Stabat mater
Das Stabat mater (nach dem Gedichtanfang Stabat mater dolorosa, lat. für ‚Es stand die Mutter schmerzerfüllt‘) ist ein mittelalterliches Gedicht, das die Mutter Jesu in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besingt. Die Verfasserschaft ist ungeklärt, das Gedicht wurde in der Vergangenheit unter anderem Papst Innozenz III. († 1216) sowie den Franziskanern Iacopone da Todi († 1306) und Johannes Bonaventura († 1274) zugeschrieben.
Das Stabat mater fand 1521 Eingang in das Missale Romanum, wurde aber wie fast alle Sequenzen durch das Konzil von Trient aus dem Gottesdienst verbannt. 1727 wurde es bei der Einführung des Festes Septem Dolorum Beatae Mariae Virginis als Sequenz in den Messtext und als Hymnus in das Brevier der katholischen Kirche aufgenommen und gehört seither wieder zur katholischen Liturgie. Allerdings wurde das 1727 auf den Freitag nach dem Passionssonntag gelegte Fest durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils abgeschafft, so dass das Stabat Mater als liturgisches Stück nur noch am 15. September, dem Gedächtnis der Schmerzen Mariä, – ad libitum – gesungen oder gebetet wird.
Die bekannteste deutsche Übertragung des Stabat mater stammt von Heinrich Bone (1847).
Originaltext, liturgischer Text und Übertragungen ins Deutsche
Wie bei vielen berühmten Lied-Texten gibt es zum Stabat mater mehrere verschiedene Versionen. Der kritische Text der Sequenz wurde von Clemens Blume und Henry M. Bannister aufgrund der 86 Handschriften (die ältesten sind aus dem 13. Jh.) in Analecta Hymnica (Bd.54, S. 312-318) herausgegeben. Dieser "Original-Text" wird in der ersten Spalte wiedergegeben.
Nicht minder wichtig ist die seitens der katholischen Kirche approbierte aktuelle liturgische Version. Sie steht im Graduale Romanum von 1973/79. Im Vergleich zu manchen früheren liturgischen Versionen weicht sie nur noch wenig vom Urtext ab. Aus chronologischen Gründen ist sie in der vierten und letzten Spalte niedergeschrieben, wobei die Abweichungen vom Urtext fett gedruckt sind.
In der zweiten Spalte, also unmittelbar neben dem Original, steht die deutsche Fassung von Christoph Martin Wieland aus dem Jahr 1779, erschienen in dessen Zeitschrift Der Teutsche Merkur 1781, 1. Quartal, S. 101–106. Sie ist zitiert nach dem Begleitheft der wohl einzigen CD-Veröffentlichung auf Deutsch in der Vertonung von Giovanni Battista Pergolesi (Textunterlegung: Alexander Eberle, aufgenommen 2008 in der Peterskirche Oßmannstedt, Wielands langjähriger Wohnort bei Weimar; verlegt bei NAXOS 8.551276). Etwa 24 weitere spätmittelalterliche Nachbildungen im deutschen Sprachraum edierte und untersuchte Andreas Kraß,[1] eine eingehende Untersuchung und Edition mittelniederländischer Übertragungen der gleichen Epoche bietet P. Maximilianus van Dun.[2]
In der dritten Spalte, also links neben der aktuellen Fassung im Graduale Romanum, steht eine Übertragung von Heinrich Bone (1847). Das Gotteslob enthält unter der Nummer 532 (GLalt 584): Christi Mutter stand mit Schmerzen (Melodie: Köln 1638) fünf der zehn Strophen. Dabei entsprechen die ersten vier der ersten, zweiten, vierten und sechsten (leicht verändert) Strophe des Textes von Heinrich Bone, während die letzte Strophe eine eigenständige Übertragung der zehnten Strophe des lateinischen Originaltextes bietet; Bone und Wieland richten nämlich ihre zehnte Strophe nach der Textversion aus, die das Graduale Romanum übernommen hat. Im Eigenteil des Gotteslobes der Bistümer Freiburg und Rottenburg-Stuttgart ist unter Nummer 885 (GLalt 896) die Übertragung nach Bone vollständig abgedruckt, die Melodie entstammt der Sammlung Evangelium in Gesängen von 1656.
