Verfassung für den Eidgenössischen Stand Appenzell Innerrhoden

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Landsgemeinde Ende des 18. Jahrhunderts, Museum Appenzell

Die direkte Demokratie im Kanton Appenzell Innerrhoden formte sich im 19. Jahrhundert mit dem Ausbau der Volksrechte auf der Staatsebene (Landsgemeinde) und der Konkretisierung der Volkssouveränität. Der politische Umsturz an der Appenzell Innerrhoder Landsgemeinde von 1828 war ein Vorläufer der europaweiten Juli-Revolutionen von 1830.

Die urdemokratische Form der Landsgemeinde und die modernen demokratischen Elemente in der zweiten Innerrhoder Verfassung von 1829 wirkten als Vorbild für die demokratischen Bewegungen und die weitere Entwicklung der direkten Demokratie in den anderen Kantonen und auf Bundesebene. Appenzell Innerrhoden war der erste Kanton, der die Einzelinitiative einführte (Glarus 1836, Zürich 1869). Nirgendwo sonst in der Eidgenossenschaft konnte ein einzelner Stimmberechtigter die Abänderung von Verfassungsartikeln und Gesetzen auf Staatsebene beantragen.

Erkämpfung der Souveränität durch Bündnispolitik

Das Land Appenzell unterstand seit dem Frühmittelalter der Fürstabtei St. Gallen. Der Fürstabt konnte 1345 die Reichvogtei über Appenzell erwerben. Damit drohte das Land in die entstehende Territorialherrschaft der Fürstabtei einbezogen zu werden.

Der 1401 erfolgte Versuch, der Fürstabtei (Kuno von Stoffeln) ausser Gebrauch gekommene Abgaben wieder einzufordern, weckte den Widerstand und führte zu Abwehrbündnissen mit der Stadt St. Gallen und dem eidgenössischen Ort Schwyz. Der Konflikt um die Rechte auf Freizügigkeit, Eheschliessung, Vererb- und Veräusserbarkeit von Lehen der Abtei sowie um Jagd- und Fischereirechte eskalierte in den Appenzellerkriegen (1401–1429).

Mit dem Frieden von Konstanz von 1429 musste Appenzell zwar die bekämpften Abgaben teilweise wieder leisten, aber es hatte sich als eigenständiges Staatswesen gegenüber der Abtei behauptet, stand nun nicht mehr unter dessen Grundherrschaft und durfte sein Bündnis mit den Eidgenossen beibehalten. 1513 bildete der Beitritt des noch ungeteilten Landes Appenzell zur Eidgenossenschaft den Abschluss einer rund hundertjährigen, von Rückschlägen (St. Gallerkrieg usw.) geprägten Bündnispolitik.

Gemeindeautonomie durch genossenschaftliche Selbstverwaltung

Das Land Appenzell wurde vermutlich seit der Zeit des Abtes Ulrich von Sax (1204–1220) von der Fürstabtei St. Gallen zur Sicherung von Militär- und Steuerleistungen dezentral durch sogenannte Rhoden (Ämter, Bezirke, politische Gemeinden) verwaltet. Der Rhodsmeister (Ammann) wurde anfänglich vom Abt eingesetzt. Später wurde er durch an jährlichen Rhodsversammlungen gewählte Rhodhauptleute und Räte ersetzt, welche die Rhoden in den Behörden des Alten Landes Appenzell und nach der Landteilung 1597 in denjenigen von Innerrhoden zu vertreten hatten. Diese Ämter wirkten als Keimzellen für lokale Autonomiebestrebungen der Landleute, die sich schliesslich eine Art genossenschaftliche Selbstverwaltung erzwangen. Eine Botschaft Kaiser Ludwigs dem Bayer an die "Gemeinden der Täler" zeigt, dass Appenzell bereits 1333 eine genossenschaftliche Organisation mit beschränkter politischer und militärischer Selbständigkeit besass.

Formen der Selbstverwaltung

1403 fand in Appenzell die erste Landsgemeinde statt. In Appenzell Innerrhoden zeigt das Volk noch heute einmal im Jahr seine oberste Gewalt unter freiem Himmel, fällt die wichtigsten politischen Entscheide (neue Gesetze, Ausgabenbeschlüsse usw.) und wählt Regierung und Kantonsrichter: Eine Urnenabstimmung zum Beispiel zu Sachgeschäften während des Jahres gibt es nicht.

