Reise Lenins im plombierten Wagen

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Buch des mitreisenden Schweizer Kommunisten Fritz Platten
Abreise morgen
Lenin („oulianoff“) aus Bern an Henri Guilbeaux am 6. April 1917[1]
Lokomotive des letzten Teils der Reise

Die Reise Lenins im plombierten Wagen fand während des Ersten Weltkriegs im April 1917 statt. Sie führte Wladimir Iljitsch Lenin, zusammen mit weiteren Emigranten, von seinem Schweizer Exil durch das Deutsche Reich über Skandinavien nach Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg.

Hintergrund

Im Russischen Kaiserreich wurden politische Aktivisten, die sich für eine revolutionäre Änderung der Gesellschaftsordnung einsetzten, unterdrückt. Sie mussten mit Gefängnis oder Verbannung rechnen. Lenin und viele andere russische Sozialisten waren deshalb nach der gescheiterten Revolution von 1905 gezwungen, Russland zu verlassen und ins Exil zu gehen. Erst nach dem Sturz des Zaren Nikolaus II. in der Februarrevolution 1917 bestand volle Betätigungsfreiheit für alle sozialistischen Richtungen. Lenin, der sich seit 1914 in der neutralen Schweiz aufhielt, versuchte nach der Revolution verzweifelt, nach Russland zurückzukehren. Wegen des Krieges war der direkte Weg über Deutschland versperrt. Die offiziell mit Russland verbündeten Länder der Entente weigerten sich strikt, Lenin durchzulassen.

Informelle Kontakte zwischen dem deutschen Auswärtigen Amt und den in mehrere rivalisierende Gruppen gespaltenen russischen Exilanten in der Schweiz hatten bereits seit September 1914 bestanden, als der deutsche Gesandte in Bern, Gisbert von Romberg, über den estnischen Revolutionär Aleksander Kesküla die Einstellung der russischen Revolutionäre zur Rolle Deutschlands bei einer Revolutionierung Russlands sondierte. Weitere Kontakte bestanden über die Gesandten in den neutralen Staaten Dänemark (Ulrich von Brockdorff-Rantzau) und Schweden (Hellmuth Lucius von Stoedten). Allerdings sollte hierdurch bestenfalls eine Drohkulisse gegenüber Russland aufgebaut werden, konkrete Schritte wurden von deutscher Seite bis März 1917 nicht unternommen.[2] Anfang April 1917 entwickelte Brockdorff-Rantzau in einer geheimen Denkschrift das Programm, im revolutionären Russland durch die Anschürung von Konflikten zwischen den politischen Lagern ein „größtmögliches Chaos zu schaffen“, wobei die radikalen Elemente durchaus bevorzugt zu unterstützen seien, um im Osten baldmöglichst zu einem Separatfrieden zu kommen.[3] Auf diese Linie schwenkte schließlich auch der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg ein, der Romberg anwies, den Revolutionären in der Schweiz die Rückreise über Deutschland anzubieten.

Verhandlungen

Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden des Sturzes des Zaren hatten diese ein „Zentralkomitee zur Rückkehr der in der Schweiz weilenden russischen Emigranten“ gegründet, das über 500 Exilanten vertrat. Dieses hatte unabhängig von deutschen Angeboten am 19. März entschieden, von den Deutschen eine Durchreiseerlaubnis im Austausch gegen deutsche und österreich-ungarische Kriegsgefangene in Russland zu beantragen. Die politischen Verhandlungen wurden von dem Komitee dem Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm übertragen. Das Ersuchen wurde am 23. März vom Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur Zimmermann, der in Bad Kreuznach weilenden Obersten Heeresleitung bekanntgemacht, die keine Einwände erhob.[4] Die einzigen Bedingungen waren, dass die Modalitäten der Reise gemeinsam vom Auswärtigen Amt und der Abteilung III b des Stellvertretenden Generalstabs geregelt werden sollte. Zudem bestanden Bedenken über die Haltung der anderen geplanten Durchreisestaaten. Die deutsche Seite war entschlossen, Lenin nötigenfalls an die gemeinsame Grenze nach Russland zu bringen, sollte das neutrale Schweden die Durchreise verweigern.

Unabhängig vom Emigrantenkomitee nahm Lenin, der den Deutschen von Alexander Parvus als besonders geeignet zur Destabilisierung Russlands empfohlen wurde, Ende März Kontakt mit der deutschen Gesandtschaft in Bern auf. Zu seinem Mittelsmann bestimmte er den Schweizer Sozialisten Fritz Platten. Er stellte eine Liste von Bedingungen auf, die er am 4. April durch Platten übermitteln ließ und die drei Tage später von der deutschen Seite bestätigt wurden. Platten fungierte später bei der Fahrt durch das Deutsche Reich als Transportführer. Als Begleiter des Transports wurden von deutscher Seite der deutsch-schwedische Gewerkschafter Wilhelm Jansson und Rittmeister der Reserve Arwed von der Planitz bestimmt. Die Presse sollte über das Ereignis nicht berichten.[5] Über die deutsche Gesandtschaft in Stockholm erwirkte man außerdem die Durchreiseerlaubnis durch Schweden.

Modalitäten der Reise

Nach der Abreise am Ostermontag, dem 9. April, führte die Strecke von Zürich aus durch Deutschland mit Zwischenhalt in Berlin nach Sassnitz, von dort aus mit der Drottning Victoria nach Trelleborg in Schweden, dann über Stockholm nach Tornio im Norden Finnlands, das damals zu Russland gehörte, und weiter nach Petrograd, dem späteren Leningrad, wo die Gruppe am 3.jul. / 16. April 1917greg. im Finnländischen Bahnhof ankam, während Platten an der schwedisch-russischen Grenze von der republikanischen Regierung aufgehalten wurde und deshalb zunächst in die Schweiz zurückreiste.[6]

Der Eisenbahnwagen, in dem Lenin und die anderen Emigranten als Passagiere reisten, war auch in Deutschland nicht plombiert.[7] Lenin hatte sich vielmehr in den Kontakten zwischen Platten und von Romberg Exterritorialität ausbedungen: Keine Kontrolle der Durchreisenden, ihrer Pässe und ihres Gepäcks, kein Mensch durfte unterwegs den Personenwagen betreten oder verlassen. Die Grenze zwischen dem extraterritorialen Wagenteil und dem deutschen wurde mit Tafelkreide markiert.

Zu den Mitreisenden gehörten Lenins Ehefrau Nadja Krupskaja sowie seine Geliebte Inessa Armand, Mieczysław Broński (mit Tochter Wanda Brońska), Moissei Charitonow, Karl Radek, Sarra Rawitsch, Georgi Safarow, Grigori Sinowjew und Grigori Sokolnikow.

In der Folge gab es weitere Transporte von russischen Emigranten auf dieser Strecke. Im Mai und Juni 1917 waren es zwei Transporte mit 400 Personen unterschiedlicher politischer Richtungen, auch Familien mit Kleinkindern, auch Emigranten, die aus Belgien dazustießen.[8]

Ankunft und Aprilthesen

Palais Kschessinskaja (2013)

Auf dem Bahnhof fand ein offizieller Empfang für Lenin statt. Es waren mehrere tausend Arbeiter und Soldaten anwesend. Die georgischen Menschewiki Nikolos Tschcheidse und Irakli Zereteli, damals Mitglieder des Zentral-Exekutivkomitees der Sowjets, hielten Reden.

Aber auch Lenin entwickelte in einer Ansprache in skizzenhafter Form zum ersten Mal die Ideen, die später als Aprilthesen bekannt wurden. Noch am Tag seiner Ankunft hielt er im Palais Kschessinskaja, dem damaligen Hauptquartier der Bolschewiki, eine programmatische Rede, und am folgenden Tag legte er seine Thesen auf einer Versammlung des Petrograder Sowjets dar. Dabei ging sein Programm weit über das hinaus, was die Bolschewiki bis dahin in Betracht gezogen hatten, und wurde von vielen Zuhörern als unrealistisch angesehen.[9] Lenin brach mit der Theorie von der „bürgerlichen Revolution“, die eine Unterstützung der „kapitalistischen“ provisorischen Regierung erlaubte. Er forderte die rücksichtslose Bekämpfung der Regierung, um mit ihrem Sturz möglichst bald den Übergang zu einer „sozialistischen Revolution“ einzuleiten.[10] Hinter der Auslegung seiner Aprilthesen, alle Macht gebühre den Räten, stand bereits der Anspruch der bolschewistischen Partei, auch als Minderheit zu herrschen.[11] Die Konzeption eines „revolutionären Verteidigungskriegs“ denunzierte die leninistische Propaganda, die im Sommer 1917 mit erheblichen deutschen Mitteln finanziert wurde, als fortgesetzten Eroberungskrieg im Solde des Entente-Kapitals.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Werner Hahlweg: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1957, S. 307–333 (PDF; 1,3 MB).
  • Werner Hahlweg (Hrsg.): Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten. Brill, Leiden 1957.
  • Fritz Platten: Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1924, Neuauflage bei ISP, Frankfurt am Main 1985.
  • Karl Radek: Lenin’s „sealed train“. In: New York Times, 19. Februar 1922.
  • Stefan Zweig: Der versiegelte Zug, in: Sternstunden der Menschheit, Vierzehn historische Miniaturen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1964, ISBN 3-596-20595-6.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Text des Telegramms: partons demain midi allemagne platten accompagne train priere venir immediatement frais couvrirons amenez romain rolland s'il est d'accord en principe. faites possible pour amener naine ou graber. telegraphiez volkshaus oulianoff
  2. Hahlweg: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, S. 308–312.
  3. Hahlweg: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, S. 312 f.
  4. Hahlweg: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, S. 315 f.
  5. Es erschien lediglich eine kurze Notiz in der Züricher Morgenzeitung, die im deutschen Sinne davon berichtete, vgl. Hahlweg: Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, S. 323.
  6. Hahlweg: Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, S. 24, S. 103, S. 115.
  7. „Verständnisvoller Offizier geleitet Transport von Gottmadingen bis Saßnitz... Bei Grenzüberschreitung keinerlei Paßformalitäten. Gepäck wird plombiert... zwei D-Wagen zweiter Klasse.“ Wilhelm von Stumm an Romberg, 5. April 1917, in: Hahlweg: Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, S. 81.
  8. Hahlweg: Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, S. 115–136.
  9. Orlando Figes: A people's tragedy. A history of the Russian Revolution, 1891-1924. Penguin, N.Y. 1997, S. 387 f.. ISBN 071267327X
  10. Manfred Hildermeier: Die Sowjetunion 1917–1991. Oldenbourg, München 2007, S. 14. ISBN 3486561790
  11. Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905-1921. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1989, S. 175. ISBN 3518115340
  12. Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten, 1900-1945. C. H. Beck, München 2005, S. 118 f.. ISBN 3406535127