Lateinischer Originaltext gedichtet um 1200–1300 |
Gereimte Übertragung Christoph Martin Wieland 1779 |
Gereimte Übertragung Heinrich Bone 1847 |
Aktueller liturgischer Text Graduale Romanum 1908[3] |
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1. Stabat mater dolorosa |
Schaut die Mutter voller Schmerzen, |
Christi Mutter stand mit Schmerzen |
Stabat mater dolorosa |
Die auffälligste Änderung im Graduale Romanum betrifft die erste Hälfte der zehnten und letzten Strophe. Sie lenkt auf den Schutz durch den Kreuzestod Christi und hat damit keinen Bezug mehr zum Urtext. Inhaltlich besonders erwähnenswert ist aber auch die Änderung in der zweiten Hälfte dieser Strophe: Während in der liturgischen Version die Gottesmutter gebeten wird, sich dafür einzusetzen, dass der Seele (der Singenden oder der Christen überhaupt) die Herrlichkeit des Paradieses geschenkt werde – wohl die zentrale Bitte jedes Christen –, lässt der Original-Text eine persönlichere oder intimere Sichtweise erkennen: „Mach, dass die Seele [meine] der Herrlichkeit des Paradieses geschenkt werde!“
Aus metrischer Sicht erbrachte zwar die Vertauschung des ne urar zu urar ne eine unumstrittene Verbesserung, da damit das urar richtig betont wird und zugleich das Aufeinanderstoßen zweier Vokale an Wortgrenzen vermieden wird, was bei klassischer Dichtung zu einer Elision des vorausgehenden Vokals geführt hätte und auch bei mittellateinischer Dichtung nicht gern gesehen wird. Ob es aber die lateinische Dichtung, die ungewöhnlichen Wortstellungen gegenüber nicht abgeneigt ist, gestattet, sogar ein ut oder ne hinter das dazugehörige Verb zu setzen, wie es hier geschehen ist, darf zumindest bezweifelt werden.
Analyse der Strophen
Das Stabat Mater besitzt zehn Strophen, die nochmals in zwei Teilstrophen à drei Zeilen unterteilt sind. Dies deutet darauf hin, dass das Stabat Mater als Sequenz von zwei Halbchören gesungen worden ist, wobei zuerst der erste Halbchor die erste Teilstrophe auf eine Melodie gesungen und dann der zweite Halbchor mit der zweiten Strophe auf die gleiche Melodie geantwortet hat. Die Endreimfolge aller Strophen ist als Schweifreim angelegt (Reimschema [aabccb]).
Vertonungen
Das Stabat Mater ist oft von klassischen Komponisten vertont worden. Nicht immer wurde der gesamte Text verwendet, unterschiedliche Anlässe der Stücke und persönliche Prägungen der Komponisten führten oft zur Akzentsetzung etwa unter den Themen: Trost, Leid, Klage. Die alte gregorianische Choralmelodie wurde von Josquin und Palestrina schon im 16. Jahrhundert polyphon vertont. Viele weitere Komponisten schufen Vertonungen des Stabat Mater, die auch heute noch oft aufgeführt werden (nach dem Komponistennamen folgt die Besetzung):
- Josquin Desprez als Motette (1480)
- Orlando di Lasso für Männerchor (1585)
- Giovanni Pierluigi da Palestrina für zwei gemischte Chöre (ca. 1590)
- Giovanni Felice Sances als Solo-Motette (1643)
- Marc-Antoine Charpentier (1680)
- Emanuele d’Astorga für Soli, Chor, Orchester und Orgel (1707)
- Domenico Scarlatti für 10stimmigen Chor und Continuo (1715)
- Alessandro Scarlatti für Sopran, Alt und Continuo (1723)
- Antonio Caldara für Soli, Chor, Streicher und zwei Posaunen (± 1725)
- Antonio Vivaldi für Alt, Streicher und Continuo (± 1727)
- Agostino Steffani für Soli, Chor, Streicher und Orgel (1727)
- Giovanni Battista Pergolesi für Alt, Sopran, Streicher und Cembalo (1736)
- Johann Sebastian Bach für Sopran, Alt, Streicher (mit Viola) und Basso Continuo (1748) – eine Bearbeitung des Stabat Mater von Pergolesi
- Placidus von Camerloher (1718–1782) für Soli, Chor und Streichorchester (Kammerorchester? mit Trompeten?)
- Tommaso Traetta Stabat mater (1750)
- Giovanni Benedetto Platti (18. Jahrhundert)
- Kurfürst Max III. Joseph von Bayern für Soli, Chor und Orchester (1766)
- Joseph Haydn für Soli, Chor und Orchester (1767)
- Franz Ignaz Beck für Alt, Sopran, Bariton, Chor und Orchester (1782)
- Luigi Boccherini für Sopran und Streicher / Alt, Tenor und Streicher (1781/1800)
- Carl Joseph Rodewald für 2 Soprane und Orchester (1799)
- Franz Schubert für Soli, Chor und Orchester (1815)
- Friedrich Theodor Fröhlich, Stabat mater (deutsch, 1829)
- Gioachino Rossini für Soloquartett, Chor und Orchester (1832/42)
- Peter Cornelius für Soli, Chor u. Orchester (1849)
- Franz Liszt für Soli, Chor und Orchester (als Teil des Christus-Oratoriums, 1862–66)