Eine Woche nach der Landsgemeinde finden die Bezirksgemeinden (Gemeindeversammlungen) statt. In Appenzell tagen sie bei normalem Wetter stets im Freien. Nach Bericht und Rechnungsablage finden Wahlen (Volksvertreter für den Grossen Rat und Bezirksrichter) und Sachabstimmungen über die Bezirksaufgaben (Finanzen (Steuerhoheit), Ortsplanung, Bauwesen, Strassenwesen, Flurwesen, Feuerpolizei, Fuss- und Wanderwege, öffentliche Anlagen) statt.

Jeder Bezirk hält im Anschluss an die Bezirksgemeinde jeweils gleichenorts die Korporationsgemeinde ab, wo ebenfalls Bericht, Rechnung, Wahlen und Sachgeschäfte anfallen.

Da sich das Dorf Appenzell auf verschiedene Rhoden (Appenzell, Schwende und Rüte) aufteilte, wurde schon im 16. Jahrhundert für gemeindeübergreifende Aufgaben (wie Baupolizei, Feuerwehr oder Wasser- und Energieversorgung) die Feuerschaugemeinde als Spezialgemeinde gegründet.

Am gleichen Abend wie die Schulgemeinde tagt auch die katholische Kirchgemeinde, wo über Jahresbericht, Kassaführung, Wahl des Kirchenrates und Sachgeschäfte abgestimmt wird.

Kirchhöre Appenzell

Darstellung des Dorfes Appenzell aus der Stumpfschen Chronik von 1548. Auf dem Bild ist die spätgotische Pfarrkirche St. Mauritius mit Beinhaus gut zu erkennen.

Im Jahr 1071 stiftete die Abtei St. Gallen die Mauritiuspfarrei Appenzell und bezeichnete mit dem Meieramt Appenzell ein zehntpflichtiges Gebiet, das mit dem Gebiet der späteren Kirchhöre Appenzell praktisch identisch war. Für die Verwaltungsorganisation der Zehntpflicht (Kirchenzehnt) wurde die Mauritiuspfarrei zu einem wirtschaftlichen, administrativen und kirchlichen Zentrum, das von einem Meier verwaltet wurde, der im äbtischen Gutshof (in Abbacella) residierte und für den Einzug der geschuldeten Abgaben verantwortlich war. Die Meierämter wurden im Spätmittelalter mit der Errichtung der Rhoden abgelöst. Anstelle des Meiers wurde ein Beamter mit gerichtlichen Befugnissen, der Ammann, an die Spitze der Talschaft Appenzell gesetzt, dem ein Rodmeister zur Seite stand. Der Ammann war auch Vorsteher einer genossenschaftlichen Selbstverwaltung und konnte die Landleute zu Frondiensten (Gemeinwerk) aufbieten.

Während sich die äusseren Rhoden zu eigenständigen Gemeinwesen entwickelten, war das bei den inneren nicht im gleichen Masse der Fall, weil der Einfluss der Kirchhöre Appenzell zu stark war. 1537 konnte der Kirchenzehnt (Haferzehnt) dank grossen Einnahmen aus dem Reislaufen und den Jahrgeldern der Eidgenossenschaft abgelöst werden. Diese Ablösung stärkte die Körperschaft der Kirchhöre Appenzell, der alle sechs inneren Rhoden und ihre Bewohner angehörten. Sie wurde als Dachorganisation dieses Nutzungsverbandes Eigentümerin der Gemeingüter (Gemeinmerker, Gemeinalpen) und nahm nun die meisten wirtschaftlichen, politischen und religiösen Aufgaben war. Ihre Organe waren Kirchhöreversammlungen (kurz: Kirchhöre), Gebotener Kirchhörerat, Zweifacher Kirchhörerat und Zweifach Gebotener Kirchhörerat.

