Erdeessen

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Ein Seidensifaka (Propithecus candidus) im Marojejy National Park, Madagaskar, frisst Erde.

Erdeessen, griech. Geophagie, ist eine bei vielen Völkern verbreitete Sitte, bestimmte Erdsorten zu essen. Hierbei wird dann gelegentlich von „essbaren Erden“ gesprochen.

Beschreibungen und mögliche Ursachen

Beschreibungen des Erdeessens gibt es aus vielen Teilen der Welt. Meist beziehen sich die Berichte auf vergangene Jahrhunderte und Naturvölker oder Entwicklungsländer. Oft wird der Verzehr besonders ton- oder salzhaltiger Erden geschildert.

Verzehrt werden Erden aus vielerlei Gründen, die nicht in jedem Einzelfall zu klären sind. Bekannte Interpretationen beziehen sich auf Erdeessen aus Not (Unterernährung), aus Sucht, aus religiösen Gründen oder als Heilmittel etwa im Bereich medizinischer Selbstbehandlung und volksheilkundlicher Überzeugung. In anderen Fällen handelt es sich auch möglicherweise um instinktiv angegangene Stoffwechsel-Mangelerscheinungen (Spurenelemente) oder Besonderheiten im Ernährungsverlangen schwangerer Frauen.

Die Geophagie wurde 1852 als Selbstmedikation gegen Anämie nach Malaria in Verbindung gebracht[1], was aber später (1906) in Abrede gestellt wurde: Umgekehrt sei Anämie die Folgeerscheinung der Geophagie.[2]

Im Zusammenhang mit Erdeessen ist erwähnenswert, dass auch im Tierreich gelegentliche Fälle von Erdeessen beobachtet werden, die zumeist als Aufnahme von Mineralien gedeutet werden.

Risiken des Erdeessens liegen unter anderem in der Übertragung von Krankheiten oder Aufnahme von Darmparasiten und möglichen Vergiftungserscheinungen.

Abgrenzung und Unterscheidungen

Traditionell wird etwa Kieselerde als Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Auch Heilerde ist ein heute noch gelegentlich verwendetes medizinisches Pulver aus Lößerde.

Mit der Urkost gibt es ein Ernährungskonzept, zu dem es gehört, gelegentlich auch Erde zu essen.

Als Krankheitsbild im Umfeld des Erdeessens ist das Pica-Syndrom bekannt.

Die Aufnahme von Lehm kann durch Bindung von Kalium und Eisen zu Hypokaliämie sowie Eisenmangel führen.

Erde essen, um den Hunger zu stillen

„Der Hunger treibt auch viele dazu, Erde zu essen. In ganz Alabama, Mississippi, und North Carolina essen viele schwarze Frauen oft bis zu 50 Prozent — Lehm. Diese apathische und durch Anämie erschöpfte Frau führte mich zu dem Hang, wo sie gewöhnlich nach »Essen« grub, das sie mit ihrem Sohn teilte. »Ißt du Erde?« »Manchmal…« »Schmeckt sie gut?« »Ja.« (Überrascht) »Hast du nie welche gegessen?« […] »Wer ißt hier sonst noch Erde?« »Meine Mutter und meine Tante da oben in dem weißen Haus. Ich denke, alle.«“

Jacob Holdt: American Pictures. Bilder aus Amerika. Persönliche Erlebnisse in Amerikas Unterschichten 1970–1975, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1984, ISBN 3-10-034102-3, S. 95, mit Bildern dazu

Dreckkekse, geformt aus gelbem Lehm der Hochebene, Salz und Pflanzenfett, seien in den Slums von Haiti seit dem Erdbeben von 2010 eine regelmäßige Mahlzeit geworden.[3] Ursprünglich wurden sie als Kosmetikmittel (zum Peeling) und als Heilmittel angeboten, um Magensäure zu binden und für Kinder und Schwangere als Kalziumquelle.[4][5] Auch verschiedene Videoreportagen zeigen Menschen, die Erdfladen gegen Hunger essen.[6][7] Diesbezügliche Pressemitteilungen, Fotoreportagen und Filmberichte wurden von der in Deutschland und Haiti lebenden Filmemacherin Claudette Coulanges, einer gebürtigen Haitianerin, widersprochen: „Ich kann mich an einige Frauen erinnern, vor allem Schwangere, die gelegentlich getrocknete Tonerde knabberten oder lutschten. Doch das hatte nichts mit Hunger zu tun.“ und „Völliger Unsinn, denn wer kann sich denn in einem Slum – ganz abgesehen von dem feuchtheißen Klima – Butter leisten?“[8]

Aus einem Reisebericht, 1834 veröffentlicht:

„Bei Personen, die gewohnheitsmässig Lehm essen, zeigt die Haut eine gewisse Aehnlichkeit mit der Haut von Leuten, die im ersten Stadium der Elephantiasis stehen; solche Menschen sehen aufgedunsen aus und klagen über Schwäche und Schmerzen in den Beinen. Unter den Pokomo ist das Lehmessen nicht üblich, dagegen soll es unter den Sklaven der Küstenbevölkerung verbreitet sein. Herr Tappin, der Führer des Missionsdampfers „Highland Lassie“, welcher den Verkehr zwischen Sansibar und Mombasa-Frere-Town, den Stationen der Church Missionary Society, versah, erzählte darüber Folgendes: Er habe während 5½ Jahren in der Zuckerfabrik des Engländers Frazer in Kokotoni auf der Insel Sansibar Gelegenheit gehabt, gewohnheitsmässige Lehmesser zu beobachten. Von 700 daselbst beschäftigten Sklaven, die monatelang von 2 Uhr nachts bis 9 und 11 Uhr abends hart arbeiten mussten, ass die grössere Hälfte Lehm und befand sich stets wohl dabei. Frauen mit Säuglingen verspeisten regelmässig Lehm und stillten mit ihm den Hunger ihrer drei- bis fünfjährigen Kinder. Es wurde stets nur trockener Lehm gegessen; um ihn in genügender Menge verfügbar zu haben, errichteten die Leute kleine Gestelle und trockneten darauf den zu kleinen, dünnen Scheiben oder Strängen geformten nassen Lehm. Wurde ihnen hierzu keine Zeit gelassen, oder war anderweit kein trockener Lehm zu erlangen, so verzehrten sie Lehm von den Hauswänden und beschädigten dieselben dadurch bedeutend, so dass es zuweilen zu recht unerfreulichen Auseinandersetzungen kam. Erhielten die Leute keinen Lehm, so wurden sie missmutig, schwach und „krank wie Trinker“. Die von einem Erwachsenen im Laufe eines Tages verspeiste Menge Lehm schätzte Herr Tappin auf mindestens 1 Pfund und gab an, dass die Lehmesser wenig andere Lebensmittel zu sich nehmen und selbst dann, wenn sie hungrig sind, den Lehm allen anderen Speisen vorziehen.“

Clemens und Gustav Denhardt[9]

Auch heute noch werden Muddy Cake in Afrika in Handarbeit hergestellt und gegessen. In den Bergdörfern im Uluguru (Region Morogoro/Tansania) werden die Schlammkekse aus der dort angeblich besonders mineralstoffreichen roten Erde hergestellt. Die rote Erde wird zunächst in zwei Arbeitsgängen fein zerstampft, auf dem Boden getrocknet und in Säcke gefüllt. Daraufhin werden zwei Handvoll Erde entnommen, mit Wasser vermischt und mit den Händen zu einem Lehmklumpen geknetet. Im nächsten Arbeitsgang werden aus diesem noch feuchten Klumpen Teile abgebrochen und von Hand auf einem Holzbrett zu einem zylinderförmigen Stab mit etwa 10 cm Länge und 3 cm Dicke gerollt. Diese Stücke werden dann auf dem Boden getrocknet, bis sie ausgehärtet sind. Jeder Arbeitsgang wird von einer anderen der Frauen, die gemeinsam im Kreis auf dem Boden sitzen, durchgeführt. Dutzende solcher Muddy-Cake-Stäbe werden dann gemeinsam verpackt und in den Dörfern und auf dem Markt verkauft. Der Muddy Cake ist steinhart, lässt sich aber mit den Zähnen abbeißen und im Mund zermalmen, er schmeckt sandig und nach Erde. Die Frauen empfehlen diese Muddy Cakes besonders für Schwangere, weil angeblich Eisen und Folsäure in hoher Konzentration enthalten sein sollen. Schwangere Frauen der Region essen davon 4-5 Stück am Tag. Die Stäbe werden auch als Hautfarbe zum Schmuck benutzt, vor der Anwendung aber wieder befeuchtet.

aus Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage. von 1888–1890

Vorlage:Meyers ist obsolet; heißt jetzt Vorlage:Hinweis Meyers 1888–1890

„Das Erdeessen bezeichnet die bei vielen Völkern beobachtete Gewohnheit, Erden von gewisser Beschaffenheit zu essen. Diese Gewohnheit findet sich beispielsweise in den Sandsteingruben des Kyffhäuser und im Lüneburgischen, wo die Arbeiter einen feinen Ton, die sogenannte Steinbutter, auf das Brot streichen. Andre Gegenden Europas, in denen Erdeessen vorkommt, sind Steiermark, Treviso (Oberitalien), Sardinien, wo die Erde wie andere Lebensmittel auf den Markt gebracht wird; der äußere Norden von Schweden und die Halbinsel Kola, wo die Erde, eine als Bergmehl bezeichnete Infusorienerde, unter das Brot verbacken genossen wird.

