Jeanne de Vietinghoff

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Jeanne de Vietinghoff, ca. 1905-1910

Jeanne Céline Emma de Vietinghoff, geborene Bricou (* 31. Dezember 1875 in Schaerbeek, heute Stadtteil von Brüssel; † 15. Juni 1926 in Pully bei Lausanne) war eine französisch schreibende Schriftstellerin.

Leben

Jeanne de Vietinghoff war die Tochter des belgischen Architekten Alexis Bricou. Die Mutter Emma Storm de Grave stammte aus holländischem Adel. Jeanne ging als evangelische Externe in die katholische Klosterschule „Couvent des Dames du Sacré-Coeur de Jette-Saint-Pierre“ in einem Brüsseler Vorort und befreundete sich dort mit Fernande Cartier de Marchienne, spätere de Crayencour. Nach einer tragisch endenden Verlobung mit einem schwedischen Grafen suchte sie Heil und Trost im Gebet und in der Religion. 1902 heiratete sie den jungen baltischen Baron Conrad von Vietinghoff. Beide verband eine tiefe gegenseitige menschliche Wertschätzung sowie der gemeinsame Sinn für Kunst, Ethik und Religion. Dieser ungewöhnlichen, auf seelisch-geistiger Verwandtschaft und überpersönlicher Liebe basierenden Ehe entstammen zwei Söhne: Der jüngere und relativ früh verstorbene Alexis, und Egon von Vietinghoff, der so kreative und unverwechselbare Maler und Autor.

Von 1902(?)-1907 lebte die Familie in Paris, von 1907-1913 in Wiesbaden, von 1913-1916 in Genf und ab 1916 in Zürich. 1922 erhielt sie das Schweizer Bürgerrecht, da Conrad als russischer Untertan durch die russische Revolution so gut wie staatenlos geworden war. Jeanne führte 25 Jahre lang ein großes Haus als Treffpunkt zu geistigen Anregungen und künstlerischem Austausch. Sie waren mit den Literaturnobelpreisträgern Maurice Maeterlinck und Romain Rolland ebenso befreundet wie mit den Musikern Pablo Casals und Carl Schuricht. Sie reisten zu ihren Verwandten ins Baltikum, nach Holland und Deutschland und machten Urlaubsfahrten nach Italien, Österreich und in die Schweiz. Wo sie auftrat, waren die Menschen von Jeannes überragender Persönlichkeit beeindruckt. Sie war die Personifikation einer Mischung von Schönheit, Würde, Intelligenz, Integrität, Originalität, spiritueller Tiefe und menschlicher Wärme. Und sie fand noch Zeit, fünf eigene Bücher zu schreiben. Dieses intensive Leben, die Verantwortung für den hochsensiblen Ehemann und die Kinder hat sie möglicherweise zu früh verbraucht. Sie starb mit nur 50 Jahren am Leberkrebs.

Jeanne als Idol von Marguerite Yourcenar

Jeanne und ihre Freundin Fernande waren z. T. gleichzeitig schwanger, die Freundin starb im Kindbett und Jeanne de Vietinghoff übernahm aus der Ferne eine Art Patenschaft über die Halbwaise Marguerite. Deshalb und wegen der starken Ausstrahlung Jeannes wurde sie zum Idol Marguerites, zur „erträumten Mutter“. Marguerite eiferte ihr nach, wurde ebenso Schriftstellerin und als Marguerite Yourcenar weltberühmt.

