Wassyl Stus

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Wassyl Stus 1980, KGB-Fotografie

Wassyl Semenowytsch Stus (ukrainisch Василь Семенович Стус, wiss. Transliteration Vasyl' Semenovyč Stus; * 6. Januar 1938 in Rachniwka, Oblast Winnyzja; † 4. September 1985 in Kutschino, Perm-36 Gulag, Oblast Perm) war ein ukrainischer Dichter, Publizist, sowjetischer Dissident und ein Menschenrechtsaktivist.[1] Er war einer der engagiertesten Vertreter einer ukrainischen kulturellen Autonomie in den 1960er Jahren und wurde dafür zu insgesamt 23 Jahren in Straflagern und Verbannung verurteilt.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stus wurde 1938 als Bauernsohn in einem Dorf in Podolien geboren, im gleichen Jahr übersiedelten seine Eltern mit ihm in die Stadt Stalino (heute Donezk),[2] um dem Großen Terror nach Stalinischen Säuberungen, Entkulakisierung, Zwangskollektivierung und Holodomor zu entgehen. Großen Einfluss auf sein kindliches Gemüt hatten die teilweise wehmütigen Lieder, die seine Mutter für ihn sang. Nach dem Mittelschulabschluss studierte Stus am Pädagogischen Institut in Stalino an der geschichts- und literaturwissenschaftlichen Fakultät. Zwischen Studienabschluss und Beginn des zweijährigen Armeedienstes arbeitete er 1958 drei Monate als Lehrer in Haiworona in der Oblast Kirowohrad. Während seiner Studien- und Armeezeit begann er zu schreiben und entdeckte Dichter wie Goethe oder Rilke für sich; er soll mehrere hundert Gedichte der beiden deutschen Dichter ins Ukrainische übertragen haben, sie sind durch Beschlagnahmung verschollen. 1959 veröffentlichte er erste Gedichte in sowjetischen Zeitschriften.

Nachdem Stus 1960 aus der Armee entlassen worden war, schrieb er drei Jahre lang als Redakteur für die Zeitschrift Sozialistitscheski Donbass (Sozialistisches Donbass), bevor er 1963 eine Aspirantenstelle am Literaturinstitut an der Akademie der Wissenschaften in Kiew antrat. 1963 erschien eine Auswahl von Gedichten in einer Literaturzeitschrift. Als der Dichter 1965 an einer Protestaktion gegen die Inhaftierung ukrainischer Intellektueller teilnahm, kostete ihn dies den Studien- und Arbeitsplatz am Institut. Er nahm Arbeiten auf dem Bau, als Heizer und in einem Konstruktionsbüro an und hatte parallel eine sehr produktive dichterische Phase. 1965 hatte er geheiratet, und 1966 wurde der Sohn Dmytro geboren.

Als Stus noch 1965 versuchte, seinen ersten Gedichtband Kruhowert (Круговерть) zu publizieren, wurde ihm dies vom Verlag verweigert; auch eine zweite Lyriksammlung Symowi derewa (Зимові дерева – Winterbäume) lehnte man trotz wohlwollender Kollegen-Rezensionen ab – sie fand jedoch durch den Samisdat Verbreitung und gelangte auf diesem Weg nach Belgien. 1970 wurde das Buch in Brüssel veröffentlicht. Daraufhin wurde Stus „antisowjetischer Umtriebe“ bezichtigt.

In der Folgezeit schrieb Stus kritisch gegen das herrschende System und seine nach der Tauwetter-Periode neu erstarkenden restaurativen Tendenzen an: seine offenen Briefe richteten sich an den Schriftstellerverband, das KP-Zentralkomitee und an die Werchowna Rada und protestierten gegen die Inhaftierung von Kollegen, gegen den wiedererwachenden Personenkult und Menschenrechtsverletzungen. Nachdem er sich zu Beginn der 1970er Jahre in neu entstehenden Menschenrechtsgruppen beteiligt hatte, wurde er im Januar 1972 wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ verhaftet und im Herbst des Jahres zu fünf Jahren Zwangsarbeit und drei Jahren Verbannung verurteilt.[3] Er verbrachte die Haftzeit in verschiedenen Straflagern in Mordwinien, unter anderem im Sonderlager DubrawLag, unterbrochen nur von Krankenhausaufenthalten wegen eines schweren Magenleidens. Seine Gedichte wurden regelmäßig beschlagnahmt und vernichtet, einige konnte er in Briefen an seine Frau weitergeben, und ein Text, in dem er den KGB angriff, wurde in die USA geschmuggelt und in New York veröffentlicht.

1977 wurde er an seinen Verbannungsort Matrosowa in der Oblast Magadan im äußersten Osten Russlands geschickt, wo er bis 1979 in einer Goldmine arbeitete.

Als Stus im Herbst 1979 nach Kiew zurückkehrte, nahm er Kontakt zu der dortigen Helsinki-Menschenrechtsgruppe auf, deren Mitglieder Repressionen ausgesetzt waren. Seinen Lebensunterhalt verdiente er, obwohl gesundheitlich angeschlagen, als Industriearbeiter. Im Mai 1980 wurde er erneut verhaftet und diesmal – als „besonders gefährlicher Wiederholungstäter“ – zu 10 Jahren Zwangsarbeitslager und 5 Jahren Verbannung verurteilt. Vor Gericht hatte Stus die Verteidigung durch den Anwalt Wiktor Medwedtschuk, der eine höhere Strafe als der Staatsanwalt forderte,[4] abgelehnt und versucht, sich selbst zu verteidigen; daraufhin war er aus dem Gerichtssaal gewiesen und in Abwesenheit verurteilt worden.