Als Leckerbissen dient Erde in großer Menge in Persien, trotz eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlassenen Verbots. In den Basaren kauft man einen weißen, feinen, etwas fettig anzufühlenden Ton und unregelmäßige, weiße, feste Knollen, die sich feinerdig anfühlen und etwas salzig schmecken.

Auch die Damen der spanischen und portugiesischen Aristokratie betrachteten einst die Erde von Ertemoz als große Delikatesse.

Neben diesem Gebrauch, die Erde als Nahrungsmittel zu genießen, der sich auf alle Tropenländer und viele subtropische Gebiete erstreckt und in Amerika und Afrika am verbreitetsten ist, findet sich beispielsweise in Nubien die Sitte, Erde als Arzneimittel zu genießen. An anderen Orten ist diese Sitte mit religiösen Motiven vermischt, und an andern erscheint sie als religiöse Handlung allein, wie auf Timor.

Für die so weitverbreitete Sitte des Erdeessens dürfte es viele, grundverschiedene Ursachen geben. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Erde einen gewissen Wohlgeschmack hervorrufen könne; abgesehen davon sind viele Erdarten salzhaltig, so dass der Genuss der Erde in vielen Fällen als Ersatz des Salzgenusses angesehen werden kann. Ferner kommt Erdeessen im Verlauf verschiedener, zumeist in den Tropen heimischer Krankheiten vor, namentlich bei der durch den Darmparasiten Anchylostomum duodenale hervorgerufenen Blutarmut.

Charakteristisch für den regelmäßigen Erdeesser ist der Hängebauch, allgemeine Abmagerung, Anschwellung der Leber und Milz. Auffällig ist die Häufigkeit leidenschaftlichen Erdeessens im kindlichen Lebensalter.

Schließlich kann das Erdeessen auch einen verkehrten Nahrungstrieb darstellen, wie er sich bei Bleichsüchtigen und Hysterischen, auch bei jüngeren Mädchen findet (Pica chlorotica), die beispielsweise Kreide, Schiefer, Griffel in den Mund nehmen und daran kauen, auch alten Mörtel essen.“

Literatur

  • B. Anell, S. Lagergrantz: Geophagical customs. Uppsala 1958, OCLC 462245551.
  • T. Johns, M. Duquette: Detoxification and mineral supplementation as functions of geophagy. In: Am J Clin Nutr. 1991;53, S. 448–456.
  • Jörg Blech: Heißhunger auf Dreck. In: Der Spiegel. Nr. 50, 2007, S. 152 (online).
  • Sera Young: Craving Earth: Understanding Pica--the Urge to Eat Clay, Starch, Ice, and Chalk. Columbia University Press, 2012, ISBN 978-0-231-14609-8.
  • Berthold Laufer: Geophagy, Publications of the Field Museum of Natural History. Anthropological Series, Vol. 18, No. 2, (1930), pp. 99, 101-198.

Verarbeitung in der Literatur

Weblinks

Zum Thema Pica, aber auch zur Abgrenzung gegenüber kulturell bedingtem Erdeessen:

Einzelnachweise

  1. C. F. Heusinger: Die sogenannte Geophagie oder Tropische (besser: Malaria-)Chlorose als krankheit aller länder und klimate [sic!] H.Hotop, Cassel 1852 (Volltext in der Google-Buchsuche).
  2. W. Meigen: „Essbare Erde“ von Deutsch-Neu-Guinea, Freiburg im ßreisgau, 1906, in Abschrift lesbar bei Zeitschrift der Deutschen geologischen Gesellschaft bei archive.org
  3. rory Carroll: Haiti: Mud cakes become staple diet as cost of food soars beyond a family's reach, The Guardian, Dienstag 29. Juli 2008, bei guardian.co.uk
  4. Jonathan M. Katz: Verzweiflung in Haiti: Die Menschen essen Dreck. auf: spiegel.de, 29. Januar 2008.
  5. Fotostrecke Haiti: Die Menschen und das Dreck-Gebäck. 29. Jänner 2008, zuletzt abgerufen Februar 2013.
  6. Dirt poor Haitians eat cookies made of mud bei worldfocus.org
  7. Schlammkekse gegen den Hunger, Sendung 10vor10, Reportage des Schweizer Fernsehens
  8. Hermann Abmayr: Schlammkekse. in Kontext-Wochenzeitung
  9. Clemens und Gustav Denhardt: Bemerkungen zur Originalkarte des unteren Tana-Gebietes. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Neunzehnter Band. Verlag von Dietrich Reimer, Berlin, 1834. S. 156. (Digitalkopie im Internet Archive).
  10. Bill Casselman: Geophagy = the eating of dirt, earth, soil.