Anatol Rapoport

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Anatol Rapoport (* 9.jul. / 22. Mai 1911greg. in Losowaja, Russisches Kaiserreich, heute Losowa, Ukraine als Anatoli Borissowitsch Rapoport; † 20. Januar 2007 in Toronto) war ein US-amerikanischer Mathematiker und Biologe. Er gilt als zentraler Vordenker der Systemwissenschaften.

Der emeritierte Professor für Psychologie und Mathematik an der Universität von Toronto verfasste mehr als 500 wissenschaftliche Beiträge, in denen er sich neben Mathematik und ihrer Anwendung auf psychologische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen vor allem mit Allgemeiner Systemtheorie, Spieltheorie (2-Personen- und N-Personen-Spieltheorie) und Semantik beschäftigte. Weitere Beiträge galten der Konflikt- und Friedensforschung.

Leben und Wirken

Rapoport verbrachte seine Kindheit in Russland, bevor er als Elfjähriger 1922 in die USA kam. 1928 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er studierte Musik, zunächst in Chicago und dann in Wien, Österreich, wo er von 1929 bis 1934 an der „Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst“ in Klavier und Komposition unterrichtet wurde. Während seines Studiums arbeitete er als Korrespondent für die US-amerikanische Zeitschrift „Musical Courrier“, trat als Konzertpianist auf und hielt Vorträge über „Semantik und Musik“ in Europa und den USA.

1935 verlagerte er sein wissenschaftliches Interesse auf das Gebiet der Mathematik. Seinen Bachelor of Science machte er 1938 an der Universität Chicago; 1940 folgte der Master und 1941 der PhD in Mathematik. Sein Doktorvater war Nicolas Rashevsky.

Während des Zweiten Weltkriegs diente Rapoport bei der United States Air Force in Alaska und Indien.

Nach seiner Rückkehr in die USA begann er seine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Chicago im „Committee on Mathematical Biology“. An dem neubegründeten „Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences“ an der Stanford-Universität leistete er Grundlagenarbeit in der von seinem Lehrer Nicolas Rashevsky begründeten mathematischen Biophysik, wie die mathematische Modellierung von Parasitismus und Symbiose, und widmete sich dem Aufbau der Theorie der Kybernetik (Cybernetic Theory). Zudem begann er sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihn sein restliches wissenschaftliches Lernen und Lehren begleiten sollte: Konflikt und Kooperation. Außerdem befasste er sich mit metatheoretischen, philosophischen und epistemologischen Fragestellungen. Dabei kultivierte er einen interdisziplinären Wissenschaftsstil, der sich etwa 1954 in der Gründung der „Society for General Systems Research“ (später: „International Society for the Systems Sciences“) niederschlug. Diese Vereinigung rief er zusammen mit den fächerübergreifend arbeitenden Biologen Ludwig von Bertalanffy und Ralph Gerard und dem Ökonomen Kenneth Boulding ins Leben, um die Isolation und Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen zu überwinden.

Von 1955 bis 1970 war Rapoport Professor für mathematische Biologie an der Universität Michigan. Hier begann er sich vor allem mit spieltheoretischen Problemen zu befassen, speziell mit dem sogenannten „Nicht-Nullsummenspielen“ („Non-zero-sum-games“). Ein theoretisches Ergebnis seiner Überlegungen war die Formulierung einer allgemeinen Interaktionsstrategie für iterierende Gefangenendilemma-Spiele (Tit for Tat). Diese Strategie erwies sich bei polystrategischen Spielen als extrem erfolgreich. 1961 wurde Rapoport in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Von 1970 bis zu seiner Emeritierung wirkte Rapoport an der Universität von Toronto, wo er Professuren für Psychologie und Mathematik sowie Friedens- und Konfliktforschung bekleidete. Daneben war er Gastprofessor an Universitäten in Österreich, Dänemark, Deutschland, Japan und der Schweiz, sowie Direktor des Institut für Höhere Studien in Wien (1980-1983).

Problemlösungen

Rapoport unterscheidet drei Ansätze zum Umgang mit sozialen Interessenkonflikten:

  • Kampf („fight“): gewalttätige Auseinandersetzung, endet mit der Unterwerfung oder physischen Zerstörung des Verlierers.
  • Spiel („game“): Kräftemessen nach festen Regeln, endet mit der freiwilligen Aufgabe eines Teilnehmers.
  • Debatte („debate“): Versuch, das eigene Normen- und Wertesystem auch dem Gegenüber schmackhaft zu machen.