In den fünf ihm verbleibenden Jahren Lagerhaft im Lager Perm 36 bei Kutschino wurde Stus kein Besuch seiner Familie gestattet. 1983 gelangten dennoch Notizen aus der Lagerhaft in den Westen, und 1985 schlug eine internationale Gruppe von Schriftstellern und Künstlern Stus zum Literaturnobelpreis vor.[5]

Am 28. August 1985 wurde Stus im Lager wegen „Verletzung der Kleiderordnung“ mit Karzerhaft bestraft und protestierte dagegen durch einen Hungerstreik. In der Nacht vom 3. auf den 4. September starb Wassyl Stus, vermutlich an Unterkühlung.[6] Begraben wurde er auf dem Lagerfriedhof in der Ortschaft Borisowo;[7] seiner Familie wurde eine Bestattung in der Heimat mit der Begründung verweigert, seine Haftzeit sei noch nicht abgelaufen.

1989 überführte man Stus’ sterblichen Überreste zusammen mit denen zweier weiterer Häftlinge nach Kiew und beerdigte ihn dort auf dem Baikowe-Friedhof.[8] Seine Arbeiten erschienen in den Folgejahren in mehreren Ausgaben.

Auszeichnungen und Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gedichtsammlungen
  • Kruhowert (Круговерть – Wirbel), 1965
  • Symowi derewa (Зимові дерева – Winterbäume), 1965
  • Wesselyj zwyntar (Веселий цвинтар – Fröhlicher Friedhof), 1971
  • Tschas twortschosti (Час творчості – Dichtenszeit), 1972
  • Palimpseste (Палімпсести), 1986
  • Поезії Стихи (Poesie), 2009
auf deutsch
  • Angst – ich bin dich losgeworden. Ukrainische Gedichte aus der Verbannung. Iwan Switlytschnyj; Jewhen Swerstjuk; Wassyl Stus. Aus d. Ukrain. übers. von Anna-Halja Horbatsch. Gerold und Appel, Hamburg 1983, ISBN 3-7604-0061-2.
  • Ein Dichter im Widerstand. Aus dem Tagebuch des Wassyl Stus. Aus d. Ukrain. von Anna-Halja u. Marina Horbatsch. Gerold und Appel, Hamburg 1984, ISBN 3-7604-0065-5.
  • Du hast Dein Leben nur geträumt, Auswahl aus der Gedichtsammlung Palimpseste. Aus d. Ukrain. übers. von Anna-Halja Horbatsch. Gerold und Appel, Hamburg 1987, ISBN 3-7604-0070-1.
  • Wassyl Stus. Versensporn – Heft für lyrische Reize Nr. 51. Hrsg. von Tom Riebe. Edition POESIE SCHMECKT GUT, Jena 2022, 120 Exemplare.[11]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Michael Hejfetz: Wassyl Stus – ein Dichter hinter Stacheldraht. Thun 1983.
  • Kuratorium Geistige Freiheit (Hg.): Jurij Badzio, Walerij Martschenko, Wassyl Stus. Drei ukrainische Gewissensgefangene. Thun 1985.
  • Wachtang Kipiani: Die Akte Wassyl Stus. Sammlung von Dokumenten aus dem Archiv des ehemaligen KGB [Справа Василя Стуса. Збірка документів з архіву колишнього КДБ УРСР]. Vivat, Charkiw 2019, ISBN 978-966-942-927-8.
  • Tom Riebe: „Meine Kräfte, verlaßt mich nicht …“ Der ukrainische Dichter Wassyl Stus (1938–1985). In: Gerbergasse 18, Bd. 27 (2022), Heft 3, S. 3
  • Dmytro Stus: Vasyl Stus: Life in Creativity (Ukrainian Voices). ibidem, Stuttgart 2021, ISBN 978-3838216317 (englisch)

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Vasyl Ovsiyenko: Death of Vasyl Stus. In: khpg.org. 2. September 2015, abgerufen am 13. Oktober 2023 (englisch).
  2. Sibirische Lerchen – DLA Blog. In: blog.dla-marbach.de. 6. Juli 2022, abgerufen am 13. Oktober 2023 (deutsch).
  3. Vasyl Stus – Poetry International Online. In: poetryinternationalonline.com. Abgerufen am 13. Oktober 2023 (amerikanisches Englisch).
  4. www.welt.de, abgerufen am 29. Dezember 2015, „Der Sohn von Stus, Dimitro Stus, nannte ihn den Mörder seines Vaters“
  5. Wassyl Stus: Der Passant. In: literaturhaus-muenchen.de. Abgerufen am 13. Oktober 2023 (deutsch).
  6. Ann-Dorit Boy: Die Staatsfeinde schmachteten zu Recht. Das berühmte GULag-Museum „Perm 36“, das einzige als Gedenkstätte erhaltene Straflager für politische Gefangene in Russland soll zerstört werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Juli 2014, S. 13.
  7. Sofija Karassyk: Wassyl Stus - dissidenten.eu - Biografisches Lexikon. In: dissidenten.eu. Abgerufen am 13. Oktober 2023.
  8. Biografie Wassyl Stus auf Olexa-org; abgerufen am 12. März 2016
  9. ЛАУРЕАТИ НАЦІОНАЛЬНОЇ ПРЕМІЇ УКРАЇНИ імені ТАРАСА ШЕВЧЕНКА 1962-2022 років
  10. Про присвоєння В. Стусу звання Герой України
  11. Verein POESIE SCHMECKT GUT gibt 51. Heft der Lyrikreihe VERSENSPORN heraus. In: Jena.tv. Abgerufen am 20. November 2022.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Wassyl Stus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien