Helmut Bauer (Mediziner)

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Helmut Johannes Bauer (* 31. März 1914 in Klingenberg; † 16. Januar 2008) war ein deutscher Mediziner, der ab den 1950er Jahren wesentlich zur Erforschung der Multiplen Sklerose und zur Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen der deutschen Neurologie beigetragen hat.[1][2] Im Zweiten Weltkrieg war er ab Dezember 1941 Mitglied der Waffen-SS.[3][4]

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bauer, geboren 1914 in Klingenberg/Dresden, wuchs bis zum achten Lebensjahr in Siebenbürgen auf. Die Familie wanderte aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage 1922 nach Youngstown, Ohio, aus. Bauer absolvierte hier die High School und erhielt im Anschluss ein Stipendium für das Studium am Hiram College, Ohio, das er mit einem Bachelor of Arts in Chemie 1934 abschloss.[2][5]

Seinem Wunsch Medizin zu studieren konnte er realisieren durch ein Stipendium des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA 1881–1945) an der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin (1932–1938). 1939 wurde er dort über ein arbeitsmedizinisches Thema zum Dr. med. promoviert. Er arbeitete anschließend in den medizinischen Kliniken Berlin-Westend (Friedrich Umber) und Berlin-Neukölln (Ernst Wilhelm Baader, Begründer der Arbeitsmedizin in Deutschland). Dort lernte er seine zukünftige Frau Käthe Diplap kennen, die dort als Ärztin arbeitete (Heirat am 28. Dezember 1941). 1940 gab Bauer die 1929 erlangte amerikanische Staatsbürgerschaft auf.[4]

Er meldete sich im Juli 1940 zur Wehrmacht, um als Truppenarzt zu arbeiten, wurde aber bald wegen seiner englischen Sprachkenntnisse dem 1. Lehrregiment „Brandenburg“ überstellt und dem Sonderkommando Künsberg zugeordnet. Mit dem Sonderkommando war er eingesetzt in Frankreich, Griechenland, Kreta, Italien, dem Baltikum und Russland, zunächst noch als Wehrmachtsangehöriger (Unter- bzw. Assistenzarzt), ab Dezember 1941 als Untersturmführer der Waffen-SS[6] (entspricht Leutnant bzw. Assistenzarzt), ab 9. November 1942 als Obersturmführer (entspricht Oberleutnant bzw. Oberarzt). Zwischenzeitlich erfolgte eine sechsmonatige Tätigkeit als Lazarettarzt in Saporischschja (Ukraine). Ab Mai 1943 war Bauer wieder in Berlin (Forschungsstelle für Auslandsmedizin), und ab September 1943 der Amtsgruppe D unter General der Waffen-SS Gottlob Berger zugeordnet. Am 30. Januar 1944 wurde er zum Hauptsturmführer (entspricht Hauptmann bzw. Stabsarzt) befördert. Von Juni bis Dezember 1944 war Bauer stellvertretender Leiter im Institut für Mikrobiologie auf Schloss Sachsenburg in Frankenberg und ab 1945 wieder in Berlin im SS-Hauptamt tätig.[7][8][9][10][3]

In Berlin wurde Bauer als DRK-Arzt von General Gottlob Berger eingesetzt, mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) die Situation amerikanischer und englischer Kriegsgefangener in Deutschland zu verbessern, was offenbar gelang.[11][12][13][14][15][16][17] Bauer war kein Mitglied der NSDAP.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und Gefangenschaft war Bauer 1947 zunächst bei E. W. Baader in Hamm tätig, wo er seine Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin abschloss. Von Juni bis Dezember 1949 hospitierte Bauer an der Neurologischen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bei Heinrich Pette und erhielt dort ab Juli 1950 eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent und später als Oberarzt.

Nach einer Gastprofessur in Ohio (1961–1962) folgte er 1963 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Neurologie und die Leitung der Klinik für Neurologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Für die Medizinische Fakultät hatte er von 1968 bis 1969 das Amt des Dekans inne. 1980 wurde er emeritiert.

Nach dem Tod seiner ersten Frau Käthe Diplap am 13. Februar 1975 heiratete er 1977 Irmgard Schwarze (* 9. Mai 1924 in Bremerhaven; † 29. November 2022 in Göttingen). Beide Ehen blieben kinderlos.

