Il Milione
Il Milione (deutsche Übersetzung: Der Milione) ist der Titel der toskanischen Handschriften und späterer italienischer Drucke einer Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Beschreibung von Marco Polos Reise in den Fernen Osten.
Name[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Milione war eventuell die Kurzform des Spitznamens der Polo-Familie Emilione. Die Bezeichnung ist jedoch nicht letztgültig geklärt: Gemeinhin pflegt man sie auch als Anspielung der Zeitgenossen auf Polos wenig glaubwürdig erscheinende Berichte von den sagenhaften Schätzen des Orients zu deuten. Das Buch ist auch bekannt als Le meraviglie del mondo oder Devisement du monde (deutsch: Die Wunder der Welt oder Erzählung der Welt).[1]
Der Titel der ursprünglichen Handschrift des Werkes war französisch und lautete vermutlich Le livre de Marco Polo citoyen de Venise, dit Million, où l'on conte les merveilles du monde („Das Buch des Marco Polo, Bürger der Stadt Venedig, genannt Milione, worin von den Wundern der Welt berichtet wird“).
Entstehung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Über die Entstehungsgeschichte seines Reiseberichts informiert Marco Polo seine Leser nur sehr kurz im letzten Satz des ersten Teils des Prologs. Demzufolge war er 1298 gemeinsam mit Rustichello da Pisa (auch Rusticiano da Pisa) in einem Genueser Gefängnis interniert, erzählte seinem Mithäftling von seinen Reiseerlebnissen und bat ihn, diese niederzuschreiben. Marco Polo unterließ es zu erwähnen, wie er drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Venedig in das Genueser Gefängnis kam und bringt auch keine näheren Angaben zur Person Rustichellos und über dessen Funktion als Schreiber der Reisememoiren. Zahlreiche Marco-Polo-Forscher nehmen zur Aufklärung des erstgenannten Punktes an, dass der Chinareisende als Kommandant einer Kriegsgaleere im September 1298 an der zwischen Venedig und Genua ausgetragenen Seeschlacht bei Curzola teilnahm und nach der venezianischen Niederlage in genuesische Gefangenschaft geriet.[2] In dem als Gefängnis genutzten Palazzo San Giorgio[3] lernte er dann Rustichello da Pisa kennen, der wohl schon nach der Seeschlacht bei Meloria (1284) von den Genuesen gefangen genommen worden war. Nach dem Friedensschluss zwischen Venedig und Genua im Mai 1299 kam Marco Polo wohl wie viele andere Kriegsgefangene frei, so dass zur Niederschrift seines Reiseberichts etwa 8 Monate Zeit geblieben wäre.[4]
Mit Rustichello da Pisa hatte Marco Polo einen versierten Schreiber zur Hand, da Rustichello sich schon als Kompilator von Artusromanen einen Namen gemacht hatte. Eine umstrittene Frage in der Marco-Polo-Forschung ist, wie die Zusammenarbeit des Chinareisenden und seines Schreibers vonstattenging. So führt Marco Polo nicht aus, ob er Rustichello seinen Bericht diktierte und Letzterer somit nur ein einfacher Schreiber gewesen wäre, oder ob Rustichello nicht zumindest bei der konkreten Textformulierung weitgehend freie Hand hatte. Manche Forscher nehmen an, dass Rustichello den Bericht nicht nur nach dem mündlichen Referat Marcos Polos abfasste, sondern sich auch auf schriftliche Aufzeichnungen Polos stützen konnte. Als Beleg für diese These dient eine Bemerkung des Chronisten Jacopo d’Aqui, demzufolge Marco Polo seinen Vater Niccolò Polo ersucht habe, ihm seine Reisenotizen ins Genueser Gefängnis zu schicken. Diese Angabe steht allerdings in Widerspruch zur durch das lateinische Zelada-Manuskript überlieferten Version des Il Milione, dass der Chinareisende bloß aus dem Gedächtnis heraus Rustichello seine Reisen geschildert habe.[5]
