Curzon-Linie

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Die Curzon-Linie (benannt nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon) war nach dem Ersten Weltkrieg am 8. Dezember 1919 in Paris unter Bezugnahme auf die Muttersprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung als polnisch-russische Demarkationslinie vorgeschlagen worden.

Grenzverläufe Polens zwischen 1918 und 1945.
Grüne Linie: von den Westalliierten am 8. Dezember 1919 als Demarkationslinie zwischen Sowjetrussland und der Zweiten Republik Polen verkündete, auf dem ethnographischen Prinzip basierende Curzon-Linie.
Blaue Linie: nach Ende des Ersten Weltkriegs bis 1922 durch Eroberungen Polens unter General Józef Piłsudski (Galizien 1919, Wolynien 1921 und Wilna-Gebiet 1922) jenseits der Curzon-Linie zustande gekommene Grenze, die bis zum 1. September 1939 Bestand hatte.
Gelbe Linie: deutsch-sowjetische Demarkationslinie vom 28. September 1939.
Rote Linie: heutige Staatsgrenze Polens; links die Oder-Neiße-Linie.
Braune Fläche: von Polen nach Ende des Ersten Weltkriegs bis 1922 vorgenommene Gebietserweiterung, die zuvor von der Sowjetunion anerkannt worden war.
Pinke Fläche: von Stalin als Kompensation für den Verlust der polnischen Gebiete östlich der Curzon-Linie geltend gemachte Ostgebiete des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 („Westverschiebung“).

Ausgangslage

Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war die Frage nach der politischen Grenze des 1918 wiedergegründeten polnischen Staates zunächst weitgehend offen gewesen. Die zwischenstaatliche, völkerrechtlich anerkannte Grenze zwischen Polen und Deutschland wurde größtenteils durch den Versailler Friedensvertrag festgelegt, die Grenzziehung in Ostpreußen und Oberschlesien sollte nach Volksabstimmungen erfolgen. Weiterhin offengeblieben war jedoch zunächst die Frage nach der Ostgrenze Polens. Es schien nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker naheliegend, als Kriterium für die Grenzfestlegung gegenüber Sowjetrussland die (Mutter-)Sprachmehrheit zu wählen, also die Ostgrenze Polens nach Maßgabe seiner ethnographischen Grenze zu ziehen, was insbesondere der polnische Politiker Roman Dmowski seit langem gefordert hatte.[1] Dieser Ansicht schlossen sich die Westalliierten an, als sie am 8. Dezember 1919 die Curzon-Linie als vorläufige Demarkationslinie zwischen Polen und Sowjetrussland verkündeten.[2] Den Namen „Curzon-Linie“ erhielt die Demarkationslinie erst im Juli 1920, nachdem sie im Zusammenhang mit den Waffenstillstandsverhandlungen der Alliierten im Polnisch-Sowjetischen Krieg vom britischen Außenminister Lord Curzon im Protokoll von Spa als Waffenstillstandslinie vorgeschlagen worden war.[3] Die britische Regierung sicherte dem nach London entsandten Moskauer Unterhändler Lew Kamenew zu, die sowjetischen Forderungen nach den Gebieten östlich dieser Linie zu unterstützen.[4]

Doch weder alle Polen noch Russland akzeptierten den Vorschlag zur Grenzziehung. Unvereinbar mit dem Grenzvorschlag der Curzon-Linie war das Föderationskonzept Józef Piłsudskis (Międzymorze), das die Restauration Polen-Litauens in den vor den Teilungen bestehenden Grenzen vorsah. Piłsudskis Konzept der polnisch-litauisch-weißrussisch-ukrainischen Föderation standen vielfältige Interessen entgegen (nationale Interessen bzw. Nationalismus Litauens, Weißrusslands, der Ukraine sowie von Großrussen, Lenins Konzept der Weltrevolution). Unter Piłsudski wurde die Ostgrenze Polens bis 1923 weit über die Curzon-Linie hinaus nach Osten verschoben: 1919 wurde zunächst Ostgalizien, 1921 Wolhynien und 1920/22 noch das Wilna-Gebiet militärisch eingenommen.
In den vom polnischen Militär eroberten Gebieten, bis 1772~1795 zum polnisch-litauischen Staat gehörend, war die polnischstämmige Bevölkerung in der Minderheit. In dem russischen Gouvernement Wilna beispielsweise lag der polnische Bevölkerungsanteil im Jahr 1897 bei lediglich 8,2 %, während Weißrussen 61,2 %, Litauer 17,6 % und Juden 12,8 % stellten; in Wolhynien betrug der Bevölkerungsanteil der Polen im selben Jahr 6,2 %, während die restliche Bevölkerung zu 73,7 % aus Russen (überwiegend Weißrussen), zu 13,2 % aus Juden und zu 5,7 % aus Deutschen bestand.[5] Im Jahr 1900 machte in Gesamt-Galizien der polnische Bevölkerungsteil 54,75 % aus und der Anteil der Ruthenen 42,20 %; in Westgalizien bildeten die Polen die Mehrheit und in Ostgalizien die Ruthenen.[6] Die restliche Bevölkerung Galiziens bestand aus Deutschen, Tschechen, Mährern und Slowaken.[7]

