocene human lineage. S. 7.
  6. a b c Qingfeng Shao et al.: Geochemical provenancing and direct dating of the Harbin archaic human cranium. In: The Innovation. Onlineveröffentlichung vom 25. Juni 2021, doi:10.1016/j.xinn.2021.100131.
  7. Mysterious skull fossils expand human family tree – but questions remain. Auf: nature.com vom 25. Juni 2021.
  8. ‚Dragon man‘ claimed as new species of ancient human but doubts remain. Auf: newscientist.com vom 25. Juni 2021.
  9. Alles neu im Stammbaum des Menschen? Auf: science.orf.at vom 27. Juni 2021.
  10. Massive human head in Chinese well forces scientists to rethink evolution. Auf: theguardian.com vom 25. Juni 2021.
  11. Jean-Jacques Hublin: Denisovaner – Alles begann mit einem Fingerknöchelchen. Auf: spektrum.de vom 15. April 2020.
  12. Christopher J. Bae und Xiujie Wu: Making sense of eastern Asian Late Quaternary hominin variability. In: Nature Communications. Band 15, Artikel-Nr. 9479, 2024, doi:10.1038/s41467-024-53918-7.