Krankheitseinsicht

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Krankheitseinsicht ist in der Medizin - vornehmlich in der Psychiatrie - ein überwiegend aus ärztlicher Perspektive verwendeter Terminus. Meist von einem medizinischen Experten wird mit Hilfe dieses Begriffs zum Ausdruck gebracht, ob ein Patient die ihm mitgeteilten ärztlichen Feststellungen verstanden hat und sich den daraus folgenden Therapie-Empfehlungen anschließt. Mangelnde Krankheitseinsicht kann im psychopathologischen Befund vermerkt werden, wobei aber laut AMDP-System von einem Mangel an Krankheitsgefühl unterschieden werden sollte.[1]

Auch in der Existenzphilosophie und philosophischen Anthropologie wird dieser Terminus verwendet. Die therapeutischen Mitteilungen des Arztes an den Patienten stellen u. U. notwendige Schlußfolgerungen dar, die sich aus Untersuchung und Befunderhebung ergeben. Es handelt sich aber bei der Frage der Krankheitseinsicht nicht nur um die aus erhaltenen Empfehlungen sich letztlich ergebende sog. Therapietreue[2] (Compliance), sondern auch um alle subjektiven Voraussetzungen eines Patienten zur Befolgung des ihm erteilten ärztlichens Rats.[3]. Dabei sind ggf. bestehende Einschränkungen der Einsichtigkeit eines Patienten durch eigene Vorurteile, etwa in Form verblendeter Uneinsichtigkeit, zu berücksichtigen einschließlich seiner letztlich ganz persönlichen Reaktionen und seiner eigenen Urteilsbildung bzw. Beurteilung. Alles dies ist vom Arzt zu beachten und betrifft den sog. Krankheitszustand des „mündigen Patienten“.[4][5][6]

Krankheitszustand

Berücksichtigt man den Krankheitszustand eines Patienten, so sind u. a. bewusste und unbewusste Einstellungen und Haltungen wesentlich, bevor und nachdem er sich einer ärztlichen Untersuchung unterzogen hat. Damit ist auch die Frage verbunden, ob die vom Behandler erteilten Ratschläge einschließlich der ärztlichen Aufklärung mehr oder weniger vorbehalt- und fraglos vom Patienten angenommen werden und wie sie ggf. verarbeitet werden. Hieraus ergeben sich evtl. Forderungen nach einer geeigneten Krankheitsbewältigung.[2][7] Im Rahmen der Patient-Arzt-Beziehung stehen dem Begriff der Krankheitseinsicht – aus ärztlicher Perspektive tendenziell verobjektivierend verwendet – die subjektiven Bezeichnungen des sprachlichen Umfelds der Befindlichkeit gegenüber. Diese sind oft von ausschlaggebender Bedeutung für das eigne Urteil, gesund oder krank zu sein, nicht das Urteil des Arztes.[4] Zwar versucht jeder Arzt bei der Untersuchung eines Patienten sich ein Bild von dessen Allgemeinzustand zu machen und sich in sein Befinden einzufühlen, doch erschöpft sich damit die Untersuchung noch nicht. Der Arzt ist auf eine Verständigung und Kooperation mit dem Patienten bei jeder darüber hinausgehenden Feststellung und Behandlung spezieller Befunde angewiesen, um den konkret gegebenen Zustand der vom Patienten letztlich vermuteten Krankheit zu bessern. Dabei ist es im Interesse eines idealen ärztlichen Therapieerfolges wünschenswert, wenn das durch den „Krankheitszustand“ des Patienten geprägte subjektive Krankheitsbewusstsein sich mit den regelhaften ärztlichen Vorstellungen über ein bestimmtes ggf. festgestelltes Krankheitsbild deckt. Krankheitseinsicht ist in positiver oder negativer Hinsicht die Grundlage und das definitive Resultat einer jeden ärztlichen Konsultation. Ärztliche Maßnahmen stellen den Versuch dar, die bis dahin u. U. vagen subjektiven Annahmen und Befürchtungen eines leidenden Patienten oder seines leidenden Umfelds zu verobjektivieren und Befindlichkeitsstörungen zu erkennen.[6]