Nach einer Schätzung der britischen Tageszeitung The Times von 1944 lebten im Jahr 1931 in den Gebieten östlich der Curzon-Linie, der sogenannten Kresy, 2,2 bis 2,5 Millionen Polen.[8] Von diesen Polen sollen nach dem Zweiten Weltkrieg 2,1 Millionen[9] nach Westen gezogen sein und sich zu zwei Dritteln in den „neuen Gebieten“ angesiedelt haben, wo sie dann die eingesessene Bevölkerung verdrängten.[10]

Am 17. Juli 1920 hatte Sowjetrussland Polen eine weitaus günstigere Grenze östlich der Curzon-Linie vorgeschlagen und damit begründet, dass die Curzon-Linie teilweise unter dem Druck polenfeindlicher, imperialistischer Forderungen der von den Alliierten unterstützten russischen „Weißen“ festgelegt worden sei.[11]

Im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919–1921, der mit dem Frieden von Riga endete, konnten weder Polen noch Sowjetrussland ihre Kriegsziele durchsetzen. Sowjetrussland gelang es nicht, seine Einflusssphäre nach Westen auszudehnen, aber auch das polnische Ziel einer Wiederherstellung Polen-Litauens in den vor den Teilungen bestehenden Grenzen wurde nicht erreicht. Dennoch wurde die Grenze weit östlich der Curzon-Linie festgelegt.

Der heutige Verlauf der Ostgrenze Polens stimmt hingegen weitgehend mit der 1919 vorgeschlagenen Curzon-Linie überein.

A-Linie

Die Curzon-Linie in der Version „A“ verläuft in etwa vom Südende des Wystiter Sees nach Südosten, dann kurz vor Hrodna (Grodno) nach Süden, verläuft am Fluss Bug entlang und knickt schließlich nach Südwesten ab, bis die Bieszczady nahe dem Lupkapass erreicht wird.

Am Verlauf der nach dem Ersten Weltkrieg vorgeschlagenen Grenzlinie orientiert sich der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und der Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag, es gab einige Abweichungen zugunsten der Sowjetunion (Region Białystok).

B-Linie

Die Curzon-Linie „B“, die auch 1945 von Roosevelt als östliche Grenze Polens vorgeschlagen wurde, verlief ähnlich wie die Curzon-Linie der A-Version, beließ jedoch Lemberg und Drohobycz auf der polnischen Seite.

Direkt westlich dieser Linie (in Zentral-Polen) dominierten mit großem Abstand die Polen. Zugleich lebten westlich der Curzon-Linie zwischen Warschau und Lublin etwa 1,5 Mio. Ukrainer. In den Gebieten östlich davon stellten die Ukrainer und Weißrussen die Mehrheit, es lebten dort aber auch viele Polen (laut der polnischen Volkszählung von 1919 etwa 25 %, nach der Amtszeit Piłsudskis 1936 etwa 36 % der Bevölkerung). In den Städten lebten viele Bürger jüdischen Glaubens, während die Landbevölkerung überwiegend russisch- oder ukrainisch-orthodox war.