- Louis Théodore Gouvy op. 65, für Soli, Chor und Orchester (1875)
- Josef Gabriel Rheinberger c-Moll op. 16 für Sopran, Tenor, Bass, Chor und Orchester (1864) und g-Moll op. 138 für Chor, Streicher (ad lib.) und Orgel (1884)
- Antonín Dvořák op. 58, für Soloquartett, Chor, Orgel und Orchester (1877)
- Franz Wüllner op. 45 für 8-stimmigen gemischten Chor
- Laura Netzel op. 45, für Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bass, gemischten Chor und Orgel (1890)
- Giuseppe Verdi (als Teil der Quattro pezzi sacri) für Chor und Orchester (1898)
- Karol Szymanowski op. 53, für drei Solostimmen, Chor und Orchester (1925/1926)
- Johann Nepomuk David für sechsstimmigen gemischten Chor a cappella (SSATBB) (1927)
- Francis Poulenc für Sopran, Chor und Orchester (1950/51)
- Zoltán Kodály für gemischten Chor (1898, 1962 revidiert)
- Krzysztof Penderecki für 3 gemischte Chöre (SATB) a cappella (1962)
- Vincent Persichetti für Chor und Orchester, op. 92 (1963)
- Frank Martin für Sopran, Violine und Orchester (1967)
- Henryk Mikołaj Górecki für Orchester mit Sopran und Chor (1971)
- Poul Ruders für Knabensopran, verstimmtes Klavier, Orgel, Schlagzeug und gemischten Chor (1975)
- Arvo Pärt für Sopran, Alt, Tenor und Streicher-Trio (1985)
- Knut Nystedt für gemischten Chor und Solo-Violoncello (1986)
- Vytautas Barkauskas für gemischten Chor (1990)
- Klaus Miehling für Sopran und Streichsextett op. 39 (1992), Bearb. für Sopran und Orgel op. 39a (2009)
- Walter Steffens für 9-stg. Frauenchor (1993)
- Manfred Niehaus für drei gemischte oder gleiche Stimmen a cappella, solistisch oder chorisch (1994)
- Lutz-Werner Hesse für Sopran- und Altsolo, gem. Chor, Altsaxophon, Schlagzeug und Orgel op. 28 (1997/98)
- Javier Busto für gemischten Chor (1998)
- Jaakko Mäntyjärvi für gemischten Chor und Streicher (1998)
- Wolfgang Rihm für Mezzosopran, Alt, Streicher und Harfe (2000)
- Salvador Brotons für Soli, Chor und Orchester (2000)
- Markus Höring für Frauenchor a cappella (2002)
- Christophe Looten, op. 64, für vier Stimmen a cappella (2004)
- Bruno Coulais für 2 Frauen- und 2 Männerstimmen, Chor, Violine, Klavier, Gitarre, Streichquartett und Schlagzeug (2005)
- Hristo Tsanoff (2006 und 2007)
- Karl Jenkins (2008)
- Martin Lutz (für Soli, Chor und Orchester; Uraufführung am 28. Oktober 2011 im Dom zu Hadersleben, Dänemark)
- Vladimir Romanov für Sopran, Violine, Chor und Orchester (2013)
- Felix Bräuer (für Bass-Solo und Streicher); 2015/2016
Siehe auch
Literatur
- Guido Maria Dreves, Clemens Blume: Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Eine Blütenlese aus den Analektika Hymnika mit literarhistorischen Erläuterungen. O.R. Reisland; Leipzig, 1909; Teil I, S. 390–392 (Digitalisat ).
- Gottesdienst. Gebets- und Gesangbuch für das Erzbistum München und Freising. München, Verlag J. Pfeiffer, 1958.
- Graduale Triplex seu Graduale Romanum Pauli Pp.VI cura recognitum & rhythmicis signis a Solesmensibus Monachis ornatum neumis Laudunensibus (Cod. 239) et Sangallensibus (Codicum San Gallensis 359 et Einsidlensis 121) nunc auctum. Abbaye Saint Pierre de Solesmes (Frankreich) & Desclée, Paris-Tournai 1979, ISBN 2-85274-044-3.
- Andreas Krass: Stabat mater dolorosa. In: VL², Bd. 9 (1995), Sp. 207–214.
- Paul-Gerhard Nohl: Lateinische Kirchenmusiktexte. Bärenreiter, Kassel 1996, ISBN 3-7618-1249-3.
Weblinks
- Umfangreiche Informationssammlung zu den Vertonungen
- Zeitgenössische Vertonung der ersten Strophe von Erwin Pelzig
- Text und Interlinear-Übersetzung des Stabat Mater (Ernst Kausen) (MS Word; 18 kB)
- Wort-für-Wort-Übersetzung des Stabat Mater
- "Stabat Mater" von Karol Szymanowski. Spanisch TV Radio Symphonische Orchester. Thomas Dausgaard, Dirigent. Live Konzert.
Einzelnachweise
- ↑ Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. Fink, München 1998, ISBN 3-7705-3240-6 (Dissertation, Universität München, 1994; online).
- ↑ * P. Maximilianus van Dun: De Middelnederlandse Vertalingen van het Stabt mater.
- ↑ "Graduale sacrosanctae romanae ecclesiae de Tempore et de Sanctis" (Graduale Romanum ed. typ.), Romae, Typis Vaticanis, MDCCCVIII.
- ↑ In der "deutschen" (so Herausgeber, S.316) Gruppe der Handscriften (insgesamt 28) findet sich statt dieser Strophe die folgende:
Christe, cum sit hinc exire,
Da per matrem me venire
Ad palmam victoriae.