Weil die Ablösungssumme des Kirchenzehnten gleichmässig durch die Rhoden erbracht wurde, erhielten diese ein gleichmässiges Nutzungsrecht für die Gemeingüter. Damit erwachte das Bewusstsein für die Gleichberechtigung aller in der Pfarrei Appenzell wohnhaften Landleute auf alle Gemeingüter wieder. Die Übernahme der Gemeingüter war die wichtigste Ursache für einen genossenschaftlichen Zusammenschluss zur Bewältigung dieser Gemeinschaftsaufgabe

Obwohl das Gebiet von Alemannen besiedelt worden war, gab es hier nie eine uralte, freie Markgenossenschaft. Die Kirchhöre Appenzell ist ein Beispiel einer "späten" Markgenossenschaft, die sich erst im 16. Jahrhundert als ein Siedlungsgebiet entwickelte, der das ungeteilte Gemeingut zugehörte, über das sie in der Funktion eines Zweckverbandes verfügen konnte.[1]

Gemeinmerker

Die Gebiete der späteren Gemeinmerker (Allmenden, Gemeingüter) wurden wegen der Bodenbeschaffenheit (Feucht-, Auengebiete, abgelegene Wälder) lange Zeit durch die Anstösser frei genutzt. Erst als sich die Bevölkerung vermehrte und das für die Sondernutzung geeignete Land knapper wurde, begannen die Organe der Siedlungsgruppen ordnend einzugreifen. Rhodshauptleute beanspruchten das durch ihre Rhodsgenossen genutzte Gebiet als ihr Rhodengut. Alle Bewohner der Kirchhöre Appenzell (sechs innere Rhoden, Gebiet des der Fürstabtei St. Gallen zehntenpflichtigen Meieramtes Appenzell) hatten den gleichen Anspruch auf die Nutzung aller auf ihrem Gebiet liegenden Gemeinmerker.[1]

Die Organisation der Nutzung der Gemeinmerker erfolgt durch Korporationen (Allmendgenossenschaften, die älteste Korporation Mendle wurde 1434 erstmals schriftlich erwähnt). Wer kein eigenes Land hatte, durfte dort sein Kleinvieh weiden lassen, Brennholz schlagen und später Häuser im Baurecht (der Boden bleibt im Eigentum der Korporation) bauen, wobei die einzelnen Korporationen unterschiedliche Regelungen anwenden.

Die Korporationen (ursprünglich rund 30 Korporationen: Mendle 1434, Ried 1546, Gemeinmerk Lehn-Mettlen 1546 usw. und mehrere Holzkorporationen) versammeln sich jährlich an den Korporationsgemeinden, meistens am Samstag nach Ostern. Bei der Korporation Ried zum Beispiel treffen sich die Riedgenossen zur jährlichen Riedgemeinde beim Riedgaden (ursprünglich Heulagergebäude), nehmen Bericht und Rechnung entgegen, wählen die fünfköpfige Verwaltung und beschliessen über Sachgeschäfte (bis in die 1970er gehörte der Unterhalt der Gebietsstrassen dazu).[2]

Die Korporation Mendle konnte von 1941 bis 1945 mit Hilfe der Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL) 80 ha bis dahin sumpfigen Streueboden entwässern. Dieser diente im Rahmen der Anbauschlacht (Plan Wahlen) als Ackerland zur Sicherstellung der wirtschaftlichen Landesversorgung und nach dem Krieg als Wiesenfläche. Bis 1828 bestimmten die politischen Behörden über die Regeln der Nutzung, während die eigentlichen Nutzniesser, die Korporationsgenossen, wenig dazu zu sagen hatten.

Talbauern und Sennen

Appenzeller Alpgenossenschaften gibt es mindestens seit dem 16. Jahrhundert (Schwägalp). Die Gemeinalpen Seealp, Gartenalp und Meglisalp entstanden wohl im 15. Jahrhundert durch Usurpation von Klosterbesitz. Im Alpregister werden die dem Kanton gehörenden Alpen (Gemeinalpen) und diejenigen der Alpgenossenschaften geführt. Das von der Landsgemeinde beschlossene Alpgesetz und die Alpverordnung bezwecken den Schutz und die Erhaltung des Alpgebietes als Erholungsraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Das Alpbüchlein ist die spezielle Verordnung für die Gemeinen Alpen.