Für die letzte, die friedliche Form der Konfliktlösung schlug Rapoport in seinem Buch „Fights, Games, and Debates“ vor, sowohl die eine wie die andere Partei nach ihrer Definition des Problems zu befragen. Dabei legt Partei A (in Gegenwart von Partei B) den Standpunkt von Partei B dar, und zwar so genau und vollständig, bis Partei B diese Darlegung für richtig erklären würde. Dann sei die Reihe an Partei B, den Standpunkt von Partei A zur Zufriedenheit von Partei A zu definieren. Diese Technik würde automatisch zur Entschärfung des Problems führen, bevor die Verhandlung über das Problem beginne, da beide Parteien schon im Vorfeld wenigstens im Gedankenexperiment etwas Verständnis für das Gegenüber entwickeln mussten, und so ein Austausch von Gedanken, Ideen und Werten in Analogie zur Diffusion erfolgt: beide Parteien nähern ihre Positionen einander an.

Schriften

  • Science an the Goals of Man, Harper & Bros., New York, 1950
  • Operational Philosophy, Harper & Bros., New York, 1953
  • Fights, Games, and Debates. The University of Michigan Press 1960. (Deutsche Ausgabe: Kämpfe, Spiele und Debatten. Drei Konfliktmodelle. Übersetzt und herausgegeben von Günther Schwarz. Darmstädter Blätter, Darmstadt 1976 ISBN 3-87139-037-2)
  • Prisoner's Dilemma, The University of Michigan, Ann Arbor, MI., 1965, (co-author; Albert M. Chammah)
  • Two-Person Game Theory: The Essential Ideas, Ann Arbor, MI, The University of Michigan Press, 1966, (Neuveröffentlichung bei Dover Press, Mineola, NY, 1999).
  • Strategy and Conscience, Shocken Books, New York, NY, 1969, (first published in 1964)
  • N-Person Game Theory. Concepts and Applications, University of Michigan, Ann Arbor, 1970, MI.(Neuveröffentlichung bei Dover Press, Mineola, NY, 2001).
  • Semantics, Crowell, 1975.[1]
  • Conflict in Man-made Environment, Penguin, Harmondsworth, 1974 (deutsch 1980)
  • General System Theory. Essential Concepts & Applications, Abacus Press, Tunbridge Wells, Kent & Cambridge, Mass., 1986.
  • Allgemeine Systemtheorie. Wesentliche Begriffe und Anwendungen, Darmstädter Blätter, Darmstadt, 1988.
  • The Origins of Violence, 1989 (deutsch 1990)
  • Peace, an Idea Whose Time has Come, 1993 (deutsch 1991)
  • Decision theory and decision behaviour, 1998, Macmillan, Houndmills.
  • Certainties and Doubts: A Philosophy of Life, 2001 (Autobiography) (dt: Gewissheiten und Zweifel).
  • Conversations with Three Russians - Tolstoy, Dostoevsky, Lenin. A Systemic View on Two Centuries of Societal Evolution, Kovacs, Hamburg, 2005.

Literatur

  • Canadian Who's Who, Jg. 35.2000
  • Ron Csillag, „Anatol Rapoport, Academic 1911-2007.“ Toronto Globe and Mail, January 31, 2007, p. S7
  • Chesmak Farhoumand-Sims, „Memories of Anatol Rapoport.“ Peace Magazine, April 2007, p. 14
  • Alisa Ferguson, „Rapoport was Renowned Mathematical Psychologist, Peace Activist.“ University of Toronto Bulletin, February 20, 2007.
  • Andreas Diekmann, Zum Tode von Anatol Rapoport (22.5.1911–20.1.2007), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Band 59, 2007, Heft 2, S. 369–372, doi:10.1007/s11577-007-0044-8, Online-Ergänzung (Memento vom 3. Oktober 2013 im Internet Archive).
  • Markus Schwaninger, „Obituary Anatol Rapoport (May 22, 1911 - January 20, 2007): Pioneer of Systems Theory and Peace Research, Mathematician, Philosopher and Pianist.“ Systems Research and Behavioral Science, Vol. 24, 2007, pp. 655–658.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ein Buch zum Thema „Allgemeine Semantik“ (siehe auch S. I. Hayakawa's Language in Thought and Action).