Wirken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bauer habilitierte sich 1955 für das Fach Neurologie in Hamburg über die Einführung der Elektrophorese in die Liquordiagnostik und die Identität der Liquorproteine mit den Eiweißkörpern des Blutes. Die Multiple Sklerose wurde sein Hauptforschungsthema, mit dem er international bekannt wurde.

Er engagierte sich für den Ausbau der Neurochemie und gehörte 1959 zu den Gründungsmitgliedern der Kommission für Neurochemie der World Federation of Neurology. In der Göttinger Neurologie errichtete er bereits 1964 ein neurochemisches Labor und 1967 eine neurologische Intensivstation. Dabei wurde er unterstützt durch das Förderprogramm Biomedizinische Technik der VW-Stiftung und durch Einrichtung eines DFG-Schwerpunkts für Multiple Sklerose. Nach seiner Emeritierung 1980 gründete er die MS Informations- und Beratungsstelle der Universität Göttingen und veröffentlichte mit dem Kinderneurologen Folker Hahnefeld Grundlegendes zum Thema der kindlichen Multiplen Sklerose.[2][4]

Unter seiner Präsidentschaft veranstaltete die Deutschen Gesellschaft für Neurologie 1972 den ersten gemeinsamen Kongress mit der Britischen Neurologie nach dem Krieg. Bauers Wirken trug zum Aufbau der internationalen Beziehungen in der Neurologie bei. Davon zeugen seine Ehrenmitgliedschaft bei der britischen und bei der französischen Gesellschaft für Neurologie (1968) sowie seine korrespondierende Mitgliedschaft der Amerikanischen Neurologischen Gesellschaft (1972). Für sein Engagement wurde er mit der Ehrenpräsidentschaft der DGN geehrt (1982), wurde Ehrenpräsident der Luxemburgischen MS-Liga (1987), Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neuropädiatrie (1997) und der Deutschen Gesellschaft für Liquordiagnostik und klinische Neurochemie (1997). Seit 1966 war er Vorsitzender der Baader Stiftung für Arbeitsmedizin und Prävention.

Bauer war auch der Namensgeber des 2003 eingerichteten „Helmut-Bauer-Nachwuchspreises für Multiple Sklerose-Forschung“ der Universität Göttingen. Zu Ehren seines 90. Geburtstages fand 2004 ein Internationales Symposium zur Eröffnung des Instituts für Multiple-Sklerose-Forschung in Göttingen statt.[18]