Zwischen Heubauern und Sennen gab es bis in die 1930er Jahre eine spezielle Arbeitsteilung. Die Talbauern besassen nur Vieh zur Selbstversorgung und produzierten einen Überschuss an Heu. Die Sennen kauften auswärts Vieh und bewirtschafteten die überwiegend in Privatbesitz befindlichen Alpen (1899 waren es 167 Alpen mit 3.583 ha). Der von ihnen produzierte Butter und Käse wurden von Molkereihändlern (Grempler) in den regionalen städtischen Märkten verkauft. Im Winter wohnten die Sennen bei den Talbauern, mit deren Heuüberschuss sie ihr Vieh durchfütterten. Ende des 19. Jahrhunderts setzte mit der Gründung von Innerrhoder Viehzuchtgenossenschaften und dem landwirtschaftlichen Verein (1883) eine qualitative Verbesserung der Viehzucht ein.

Landsgemeindedemokratie während des Ancien Régime – Abschaffung des Geheimen Rates

Im Zeitalter des Absolutismus war der Staat Appenzell trotz Landsgemeinde weitgehend ein Obrigkeitsstaat, in dem die von wenigen wohlhabenden, ratsfähigen Familien aus dem Hauptort Appenzell gestellten Räte mit Hilfe der von ihnen beherrschten katholischen Kirche das Sagen hatten.

Das Zentrum der politischen Macht war der sogenannte Geheime Rat, wo sich die Oberhäupter der wichtigen Familien versammelten. Obwohl gemäss dem Silbernen Landbuch von 1585 die im Hauptort tagende Landsgemeinde über die grösste "Gewalt" verfügte und Landammann, Säckelmeister, Landschreiber, Landweibel, Gerichtsschreiber, den Landvogt für das Rheintal, den Statthalter, Landeshauptmann, Bauherr, Siechenpfleger, Spital- und Armleutsäckelmeister und Landesfähnrich wählte (während Sachgeschäfte wohl nur in Ausnahmefällen verhandelt wurden) und die oberste gesetzgebende und höchste richterliche Gewalt (Blut- oder Hochgericht) nach der Landsgemeinde beim Grossen Zweifachen Landrat (Grosser Rat) lag, dem 1603 der häufiger tagende Kleine oder Wochenrat zur Seite gestellt wurde, hatte der Geheime Rat, dessen Sitzungen strikter Geheimhaltungspflicht unterlagen, einen weit grösseren Einfluss.

Dem Geheimen Rat gehörten neben Amtsträgern (Landammann, Säckelmeister, Bauherr, Landsfähnrich etc.) viele ehemalige Landammänner und Rhodshauptleute an, die an keine Amtszeitbeschränkung gebunden waren. 1629 konnte der Geheime Rat, die Kompetenz zur Ernennung der Mitglieder des Kleinen Rates, die bis dahin in Volksversammlungen (Rhodsgemeinden) gewählt worden waren, an sich reissen. Er war auch massgeblich am Verlauf der Hexenprozesse im 17. Jahrhundert beteiligt.

Da der Geheime Rat weitgehend über die Staatsfinanzen bestimmte, konnten sich dessen Mitglieder feudale Sitzungsentschädigungen und beachtliche Anteile an den spanischen und französischen Pensionen für die Rekrutierung von Söldnern sichern.

Wegen dieser Praktiken und dem zunehmend selbstherrlichen Gebaren der Geheimen Räte kam es 1716 beinahe zu einem Volksaufstand. Dieser Widerstand ermöglichte dem Grossen Zweifachen Landrat sich gegen den Geheimen Rat durchzusetzen, ihn aufzulösen und dessen Amtsgeschäfte dem Wochenrat zu übertragen, der bis zur Einführung der Kantonsverfassung von 1872 bestand.[3]

Der Sutterhandel mit dem Justizmord am populären Gontener Badwirt Joseph Anton Sutter im Jahre 1784 in Appenzell Innerrhoden war der letzte von sechs Konflikten, die die Landsgemeindeorte Schwyz, Zug und die beiden Appenzell im 18. Jahrhundert erschütterten. Das Anliegen der Oppositionellen, deren charismatische Anführer meist mit dem Tode bestraft wurden, war mehr Demokratie durch Partizipation und einer Stärkung der Landsgemeinde. Ihre politischen Traktate, welche die Souveränität der Landsgemeinde theoretisch zu legitimieren versuchten, stützten sich auf Souveränitätstheoretiker wie Jean Bodin. Sie scheiterten jedoch an den überlegenen Ressourcen der Oligarchen und konnten die vormoderne Landsgemeindedemokratie nicht in moderne Fiskalstaaten umwandeln. Ihre Anhänger sorgten mit Flugschriften und fortwährender Agitation gegen die Obrigkeit, dass sie nicht vergessen und dadurch zum Vorbild direktdemokratischer Bewegungen im 19. Jahrhundert wurden. Sutters Andenken war sowohl ein Thema in Appenzell Ausserrhoden, dem ersten regenerierten Schweizer Kanton als auch im St. Galler Verfassungsrat von 1830.[4]