Marguerite Yourcenar über Jeanne de Vietinghoff: Sie besitzt das Genie des Herzens. Ich habe versäumt zu sagen, dass sie schön war. Sie starb fast noch jung, noch vor den Heimsuchungen des Alters, das sie nicht fürchtete. Weit mehr als ihr Werk erscheint ihr Leben mir vollkommen … (»Im Andenken an Diotima«)

Jeanne erscheint mehrfach in Yourcenars späteren Romanen, Essays und Gedichten, so in »Die neue Eurydike«, »Im Andenken an Diotima: Jeanne de Vietinghoff« (= Grabmal, in »Die Zeit, die große Bildnerin«), »Sieben Gedichte für eine Tote« sowie in der familiengeschichtlichen Trilogie Marguerite Yourcenars »Le Labyrinthe du monde« (»Das Labyrinth der Welt«). Jeanne und Conrad sowie auch ihre beiden Söhne kommen mit variierten Namen im letzten Band dieser Trilogie »Liebesläufe« vor. Nichtbiographische Assoziationen finden sich auch in »Der Fangschuss«.

Es ist jedoch eindringlich davon abzuraten, den Reichtum nachprüfbarer Details und die plausible Lebenstreue Yourcenars dahingehend zu missverstehen, ihre Bücher als autobiographische Dokumentationen anzusehen statt als Literatur. Ihre Bücher enthalten so viel Realität wie die Autorin als Kulisse braucht, um Antworten auf diejenigen Fragen zu entwerfen, welche sie seit dem Tode ihrer Mutter, d.h. seit ihrer Geburt, wie Variationen ihres vitalen Leitmotivs begleiteten. Yourcenar schrieb keine Berichte, sondern biographisch gefärbte Romane in historischer Kulisse oder romanhafte Betrachtungen mit mehr oder weniger autobiographischen Anteilen.

Jeannes Ehemann Conrad von Vietinghoff inspirierte Marguerite Yourcenar zur künstlerisch sehr frei gestalteten Figur ihres ersten Romans »Alexis oder der vergebliche Kampf«. Ein von Yourcenar eingesetztes Mittel, um Distanz zur Realität zu erreichen, ist nicht nur einfaches Ersetzen, sondern auch das Austauschen und Verändern von Namen: Aus Conrad wird Alexis oder Egon, aus Alexis wird Axel u. ä. Yourcenar war eine Meisterin im Verwischen eigener Spuren, im Verwirr- und Versteckspiel. Selbst Biographen fallen darauf herein und nehmen das in den Romanen Beschriebene als wahre Eigenschaften und Begebenheiten der Vietinghoffs. Conrad bietet sich als besonders gute Projektionsfigur an. Marguerite Yourcenar ergänzt ihn, wie sie sich ihn vorstellt oder wie sie ihn für ihre Romane brauchen kann.

Obgleich sie sich in historische Zeiten und Individuen einfühlte, ließ Yourcenar vieles offen, phantasierte, assoziierte. Dabei sind homoerotische Beziehungen eines ihres auffälligsten Lieblingsthemen, das sich durch ihr gesamtes Werk zieht, womit sie ihre eigene Homosexualität oder ihre unerfüllten Liebesgefühle zu homosexuellen Männern verarbeitete. Offensichtlich fließen dabei eigene Wesensanteile in die Romangestalten. So auch in ihrem eigentlichen Erstlingswerk »Alexis«, denn sie war bei der Veröffentlichung erst 26 Jahre alt; dazu kommt noch, dass in dieser Zeit gleichgeschlechtliche Neigungen bei weitem nicht so frei geäußert werden konnten wie heute in vielen Ländern. Kurz zuvor hatte gerade ein anderes bekennendes Buch, »Corydon« von André Gide, die Welt schockiert und 1923 einen Skandal ausgelöst.