Zweiter Weltkrieg

Im Hitler-Stalin-Pakt entsprach die Teilungslinie in etwa der Curzon-Linie, die Sowjetunion konnte die Gebiete östlich der Linie 1939 zurückgewinnen, wie es 1919 vorgesehen worden war. Die britische Regierung war während des gesamten Verlaufs des Zweiten Weltkriegs konsequent der Ansicht, dass die Ostgrenze Polens nach Kriegsende auf der Grundlage der Curzon-Linie festzulegen sei.[12] Auf der Konferenz von Teheran hatten Churchill und Roosevelt schließlich Stalins Forderung nach der Curzon-Linie als neue polnische Ostgrenze zugestimmt.[13]

Als Nachkriegsregelung vereinbarten die alliierten Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Vereinigtes Königreich) und Josef Stalin (UdSSR) auf der Konferenz von Jalta (4. bis 11. Februar 1945) eine Grenze, die mit einigen Vergünstigungen zugunsten Polens annähernd der Curzon-A-Linie entsprach. Die polnische Regierung nahm an der Konferenz nicht teil – weder die Londoner Exilregierung noch die prosowjetische Lubliner Regierung.

Während des Zweiten Weltkriegs und im Anschluss daran kam es, neben dem Völkermord an russischen und jüdischen Einwohnern vor 1945, nach 1945 zu Drangsalierungen von völkischen Minderheiten, vor allem von Polen aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie und von Ukrainern westlich der Linie durch die Sowjetunion. Angehörige solcher Minderheiten wurden von den örtlichen sowjetischen Kommandanturen vor die Wahl gestellt, entweder eine neue Staatsangehörigkeit zu akzeptieren oder aussiedeln zu müssen. Menschen, die sich nicht durch den Besitz von Immobilien oder anderweitig an ihren Herkunftsort gebunden fühlten, zogen es häufig vor, in Richtung Westen umzusiedeln.

Literatur

  • Kordan Bohdan: Making Borders Stick. Population Transfer and Resettlement in the Trans-Curzon Territories, 1944–1949. In: International Migration Review. 31, (1997), No. 3., S. 704–720.

Einzelnachweise

  1. Paul Roth: Die Entstehung des polnischen Staates – Eine völkerrechtlich-politische Untersuchung (= Öffentlich-rechtliche Abhandlungen. Hrsg. von Heinrich Triepel, Erich Kaufmann und Rudolf Smend. 7. Heft). Verlag Otto Liebmann, Berlin 1926, insbesondere S. 133–142.
  2. Gotthold Rhode: Kleine Geschichte Polens. 1. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1964, S. 466 ff.
  3. Ellinor von Puttkamer: Die Curzon-Linie als Ostgrenze Polens. In: Die Wandlung, Band 2, 2. Heft (15. April 1947), Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, S. 175-183.
  4. Andrzej Nowak: Pierwsza zdrada Zachodu. 1920 – Zapomniany appeasement. Warschau 2015, S. 355–359.
  5. Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage, 20. Band: Veda bis Zz, Leipzig und Wien 1909, S. 655 bzw. S. 744-745.
  6. Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage, 7. Band: Franzensbad bis Glashaus, Leipzig und Wien 1907, S. 272.
  7. Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage, 20. Band: Veda bis Zz, Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien 1909, vgl. Stichwort Wilna auf S. 655 und Stichwort Wolynien auf S. 744 f.
  8. The Times vom 12. Januar 1944, zitiert nach Alexandre Abramson (Alius): Die Curzon-Linie. Europa Verlag, Zürich 1945, S. 45.
  9. Jörg-Detlef Kühne: Veränderungsmöglichkeiten der Oder-Neiße-Linie vor 1945. 2. Auflage, Nomos, Baden-Baden 2007, Fußnote 2.
  10. Manfred Alexander: Kleine Geschichte Polens. 2. Auflage, Reclam, Stuttgart 2008, S. 321.
  11. Potjomkin (Hrsg.): Geschichte der Diplomatie, III-1, Berlin 1948, S. 99 und 104.
  12. Ludwik Gelberg: Die Entstehung der Volksrepublik Polen. Die völkerrechtlichen Probleme (aus dem Polnischen übersetzt von Barbara Bönnemann-Wittek), Atnenäum Verlag, Frankfurt/M. 1972, ISBN 3-7610-2614-5, S. 86.
  13. Jerzy Lukowski, Hubert Zawadzki: A concise history of Poland. Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-55109-9, S. 238.