Mögliche Verlaufsstadien der Krankheitseinsicht

Widerstand gegen Krankheit und Wille zur Krankheit

Die subjektive Wahrnehmung einer Befindlichkeitsstörung geht mit einer Einbuße an Wohlbefinden des Betroffenen einher. Sie stellt eine gefühlsmäßig negative Tatsache für ihn dar. Das Ablehnen bewusster Wahrnehmung einer solchen Gefühlsregung erscheint daher verständlich. Dies ist ggf. bedingt durch Widerstände gegen das Eingeständnis eigener Ohnmacht und Bedürftigkeit. Es ist ggf. auch als Ausdruck eines gesunden Nichtwahrhabenwollens zu verstehen. Das Störende soll damit vergessen oder betäubt werden. Die Ablehnung kann auf den Arzt übertragen werden und damit der Unterordnung unter seine Autorität Grenzen setzen.[5] Hierdurch kann auch die weitere Aufmerksamkeit gegenüber der Wahrnehmung des eigenen Befindens gehemmt werden.[8]

Der Selbstbeherrschung und dem Willen zum normalen Leben steht andererseits häufig ein sog. „Wille zur Krankheit“ gegenüber. Dies hat bereits Jean-Martin Charcot (1825–1893) erkannt. Von ihm stammt der Satz: „Für die Entwicklung zwischen Gesundheit und Krankheit ist ein Augenblick entscheidend, der vom Patienten abzuhängen scheint.“[4] Beide Einstellungen und Kräfte – Abwehr von Krankheit und Wille zur Krankheit – wurden von der Psychoanalyse näher erforscht. Sie haben einen Niederschlag in den Theorien des Widerstands und des Krankheitsgewinns gefunden.[7] Die subjektive Überwältigung durch körperliche Erkrankung ist unabhängiger von solch unterschiedlicher eigener Stellungnahme des Patienten. Ernsthafte körperliche Erkrankung ist meist mit einer radikalen Umstellung des vitalen Selbstbewusstseins verbunden.[4] Wird den Krankheitsvorgängen zu viel Aufmerksamkeit entgegengebracht, kann dies Krankheitseinsicht und Therapietreue ungünstig beeinflussen. Durch vermehrte Aufmerksamkeit kann auch die Angst vor der Krankheit vergrößert werden.[9]

Der für die Befindlichkeit wesentliche Prozess eines Gewinnens von innerer Ausgewogenheit und eines Gleichgewichts (Ataraxie, Homöostase) ist in allen solchen Fällen unübersehbar. Widerstände sind so bei der ärztlichen Gesundheitsführung in jeder Richtung zu erwarten („schwieriger Patient“).[5] Bei der Krankheitsbereitschaft, die sich auf Konstitution und Disposition zurückführen lässt, spielen ontogenetische und psychogenetische Faktoren eine Rolle beim Gewinnen von Krankheitseinsicht.[4]

Der „Wille zur Krankheit“ ist häufig auch als Krankheitswunsch, Krankheitsabsicht usw. bezeichnet worden. Automatisch wird damit jedoch kein bewusster Wunsch, oder eine Charakter- bzw. Moralschwäche unterstellt. Erfolge der Psychotherapie haben erwiesen, dass trotz scheinbar bestehender „Krankheitsabsicht“ Heilungen von den Betroffenen selbst gewünscht und realisiert werden. Ungeachtet von moralisierender Betrachtung ergibt sich ein psychischer Krankheitsbegriff vielmehr aus einer disharmonischen Gesamtpersönlichkeit, die sich mit den auslösenden Ursachen der Störung nicht erfolgreich auseinandersetzen konnte, (siehe auch → Moralische Behandlung). Therapeutische Hilfen bei der Bewältigung können hier zu einer besseren Einheitlichkeit des Willens führen, zu einer Veränderung der Überlegungsfähigkeit und damit letztlich auch zu einer veränderten Krankheitseinsicht. Erwähnt wird im Lehrbuch Bleulers in diesem Zusammenhang das therapeutisch positive Beispiel eines Kriegszitterers.[10] Es handelte sich bei den Kriegszitterern um ein seit 1918 allgemein beachtetes Problem. Dieses ist auch heute noch insofern aktuell, als es weiterhin zur Interessenkollision zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen kommt, siehe etwa eine große Reihe von psychiatrischen Fehldiagnosen, die unverändert für Aufsehen sorgen. So ist Karl Jaspers (1883–1969) der Auffassung, dass die Probleme der sog. traumatischen Neurosen bzw. der sog. Unfall- oder Rentenneurosen lebhaft diskutiert worden seien. Gesellschaftliche und individuelle Interessen würden sich letztlich ergebnislos gegenüberstehen. Die Frage „krank oder nicht krank“ sei damit unentschieden.[4]

Widerstand des eigenen Selbsts als Gegenstand der Erkenntnis

Das Erleben von Befindlichkeit und Krankheit ist an die Wahrnehmung des eigenen Selbsts gebunden. Reflexion und Selbstbeobachtung erleichtern diesen Zugang. Bei der Selbsterkenntnis treten unverkennbar besondere Schwierigkeiten auf. Dies betont Hans-Georg Gadamer (1900–2002) angesichts der generellen im Erkennen vom Gegenständen offenkundigen Widerständigkeit der Natur in uns (Innenwelt, Selbst) und außerhalb des eigenen Selbsts (Außenwelt). Natura parendo vincitur. Im Gegensatz zu den Dingen und Kräften der Außenwelt wird die Natur des eigenen Selbst besiegt durch ein ›Mitgehen‹, das den individuellen Gesetzen der Freiheit folgt. Das besagt auch, dass wir von der Mannigfaltigkeit der eigenen Natur stärker bestimmt sind, als dies vielfach in sozialen und beruflichen Stellungen erwünscht ist. In der menschlichen Gesellschaft – anders als bei Tieren wie etwa Biber, Bienen und Ameisen – ist mangelnde Instinktgebundenheit des Menschen durch machtvolle staatliche Institutionen überformt, deren Aufgabe im Erreichen festgelegter politischer Ziele besteht. Nicht so liegen die Aufgaben beim einzelnen Individuum. Gadamer bezeichnet es für das Individuum als Aufgabe der Intelligenz als „höchster Form der Einsicht“, zu einer erkennenden Distanz dem eigenen Verhalten gegenüber zu gelangen, dies im Sinne der Reflexion und des Selbstbewusstseins und nicht der bloßen Anpassung oder des einfachen Instinktgehorsams.[5]

„In der geistigen Erkrankung wird die doppelte Richtung des Heimischwerdens, die das menschliche Leben ausmacht, in der Welt und in sich selbst, nicht mehr bewältigt.“

Hans-Georg Gadamer: Op. cit. S. 83

Krankheitsbewusstsein als Vorstufe der Krankheitseinsicht

Karl Jaspers definiert das Krankheitsbewusstsein als „diejenige Stellung des Kranken, in der wohl ein Gefühl von Kranksein, ein Gefühl von Veränderung zum Ausdruck kommt, ohne daß dieses Bewußtsein sich auf alle Krankheitssymptome und auf die Krankheit als ein Ganzes erstreckt“.[4] Dem entspricht auch Hans-Georg Gadamer, indem er an die Relativierung des Selbstbewusstseins seit René Descartes (1596–1650) und an das Nietzschewort „Es muß gründlicher gezweifelt werden“[11] sowie an die seither gewachsene Bedeutung des Unbewussten erinnert als eine für das menschliche Verhalten häufig bestimmende Instanz. Damit sind auch generelle Zweifel an den Aussagen des Bewusstseins verbunden. Bewusstsein muss im Zusammenhang der Krankheitseinsicht als Bewusstsein einer Störung erscheinen. Bereits Friedrich Hegel (1770–1831) hat auf die Bewusstseinsbildung als Folge einer Hemmung von Begierden hingewiesen. Auch die Affenversuche von Wolfgang Köhler (1887–1967) weisen auf das zielgehemmte Festhalten von Wunschvorstellungen nach Nahrung hin, das zum Nachdenken führt.[5]

Krankheitseinsicht als Vollendung des Krankheitsbewusstseins

Jaspers spricht von einer Krankheitseinsicht erst dann, wenn im Krankheitsbewusstsein des Patienten „alle einzelnen Krankheitssymptome“ berücksichtigt sind und „die Krankheit als Ganzes ihrer Art und Schwere nach richtig beurteilt wird“. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch das für den Patienten „objektiv richtige Maß in der Beurteilung der Schwere der Krankheit“. Dieses objektiv richtige Maß kann am ehesten in der somatischen Medizin bestimmt werden. Jaspers weist im Zusammenhang dieses „objektiven Maßstabs“ jedoch auf die Relativierung innerhalb verschiedener Kulturkreise hin (siehe auch → Vergleichende Psychiatrie).[4] Wertbegriffe dominieren bekanntlich in der Psychiatrie.[4] Damit ist jedoch die Fragwürdigkeit eines allgemeinen Krankheitsbegriffes berührt. Die Forderung nach einer regelhaften Krankheitseinsicht insbesondere in der Psychiatrie kommt damit dem gleich, was Jaspers in den Augen der Öffentlichkeit als eine Art von Parallelerscheinung zur Inquisition bezeichnet hat.[4]

Bedeutung der Psychiatrie

Gadamer vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung der Psychiatrie, darin bestehe, sich von einem Standpunkt zu distanzieren, der das Funktionieren der Psyche entsprechend der heute veralteten Auffassung einer Vermögenspsychologie als „Leistungsbündel für ausgemachte Zwecke“ ansieht. Krankheitseinsicht kann nicht nach allgemeinen operationalen Vorgaben vermittelt werden, ähnlich wie es Aufgabe und Ziel einer planenden und dirigierenden Behörde ist. Sie ist Gegenstand individueller Entwicklung und Selbstverwirklichung. Das Wiederherstellen gestörter Gesundheit erfordere in vielen Fällen von geistiger Erkrankung das Wiedergewinnen eines je individuell gestörten Selbstverständnisses. Krankheitseinsicht kann daher nicht in Analogie zur Aufgabe und Bestimmung tierischer Intelligenz vermittelt werden. Tierische Intelligenz dient der Bewältigung immer gleicher Lebensaufgaben.[5]

Kritik an der psychiatrischen Versorgung richtete sich und richtet sich vielfach weiter gegen ihren zu deutlich ausgeprägten institutionellen Charakter, so z. B. die Kritik seitens der Antipsychiatrie.[6] Die eher technologisch geprägte Psychoedukation hat zuletzt beispielsweise einen zunehmenden Einfluss gewonnen. Sie setzt als Versuch einer für alle psychisch Kranken zweckmäßigen Einrichtung bereits eine wie auch immer geartete Krankheitseinsicht voraus. Psychoedukation ist daher nicht immer unproblematisch, weil mit der ärztlichen Diagnosestellung Krankheitseinsicht nicht automatisch verbunden ist und daher oft als zwanghaft und indoktrinierend empfunden wird. Nicht eine verbesserte Compliance, sondern eine bessere Selbstverwirklichung unter Berücksichtigung subjektiver Erfahrungen wird vielfach von Patienten gewünscht.[12][13]

Fälle wie der von Maria Colwell haben ab 1973 zu einem breiten gesellschaftlichen Anstoß darüber geführt, wie der Gesundheitsdienst zu verbessern ist. Es wurde nicht nur eine verbesserte Zusammenarbeit einer Fülle von sozialpsychologischen und sozialpsychiatrischen Diensten mit entsprechenden Berufsgruppen anderer Disziplinen gefordert, sondern auch neue gesetzgeberische Initiativen. Damit wurde auch das bisherige allzu eigenmächtige Selbstverständnis derjenigen Berufsgruppen erschüttert, die mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben befasst sind.[14]

Verminderte Krankheitseinsicht

Bei Psychosen

Die Krankheitseinsicht bei Psychosen wird in der Regel als vermindert angetroffen, auch wenn gewisse Anzeichen von Einsicht vorhanden sein mögen. Sowohl bei der akuten Psychose als auch nach der abgelaufenen und bei der chronischen Psychose finden sich wechselhafte qualitative und quantitative Einschränkungen. Das heißt, dass zum Teil krankhaft veränderte Selbstwahrnehmungen zu beobachten sind, so etwa „innerlich verfault zu sein“ (Fall einer akuten depressiven Psychose) oder „verhext zu sein“ (Schizophrenie). Nach der abgelaufenen Erkrankung kann diese Wahrnehmung abklingen, aber immer noch in gewissen leichten Andeutungen wieder aufkommen. Bei chronischen Psychosen beobachtete Jaspers eigentümliche und unausgegorene Mischungen zwischen ärztlicher Systematik und den eigenen Auffassungen der betroffenen Patienten.[4]

Psychopathie

Bei Psychopathien stellte Jaspers zeitlich konstante Beeinträchtigungen der Krankheitseinsicht fest.[4]

In der Forensik

Blick vom Friedhof der Gedenkstätte Hadamar auf das aktuelle Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses, das neben einer Allgemeinen Psychiatrie auch über eine mit hohen Zäunen und Stacheldraht gesicherte Forensische Psychiatrie verfügt. Heute wird eine noch wesentlich erweiterte Forensik im gleichen Gelände aufgebaut. Den Besuchern der Gedenkstätte Hadamar bleibt der Zaun durch gartenarchitektonische Gestaltung weitgehend verborgen. Nur an einzelnen Stellen ist die Sicht auf diese Zäune möglich, wie sie hier im Bild festgehalten ist. Der Friedhof ist der Ort, an dem sich die Asche und die Massengräber der 15000 Toten befinden, die zu ihren Lebzeiten nach Hadamar gebracht wurden. Im Hintergrund des Bildes ist das Bischöfliche Konvikt (Bistum Limburg) erkennbar. Es stellt sich die Frage, ob diese örtliche Atmosphäre geeignet ist, Krankheitseinsicht zu befördern.

Die klinische Forensik ist ein relativ junger Zweig der Psychiatrie. Asmus Finzen (* 1940) stellt eine springflutartige Zunahme der forensisch-psychiatrischen Betten und Abteilungen fest, die für ihn einen Anlass darstellen, über den Zeitgeist nachzudenken.[15] Dieser Zeitgeist entfernt sich offenkundig von den oben dargestellten Forderungen. Wächst damit auch die Versuchung, „Krankheitseinsicht“ durch Zwang zu erzielen wie dies im Falle des Justizopfers Horst Arnold erfolgte? Hier verließ man sich auf die scheinbare Legitimität von Strafmaßnahmen wegen mangelnder Krankheitseinsicht.[16] Auch die als vorhanden oder mangelnd eingeschätzte juristische Zurechnungsfähigkeit stimmt nicht immer mit Krankheitseinsicht überein.

Bei Demenzen

Das weitestgehende Fehlen von Krankheitseinsicht bei schwergradigen organischen Demenzen ist in erster Linie bedingt durch den Ausfall von Intelligenz und dem, worauf Intelligenz sich stützt, nämlich Gedächtnis und Merkfähigkeit. Weiterhin kann auch das Sprechen betroffen sein, sodass es einem Kranken nur noch unter größten Mühen gelingt, sich verständlich zu machen und er auch sein ganzes Leben vergisst. Ein intensives Krankheitsbewusstsein pflegt aber noch in den Frühstadien der Erkrankung zu bestehen, wenn lediglich die genannten Vorbedingungen der Intelligenz ansatzweise betroffen sind. Dennoch sind auch bei schweren organischen Demenzen noch gewisse Persönlichkeitsmerkmale erhalten. Das unterscheidet die organischen Demenzen von den angeborenen. Bei schizophrenen Defekten erscheint die Intelligenz fraglicherweise erhalten und in erster Linie die Persönlichkeit betroffen zu sein.[4]

Einzelnachweise

  1. Arbeitsgemeinschaft f Methodik u Dokumentation in d Psychiatrie: Das AMDP-System: Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde. Hogrefe Verlag, 2006, ISBN 978-3-8409-1925-1, S. 120–122 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. a b Philip G. Zimbardo, Richard J. Gerrig: Psychologie. Pearson, Hallbergmoos bei München 2008, ISBN 978-3-8273-7275-8; (b) S. 491, 651-653 - zu Stw. „Therapietreue (Compliance)“; (b) S. 482 - zu Stw. „Krankheitsbewältigung (Coping)“.
  3. Markus Antonius Wirtz. (Hg.): Dorsch - Lexikon der Psychologie. Verlag Hans Huber, Bern, 162013, ISBN 978-3-456-85234-8; Lexikon-Lemma: „Subjektivität“: online
  4. a b c d e f g h i j k l m Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin 91973, ISBN 3-540-03340-8, (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche); (a) S.  184 ff., 349 ff., 504, (654) – zu Stw. „Krankheitseinsicht“; (b) S. 353, 652, 666 f. - zu Stw. „subjektive Beweggründe“; (c) S. 353 f. - zu Stw. „Wille zur Krankheit und Charcot-Zitat“; (d) S. 353 - zu Stw. „Krankheitseinsicht und körperliche Erkrankung“; (e) S. 309 f., 587 f. - zu Stw. „Krankheitsbereitschaft als Folge eines Erlebnisses (Disposition, Komplex)“ und S. 518 f., 531 ff. - zu Stw. „Krankheitsbereitschaft als Folge von Konstitution“; (f) S. 174 f., 322, 324 ff., 602 f., 652, 353 - zu Stw. „Unfallneurose, Rentenneurose“; (g) S. 349 - zu Stw. „Definition Krankheitsbewusstsein“; (h) S. 349 - zu Stw. „Krankheitseinsicht und Kulturkreis“; (i) S. 652 ff. - zu Stw. „Wertbegriffe in der Psychiatrie“; (j) S. 651 - zu Stw. „Fragwürdigkeit des Krankheitsbegriffs in der Psychiatrie“; (k)+(l) S. 351 ff. - zu Stw. „Krankheitseinsicht bei Psychosen und Psychopathien“; (m) S. 184 f. - zu Stw. „Krankheitseinsicht bei organischer Demenz“.
  5. a b c d e f Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Kap. „Zum Problem der Intelligenz“. In: Der Nervenarzt, 7, Heidelberg 1964, S. 281-286 (Vortrag auf der Tagung des Gesamtverbandes Deutscher Nervenärzte in Wiesbaden im September 1963) Bibliothek Suhrkamp, Band 1135, Frankfurt / M 1993, ISBN 3-518-22135-3; (a) S. 77 f., 80 - zu Stw. „Krankheitseinsicht“; (b)+(c) S. 77-79, 81, 83 - zu Stw. „Schwankungen des inneren Gleichgewichts und Widerstand gegen Krankheit“; (d) S. 80 f./S. 82 - Stw.: „Besondere Probleme der Selbsterkenntnis: Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten versus Anpassung und Instinktgehorsam“; (e) S. 72, 75 und S. 76 - Stw.: „Relativierung der Aussagen des Bewusstseins: Nietzsche und Köhler“; (f) S. 82 f. - Stw.: „Bedeutung der Psychiatrie“.
  6. a b c Rudolf Degkwitz et al. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; (a+b) S. 47-50 - zu Stw. „Krankheitszustand, Krankheitsbild, Zustandsbild“; (c) S. 436 ff. - zu Stw. „Antipsychiatrie“.
  7. a b Sven Olaf Hoffmann und Hochapfel, G.: Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin. [1999], CompactLehrbuch, Schattauer, Stuttgart 62003, ISBN 3-7945-1960-4; (a) S. 376 ff. - zu Stw. „Krankheitsbewältigung“, (b) S. 408 f. - zu Stw. „Widerstand“, S. 69 - zu Stw. „Krankheitsgewinn“.
  8. Peter R. Hofstätter (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1972, ISBN 3-436-01159-2; S. 41 - zu Stw. „Aufmerksamkeit und Widerstände“ und S. 200 - zu Stw. „Abschwächung von Angst und Aversionstendenzen in der Psychotherapie“.
  9. A. J. Christensen et al.: Monitoring attentional style and medical regimen adherence in hemodialysis patients. In: Health Psychology 16, S. 256-293, 1997
  10. Eugen Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer, Berlin 151983; bearbeitet von Manfred Bleuler unter Mitarbeit von J. Angst et al., ISBN 3-540-11833-0; S. 502 ff. – zu Stw. „Krankheitswunsch, Krankheitsabsicht“.
  11. Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Werke Bd. VII/3, 40 [25]; Vgl. auch 40 [10], [20].
  12. Thomas Bock, Dorothea Buck & Ingeborg Esterer: Es ist normal, verschieden zu sein. Psychiatrie-Verlag, Bonn 22000, ISBN 3-88414-206-2; S. 57, 65 - zu Stw. „Krankheitseinsicht und Psychoedukation“.
  13. Peter Fiedler: Verhaltenstherapie mit Gruppen. Weinheim, 1996
  14. Joseph Goldstein, Anna Freud & Albert J. Solnit: Before the best interests of the child. [1979] The Free Press. A Division of Macmillan Publishing Co. Inc. - Dt. Diesseits des Kindeswohls. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982 stw 383 suhrkamp taschenbuch wissenschaft, ISBN 3-518-27983-1; S. 125-160, 214, 221, 241 - zu Stw. „Colwell, Maria“.
  15. Asmus Finzen: Stigma psychische Krankheit. Zum Umgang mit Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Diskriminierungen. Psychiatrie-Verlag, Köln 2013; ISBN 978-3-88414-5753 (Print); S. 114 - zu Stw. „Klinische Forensik“.
  16. Stanley Milgram: Obedience to authority. Harper & Row, New York 1974.