Widerstand gegen die Helvetische Republik

Als Folge der Französischen Revolution kam es 1798 in vielen Kantonen zu Umstürzen und zur Einführung republikanischer Verfassungen. Die Innerrhoder Behörden versuchten dieser Entwicklung zuvorzukommen, in dem sie die an der ausserordentlichen Landsgemeinde vom 18. Januar 1798 versammelten Landleute den Schwur auf den Bundesbrief von 1513 wiederholen liessen. Nach dem Einmarsch der französischen Armee in die Waadt entliess die Innerrhoder Landsgemeinde am 25. Februar 1798 die Gemeine Herrschaft Rheintal aus der Untertanenschaft. Angesichts des Vorrückens französischer Truppen gegen Osten sah sich eine weitere Landsgemeinde am 6. Mai 1798 gezwungen, der Verfassung der neuen Helvetischen Republik zuzustimmen.

Die von Frankreich veranlasste Zusammenfassung der beiden Appenzell und des nördlichen Teils des heutigen Kantons St. Gallen im zentralistischen Kanton Säntis führte in Innerrhoden zu wachsendem Volkswiderstand, der zur zweimaligen Besetzung des Hauptortes Appenzell durch helvetische und französische Truppen und zur Erhebung von Kriegssteuern führte. Mit dem Abzug der französischen Truppen aus der Schweiz brach die helvetische Ordnung in Innerrhoden zusammen. Die ausserordentliche Landsgemeinde vom 30. August 1802 stellte die alten Verhältnisse wieder her.

Erste eigenständige Innerrhoder Verfassung 1814

Innerrhoden wehrte sich gegen die Mediationsverfassung, die Bestimmungen zum Freihandel und zur Niederlassungsfreiheit enthielt, weil man fürchtete durch den Wegfall innereidgenössischer Zölle und Marktabgaben wirtschaftlich ins Hintertreffen zu geraten. Auch die konfessionelle Einheit wurde als gefährdet betrachtet, weil es vom bevölkerungsreicheren, reformierten Ausserrhoden umgeben war. Die militärischen (Dienste für die französische Armee) und wirtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber Frankreich und der Eidgenossenschaft stiessen beim Volk auf Ablehnung. Dessen ungeachtet führte die Innerrhoder Militärorganisation von 1804 die allgemeine Dienstpflicht ein.

Mit dem Zusammenbruch der napoleonischen Ordnung wurde die erste selbstbestimmte Verfassung ausgearbeitet, die von der Landsgemeinde im Juli 1814 angenommen wurde. Sie stand ganz im Zeichen der Wiederherstellung der Verhältnisse des Ancien Régime und der kantonalen Autonomie. Der römisch-katholische Glaube wurde zur ausschliesslichen Konfession Innerrhodens bestimmt. Auf Niederlassungsfreiheit und Gebietsreform wurde verzichtet und die traditionelle Ordnung nach Rhoden und Geschlechter beibehalten. Wegen Vorbehalten (Truppenstellung für eidgenössisches Heer, Beteiligung an den Ausgaben des Staatenbundes, Religion- und Souveränitätswahrung) stimmte Appenzell Innerrhoden als einer der letzten Kantone dem Bundesvertrag von 1815 zu.

Übergang zur modernen Demokratie – Zweite Verfassung 1828

In den 1820er Jahren wuchs der Unmut in der Innerrhoder Bevölkerung gegen die Oligarchie der herrschenden Familien und den Obrigkeitsstaat. Die Opposition forderte demokratische Reformen, Erweiterung der Volksrechte und Drucklegung der Kantonsverfassung von 1814.