Der bedeutende Marco-Polo-Forscher Luigi Foscolo Benedetto, der für den von ihm herausgegebenen franko-italienischen Text der Pariser Handschrift BN, MS fr. 1116 die Entstehung des Textes analysierte, zeigte als Erster den großen Anteil Rustichellos bei der Gestaltung der Niederschrift des Reiseberichts. Er verglich dazu den Text der Handschrift mit jenem von Rustichellos Roman Meliadus. Dabei vermochte er zu zeigen, dass beide Texte bisweilen wörtliche Übereinstimmungen aufweisen. So beginnt etwa Rustichellos Meliadus mit fast dem gleichen Wortlaut wie der Il Milione, u. a. bei der Ansprache des Publikums („Ihr Kaiser, Könige und Fürsten …“). Beim später im Prolog geschilderten Empfang von Marco Polos Vater und Onkel während ihrer ersten Chinareise durch Kublai Khan wendet sich dieser mit denselben Worten an die Polos wie im Meliadus König Artus an Tristan. Dem mongolischen Großkhan wird hierdurch die Sprache westeuropäischer Ritter in den Mund gelegt. Gleiches gilt für die Darstellung des Empfanges des jungen Marco Polo durch Kublai Khan. So schmückte Rustichello Polos Reisebericht mit der Sprache der Courtoisie aus. Diese Verwendung der Sprache der höfischen Literatur eröffnete Marco Polo den Weg zu einem Publikum, das ansonsten meist Ritterromane las. Die Rolle Rustichellos, der Polos Reisebericht in eine ansprechende Form brachte, ging also weit über die eines ausschmückenden Literaten hinaus.[6]
Auf der verlorengegangenen Urschrift des Il Milione basieren circa 150[7] spätere, mitunter stark verfälschte Manuskripte. Erst die moderne Literaturwissenschaft unternahm es, so weit wie möglich den ursprünglichen Text wiederherzustellen, der dann 1928 in rekonstruierter Form veröffentlicht wurde.
Analyse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Das Werk, das an Umfang, Anzahl bereister Länder und Genauigkeit die anderen mittelalterlichen Reiseberichte übertrifft, ist kein chronologischer Reisebericht, der Ablauf der beiden Reisen wird nur im Prolog geschildert.[8] In den einzelnen Kapiteln werden jeweils geographische Angaben gemacht zu Ländern und Städten, die lokalen Produkte geschildert, Sitten und Sozialformen, historische Begebenheiten und Kuriositäten, wobei Marco Polo sich mehr für das Alltagsleben der Bewohner als die Natur interessiert. Obwohl das Werk ein weitgehend sachlicher Reisebericht ist, enthält es auch bluttriefende Erzählungen von Schlachten, anschauliche Beschreibungen prunkvoller Paläste, zauberhafter Gärten mit fremdartigen Blumen, feierlicher Zeremonien, Götzen und Potentaten. Mit seinen Erzählungen hat Polo ein Werk geschaffen, das sich durchaus mit den französischen Ritterromanen vergleichen lässt. Ein Höhepunkt des Buchs ist die Episode vom „Alten vom Berge“, der in abgewandelter Form bis in die neuere Zeit hinein mannigfaltige Interpretationen erfahren hat. Von historischem Wert ist besonders die Erzählung vom Leben in der prunkvollen Sommerresidenz des großen Khans sowie über Bräuche des alten chinesischen Kaiserreichs. Der Autor bleibt dabei stets dezent im Hintergrund. Seine Verzauberung durch die fremdartige Umgebung ist aber fortwährend spürbar.