Nach neueren Erkenntnissen zur NS-Vergangenheit Bauers distanzierte sich die Universität Göttingen im Januar 2020 von ihrem ehemaligen Mitarbeiter, beschloss, den Preis nicht mehr zu vergeben und die bisherigen Preisträger zu informieren sowie ihnen eine Umbenennung in „Nachwuchspreis für Multiple-Sklerose Forschung Göttingen“ anzubieten. Sie bezog sich dabei auf das Genfer Gelöbnis und die Deklaration von Helsinki.[19]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Mathias Schmidt, Jens Westermeier, Dominik Groß: The two lives of neurologist Helmut J. Bauer – Renowned MS specialist and National Socialist (1914–2008). In: Neurology. Band 93, Nr. 3, 16. Juli 2019, doi:10.1212/WNL.0000000000007781 (englisch).
  • Erhard Geißler: Biologische Waffen – nicht in Hitlers Arsenalen. Biologische und Toxin-Kampfmittel in Deutschland von 1915 bis 1945. In: Studien zur Friedensforschung. 2. Auflage. LIT, Münster 1999.
  • Anja Heuß: Das Sonderkommando Künsberg und der Kulturraub in der Sowjetunion. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Band 45, Nr. 4. ifz-muenchen.de, München 1997, S. 535–556.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Professor Dr. Helmut Bauer verstorben, Informationsdienst Wissenschaft, 18. Januar 2008.
  2. a b c W. Firnhaber, E. Volles: In Memoriam Prof. em. Dr. med. Helmut Johannes Bauer. In: Akt Neurol. Band 35, 2008, S. 254–255.
  3. a b Mathias Schmidt, Jens Westermeier, Dominik Groß: The two lives of neurologist Helmut J. Bauer – Renowned MS specialist and National Socialist (1914–2008). In: Neurology. Band 93, Nr. 3, 16. Juli 2019, doi:10.1212/WNL.0000000000007781 (englisch).
  4. a b c Mathias Schmidt, Michael Martin, Dominik Groß: SS-Hauptsturmführer Helmut J. Bauer (1914–2008). In: Der Nervenarzt. Band 91, Suppl1, 2020, S. 71–79, doi:10.1007/s00115-019-00845-4.
  5. Bachelor of Arts Diplom von Helmut Bauer. Hiram College (USA), 1934 (filesusr.com [PDF]).
  6. Eidesstattliche Erklärung des Dr. Stein über Dr. Bauers Aufnahme in die SS. 1947 (filesusr.com [PDF; abgerufen am 12. Januar 2024]).
  7. Entnazifizierungsakte Helmut Johannes Bauer. NW1100/BG3400177. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Duisburg 1947 (nicht digitalisiert, nur im Lesesaal verfügbar).
  8. SSO-Akte Bauer, Helmut Johannes (1941-1945). VBS286/6400001801. Bundesarchiv Berlin.
  9. Erhard Geißler: Biologische Waffen – nicht in Hitlers Arsenalen. Biologische und Toxin-Kampfmittel in Deutschland von 1915 bis 1945. In: Studien zur Friedensforschung. 2. Auflage. LIT, Münster 1999.
  10. Anja Heuß: Das Sonderkommando Künsberg und der Kulturraub in der Sowjetunion. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Band 45, Nr. 4. ifz-muenchen.de, München 1997, S. 535–556.
  11. Bericht über die Konferenz der britischen Sanitätsoffiziere in Gefangenschaft vom 18. bis 22. März 1945 in Schwanenwerder/Berlin. (filesusr.com [PDF; abgerufen am 5. Januar 2024]).
  12. Delmar T. Spivey, Arthur A. Durand: Secret Mission to Berlin. In: Air Force Magazine. September 1975, S. 115–120 (englisch, filesusr.com [PDF; abgerufen am 5. Januar 2024]).
  13. Verschiedene Sonderausweise der Wehrmacht zur Durchführung der Hilfsaktionen für Gefangene. März-April 1945. (filesusr.com [PDF; abgerufen am 5. Januar 2024]).
  14. Protokoll zur Arbeitsbesprechung zwischen Ärzten der Deutschen Wehrmacht, des Deutschen Roten Kreuzes, des Internationalen Roten Kreuzes, der Reichsgesundheitsführung und kriegsgefangenen US-amerikanischen Militärärzten. 27.-30. März 1945. Berlin (filesusr.com [PDF; abgerufen am 5. Januar 2024]).
  15. Eidesstattliche Erklärung von Dr. Thonnard-Neumann zu Helmut Bauers Tätigkeit. 1947. Abgerufen am 12. Januar 2024: https://d2bacb61-63df-41a0-83f0-3e4b6f418d07.filesusr.com/ugd/e9d9cc_f45b2cd54d3c45c8a9e528d469845082.pdf
  16. Sonderausweis des IRK zur Durchführung der Hilfsaktionen für Gefangene März-April 1945 und Bestätigung durch Dr. Landolt 1947. Abgerufen am 12. Januar 2024: https://d2bacb61-63df-41a0-83f0-3e4b6f418d07.filesusr.com/ugd/e9d9cc_1836a840fedd4598b452eca32d5b4447.pdf
  17. US-General Vanaman an Dr. Stein über die Wirkung der Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung der Kriegsgefangenen in Deutschland. Washington DC 3. Juni 1947 (filesusr.com [PDF; abgerufen am 12. Januar 2024]).
  18. Erstes „Institut für MS-Forschung“ in Deutschland eröffnet. In: Innovations-Report. Abgerufen am 5. Januar 2024.
  19. Neue historische Erkenntnisse zu Prof. Dr. Helmut Bauer. Stellungnahme des Fakultätsrates der Medizinischen Fakultät Göttingen zu Prof. Dr. Helmut Bauer und dessen Lebenslauf im Nationalsozialismus 1932-1944. Pressemitteilung der Universität Göttingen. In: umg.eu. Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität, 27. Januar 2020, abgerufen am 5. Januar 2024.