Die eigenmächtige Verwaltung der Innerrhoder Allmenden (Gemeinmerker) durch die politischen Behörden, während die Mendlegenossen wenig zu sagen hatten sowie massive Druckversuche der Behörden, um eine genossenschaftliche Selbstverwaltung der Mendle zu verhindern, bildete den Anlass, dass der Protest zur breiten Volksbewegung wuchs. Der Grosse Rat sah sich gezwungen, als Zugeständnis 1826 eine erste demokratische Mendlegemeinde als Versammlung aller Nutzungsberechtigten durchzuführen.

Die Versammlung bekam die Kompetenz, selber Bannwarte zu wählen, den Auftriebstag für das Vieh zu bestimmen und die Auftriebstaxen festzulegen, musste aber wegen Unruhe zwei Mal wiederholt werden. Als die Mehrheit der Versammlung den Behördenantrag, die Mendleweid weiterhin dem Armenpflegamt zur Nutzung zu überlassen, ablehnte, weigerte sich der leitende Landesbeamte, der Pannerherr, die ablehnende Mehrheit anzuerkennen. Deshalb endete die Versammlung mit einem grossen Aufruhr.

1827 wurden die Grossräte beim Verlassen des Rathauses in Appenzell nach einer Sitzung von 200 bis 300 Personen bedroht. Wenige Tage später wurden die beiden Mendlebannwarte Rechsteiner und Herrsche als Rädelsführer verurteilt, was sich die Bevölkerung nicht mehr länger bieten lassen wollte.

An der Landsgemeinde 1828 wurde ein Grossteil der aus den herrschenden Familien stammenden Landesbeamten abgewählt und dafür die beiden Mendlebannwarte Herrsche und Rechsteiner zum Armleutsäckelmeister bzw. zum Landschreiber gewählt. Dieser demokratische Umsturz gab den Anstoss zur zweiten Innerrhoder Verfassung von 1829 mit der unter anderem das Recht der Einzelinitiative eingeführt wurde. Dass ein einziger Stimmberechtigter die Abänderung von Verfassungsartikeln und Gesetzen beantragen konnte, hatte eine hohe Symbolkraft für die moderne Demokratie und führte zur allmählichen Ablösung des alten Obrigkeitsstaates. Mit solchen Einzelinitiativen wurden später die Gewaltentrennung und Finanzreferendum eingeführt.

Für das Einsetzen eines gesellschaftlichen Wandel im Zeitalter der Aufklärung zeugt auch der Sutterhandel, eine der schwersten innenpolitischen Krisen in der Innerrhoder Geschichte. Die Rehabilitation des 1784 zu Unrecht zum Tode verurteilten oppositionellen Landammanns Anton Joseph Sutter (1720–1784) war ein Anliegen, das seit Jahrzehnten im Volk gegärt hatte[5]

Misstrauen gegenüber dem neuen Bundesstaat

Appenzell Innerrhoden teilte die Vorbehalte anderer katholischen Orte gegenüber einer Idee eines Bundesstaates, weil man zentralistischen Staatsideen und individualistischen Freiheitsvorstellungen nicht traute. 1847 unterstützte es die Sonderbundskantone, blieb aber militärisch neutral. Weil die Innerrhoder dem Truppenaufgebot der Tagsatzung nicht Folge leisteten, wurden sie von der Eidgenossenschaft zu einer Busse verurteilt. In der Folge verwarf Appenzell Innerrhoden die Bundesverfassung von 1848 wie die Innerschweizer Kantonen deutlich.

Die Innerrhoder Verfassung wurde erst 1872 an die Bundesverfassung angepasst. Der Zwang, das Eigenleben des Kantons dem neuen Bundesstaat anzupassen, führte zu heftigen politischen Auseinandersetzungen.