Spekulationen um das Verhältnis Jeannes zu Michel de Crayencour

Es ist bekannt, dass Michel de Crayencour erotischen Abenteuern mit Frauen nicht abgeneigt war. Es wäre geradezu unmenschlich, von ihm zu erwarten, sich als Witwer nicht in die faszinierende Jeanne verliebt zu haben. Nachdem er wusste (oder bemerkte), dass ihr Partner – trotz der gemeinsamen Söhne – physisch doch mehr den Männern zugeneigt war, mag er sich vielleicht Hoffnungen gemacht haben, mit ihr mehr als eine lose freundschaftliche Beziehung zu leben. Es kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Jeanne de Vietinghoff nach dem einem oder anderen offenbarenden Gespräch über ihr Eheleben in einer schwachen Stunde dem Charme von Michel de Crayencour erlag, und auch nicht, dass sich beide einmal – auch physisch – gegenseitig Trost spendeten. Konkretere Anhaltspunkte, dass daraus – sofern es überhaupt jemals vorkam – eine außereheliche Beziehung entstanden sei, geben jedoch weder die vagen Andeutungen und Vermutungen in Yourcenars letztem Werk »Liebesläufe« her, bei denen man nicht weiß, wie viel literarische Phantasie mitspielt, noch gibt es von anderer Seite irgendwelche Anhaltspunkte dafür. Eine solche Dauerbeziehung hätte auch kaum in der Natur der beiden gelegen: Er war zu unstet und hatte bei Weitem nicht ihren Tiefgang, während sie ihre moralischen Werte lebte, ihre Kinder hatte und dem in vielen Fragen etwas hilflosen Conrad verpflichtet war. Vielleicht sollte man in dieser Frage ein Zitat von André Fraigneau in die Überlegungen miteinbeziehen, der über Marguerite Yourcenar sagte: Und dann besaß sie diese Angewohnheit, angeblich immer zu wissen, dass diese Person und jene Person ein Verhältnis miteinander hätten, auch wenn es sich nur um eine Freundschaft handelte. Das interessierte sie sehr. (Aus der Biografie von Dietrich Gronau, Heyne TB, S. 76).

Werke

Die ersten vier folgenden Bücher sind psychologisch-philosophische Betrachtungen über das Leben, das Wesen der Seele, Chancen menschlicher Krisen, die Bedeutung geistiger Entwicklung und die göttliche Dimension des Daseins. Konsequent entwickelte sie die Sichtweise einer Frau von unerschütterlicher innerer Stärke und formuliert Werte, für die es sich zu leben lohnt. Das fünfte ist ein Roman mit autobiografischen Zügen, der allgemein als weniger gelungen gilt. Das sechste wurde aus Texten ihres Nachlasses postum zusammengestellt.

  1. Impressions d’Ame (Paris 1909)
  2. L'Intelligence du Bien (Paris 1910)
  3. La Liberté intérieure (Paris 1912)
  4. Au Seuil d´un monde nouveau (Genf 1921)
  5. L’Autre devoir - Histoire d'une âme (Genf 1924)
  6. Sur l'Art de vivre (Paris 1927, postum)


Übersetzungen von „L'intelligence du Bien“

  • Deutsch : Die Weisheit des Guten (Zürich 1919)
  • Englisch : The Understanding of Good - Thoughts on Some of Life's Higher Issues (London & New York 1921)
  • Niederländisch : De Wijsheid van het Hart (Zeist 1924)

Literatur

  • Christine Mary McGinley, The Words of a Woman - A literary mosaic (New York 1999)
Nach der Entwicklung eigener Gedanken wendet sich die Autorin der weiblichen Weltliteratur zu: Etwa ein Drittel des Buches besteht aus Zitaten bedeutender Frauen. Neben berühmten Schriftstellerinnen wie Lou Andreas-Salome, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Charlotte Brontë, Doris Lessing, Anne Morrow Lindbergh, George Sand, Simone Weil, Marguerite Yourcenar, Virginia Woolf kommen auch Frauen wie Marie Curie, Isadora Duncan, Florence Nightingale oder Aung San Suu Kyi zu Worte. Ein Viertel der zitierten Texte stammt aus „The Understanding of Good“. Die Autorin schreibt über Jeanne: „Ihre Liebe und ihr Glaube kannten keine Grenzen; sie füllten sie ganz aus und strahlten von ihr aus wie eine lebensspendende Kraft der unendlichen Quelle, der sie diente. Ich kann meine Verehrung nicht anders ausdrücken als zu sagen: nachdem ich sie kennen gelernt habe, werde ich nie mehr dieselbe sein wie davor.“