Bedeutung des Werkes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Von Polos Zeitgenossen wurde sein Werk vielfach als Märchensammlung verkannt. Für das nachfolgende Zeitalter der Entdecker besaß es aufgrund der Fülle der in ihm enthaltenen geographischen und ethnographischen Angaben jedoch einen hohen Wert. So hatte Christoph Kolumbus eine Abschrift des lateinischen Reiseberichts in Besitz, die er mit zahlreichen Anmerkungen versah.[9]
Die Glaubwürdigkeit der Berichte Marco Polos ist in der Geschichtsforschung allerdings bis heute umstritten.[10]
Kritische Textausgaben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Bis heute grundlegend für die Franco-italienische Fassung F (erhalten in der Handschrift Paris, B.N. fr. 1116) ist die sogenannte Edizione integrale von Luigi Foscolo Benedetto, Marco Polo: Il milione, prima edizione integrale, a cura di Luigi Foscolo Benedetto, sotto il patronato della città di Venezia. (= Comitato geografico nazionale italiano. Publicazione Nr. 3). L. S. Olschki, Florenz 1928. Berücksichtigenswert sind außerdem die folgenden Ausgaben:
- Revidierte Ausgabe von Benedettos Edition der Version F und der toskanischen Version TA
Gabriella Ronchi: Marco Polo, Milione. Le divisament dou monde. Il Milione nelle redazioni toscana e franco-italiana. mit einem Vorwort von Cesare Segre, Mondadori, Mailand 1982. - Toskanische Fassung TA („Ottimo“)
Valeria Bertolucci Pizzorussa: Marco Polo, Milione. Versione toscana del Trecento. 2. verbesserte Ausgabe, Adelphi, Mailand 1982. - Lateinischer Text der Handschrift Z
Alvaro Barbieri: Marco Polo, Milione: redazione latina del manoscritto Z, versione italiana a fronte. Fondazione Pietro Bembo, Mailand; Guanda, Parma; 1998, ISBN 88-8246-064-9. - Venezianische Fassung VA3 Basishandschrift
Alvaro Barbieri, Alvise Andreose: Il Milione veneto: ms. CM 211 della Biblioteca civica di Padova. Marsilia, Venedig 1999, ISBN 88-317-7353-4. - Französische Fassung Fr („Grégoire“)
Philippe Ménard (leitender Herausgeber): Marco Polo, Le devisement du monde (= Textes littéraires français. Band 533, 552, 568, 575, 586) Droz, Genf 2001–2006, 5 Bände, ISBN 2-600-00479-3, ISBN 2-600-00671-0, ISBN 2-600-00859-4, ISBN 2-600-00920-5, ISBN 2-600-01059-9. - Lateinische Fassung von Francesco Pipino da Bologna P
Justin V. Prášek: Marka Pavlova z Benátek Milion: Dle jediného rukopisu spolu s přislušnym základem latinskym. Česká akademie věd a umění, Prag 1902.
Moderne Übersetzungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Die Wunder der Welt - Il Milione G. Basierend auf der franko-italienischen Fassung F und einigen Passagen des lateinischen Zelada-Manuskripts Z, Nachwort von Elise Guignard (= Insel-Taschenbuch Bd. 2981). Insel-Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 2009, ISBN 978-3-458-34681-4.
Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ Livre qui est appelé le Divisiment dou monde. - online Auf: gallica.bnf.fr; abgerufen am 30. Oktober 2020.
- ↑ Marina Münkler: Marco Polo. C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-43297-2, S. 55 f.
- ↑ Internationale Kolumbus-Ausstellung in Genua 1951. In: Universitas. Band 6, Nr. 2, 1951, S. 825–827.
- ↑ Marina Münkler: Marco Polo. 1998, S. 57.
- ↑ Marina Münkler: Marco Polo. 1998, S. 59 f.
- ↑ Marina Münkler: Marco Polo. 1998, S. 60–65.
- ↑ Dietmar Rieger: Marco Polo und Rustichello da Pisa. Der Reisende und sein Erzähler. In: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Rodopi, Amsterdam 1992, ISBN 90-5183-325-3, S. 289
- ↑ Tucci: Marco Polo. In: Robert Auty u. a.: Lexikon des Mittelalters. Band 7: Planudes bis Stadt (Rus'). Deutscher Taschenbuch Verlag, München/ Stuttgart 2003, ISBN 3-423-59057-2, Spalte 71.
- ↑ Gerlinde Tamerl: Der falsche Reiseführer für die neue Welt - Innsbrucker Wissenschafter erforschen den berühmten Marco-Polo-Reisebericht, müssen dabei aber schwierige Aufgaben bewältigen. - Tiroler Tageszeitung Online Auf: tt.com, letztes Update: 14. Januar 2020; zuletzt abgerufen am 3. Juli 2021.
- ↑ Frances Wood: Marco Polo kam nicht bis China. Secker & Warburg, London 1995, ISBN 3-492-03886-7.