Kantonsverfassung von 1872 als konservativ-liberaler Kompromiss

Vereidigung bei der Innerrhoder Landsgemeinde in Appenzell

Wie in anderen Landsgemeindekantonen spielten die politischen Parteien im ganzen 19. Jahrhundert eine geringe Rolle. Nach der Gründung des Bundesstaates entstand eine liberale Bewegung aus mehrheitlich wohlhabenden Bildungsbürgern aus dem Hauptort, welche die Kantonspolitik über längere Zeit mitprägte und die Erneuerung des Kantons im Sinne eines weltlich orientierten Rechtsstaates anstrebte. Dazu gehörte Karl Justin Sonderegger (1842–1906), der von 1879 bis 1895 Redaktor der freisinnig orientierten Innerrhoder Zeitung Der Freie Appenzeller war, und 1864 einen liberal orientierten Bürgerverein gründete. Er beantragte an der Landsgemeinde 1864 erfolglos eine Verfassungsrevision. Mit einer Aufklärungsschrift, in der er die Bildung von territorial begrenzten politischen Gemeinden, die Trennung von Kirche und Staat, die Unvereinbarkeit der Ämterkumulation, die Gewaltentrennung sowie Verbesserung des Schulwesens vorschlug, vermochte er die Öffentlichkeit aufzurütteln. Der vom Grossen Rat gegen den Willen konservativer Kreise eingesetzte Verfassungsrat erstellte einen Entwurf, der in der tumultuösen Landsgemeinde von 1869 mit grosser Mehrheit abgelehnt wurde.

Mit einer Petition verlangten 301 Oberegger Bürger vom Grossen Rat die Wiederaufnahme der Revisionsarbeit. Ein zweiter, konservativ geprägter Verfassungsentwurf wurde von der Landsgemeinde 1871 ebenfalls abgelehnt. Die Landsgemeinde von 1872 setzte nun einen Verfassungsrat aus drei Liberalen und vier Konservativen ein, dessen Kompromissentwurf in der ausserordentlichen Landsgemeinde vom 24. November 1872 angenommen wurde. Die nur 48 Artikel aufweisende Verfassung kommt der Forderung des Volkes nach Öffentlichkeit und Transparenz nach. Die am Landsgemeindesonntag 1873 in Kraft getretene neue Verfassung ist in revidierter Form heute noch gültig.

Literatur

  • Walter Schläpfer: Appenzeller Geschichte: Zur 450-Jahrfeier des Appenzellerbundes 1513–1963. Urnäsch 1972, Bd. 2, S. 160–182.
  • Max Triet: Der Sutterhandel in Appenzell Innerrhoden 1760–1829. Verlag Genossenschafts-Buchdruckerei, Appenzell 1977.
  • Fabian Brändle: Demokratie und Charisma: Fünf Landsgemeindekonflikte im 18. Jahrhundert. Chronos, Zürich 2005, ISBN 3-0340-0748-5.
  • Fabian Brändle: Auch dem gemeinen Volk in allem zu gefallen. Joseph Anton Sutter und die Landsgemeindekonflikte des 18. Jahrhunderts. In: IGfr. 50, 2009, S. 41–63.
  • Rolf Graber (Hrsg.): Demokratisierungsprozesse in der Schweiz im späten 18. und 19. Jahrhundert. Forschungskolloquium im Rahmen des Forschungsprojekts «Die demokratische Bewegung in der Schweiz von 1770 bis 1870». Eine kommentierte Quellenauswahl. Unterstützt durch den FWF / Austrian Science Fund. Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2008, ISBN 978-3-631-56525-4. (= Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle «Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850». Bd. 40 Herausgegeben von Helmut Reinalter.)
  • René Roca, Andreas Auer (Hrsg.): Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen. Schriften zur Demokratieforschung, Band 3. Zentrum für Demokratie Aarau und Verlag Schulthess, Zürich/Basel/Genf 2011, ISBN 978-3-7255-6463-7.
  • Daniel Fässler: Den Armen zu Trost, Nutz und Gut. Eine rechtshistorische Darstellung der Gemeinmerker (Allmenden) von Appenzell Innerrhoden – unter besonderer Berücksichtigung der Mendle. Innerrhoder Schriften, Band 6. Appenzell 1998.

Einzelnachweise

  1. a b Daniel Fässler: Den Armen zu Trost, Nutz und Gut. Eine rechtshistorische Darstellung der Gemeinmerker (Allmenden) von Appenzell Innerrhoden - unter besonderer Berücksichtigung der Mendle, Innerrhoder Schriften, Band 6, Appenzell 1998.
  2. Bezirk Appenzell: Die Politischen Strukturen von Appenzell Innerrhoden
  3. Kanton Appenzell Innerrhoden: 1716 - Abschaffung des Geheimen Rates
  4. Fabian Brändle: Auch dem gemeinen Volk in allem zu gefallen. Joseph Anton Sutter und die Landsgemeindekonflikte des 18. Jahrhunderts, in IGfr. 50, 2009.
  5. Kanton Appenzell Innerrhoden: 1828 - Der politische Umsturz in Appenzell