Thiocyanate

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Thiocyanat-Anion

Als Thiocyanate (veraltet auch Rhodanide) werden die Salze und die Ester der unbeständigen Thiocyansäure (Rhodanwasserstoffsäure) HSCN bezeichnet. Der Name „Rhodanid“ leitet sich von griechisch rhodos für „rot“ ab, da Eisen(III)-thiocyanat eine tiefrote Farbe besitzt. Die Salze lassen sich am einfachsten durch Schmelzen der entsprechenden Cyanide mit Schwefel herstellen.[1]

Chemie

Das Thiocyanation (SCN−) kann als Ligand in Komplexen sowohl über das Stickstoff- als auch über das Schwefelatom an das Zentralatom koordinieren. In seinem chemischen Verhalten ähnelt es den Halogenen und wird daher seit 1925 zur Gruppe der Pseudohalogene gezählt. Maßgeblich für die biologische Aktivität von Thiocyanat-Ionen ist die Vielfalt der Anordnungs- und Verteilungsmöglichkeiten seiner 16 Elektronen, die neben ionischen Wechselwirkungen koordinative Bindungen über N-S-Ligatoratome in Form von ein- bis fünfzähnigen Verknüpfungen sowie eine kovalente bzw. koordinative Fixierung zu Rezeptoren bzw. Bindungspartnern eingehen können.[2]

Salze

Kaliumthiocyanat ist das bekannteste Salz und wird unter anderem für den Nachweis von Fe3+-Ionen verwendet, wobei das tiefrot gefärbte Eisen(III)-thiocyanat (Fe(SCN)3) entsteht.

Ester

Die Ester R−S−C≡N (R = organischer Rest, wie Alkylrest, Arylrest etc.) der Thiocyansäure werden Thiocyansäureester genannt und sind Konstitutions-Isomere der Isothiocyansäureester R-N=C=S. Sie riechen knoblauchartig und sind nur wenig beständig.[1]

Thiocyansäureester kann man aus Bunte-Salzen und Natriumcyanid in einer Stufe synthetisieren.[3]

Vorkommen

Thiocyanat ist in der belebten Natur ubiquitär verbreitet mit der Besonderheit, dass es schon in der präbiotisch-chemischen Evolution vorhanden war und selbst im interstellaren Raum zahlreiche SCN-Atomgruppierungen nachgewiesen wurden.[4] Ursache hierfür ist, dass Ammoniumthiocyanat aus Schwefelkohlenstoff und Ammoniak unter Druck und erhöhter Temperatur (110 °C) entsteht. Für die Bedeutung von Thiocyanat im Zellstoffwechsel (s.u.) dürfte die exogene und endogene Präsenz während der Evolution des Lebens Voraussetzung gewesen sein.[5] 1798 entdeckte der Chemiker Buchholz die Reaktion von Schwefel mit Cyaniden zu Thiocyanat. Porett (1809) bezeichnete die beim Kochen von Schwefelkalium und Berliner Blau entstehende Verbindung als Schwefelblausäure. 1814 beschrieb Gottfried Reinhold Treviranus die Rotfärbung des Speichels bei Zugabe einer gesättigten Eisen(III)-salzlösung in Salpeter- oder Schwefelsäure. Tiedemann und Gmelin (1826) führten diese Reaktion auf KSCN zurück; damit war das natürliche Vorkommen von SCN- im Speichel entdeckt. 1829 wurde von Friedrich Wöhler erstmals freie Rhodanwasserstoffsäure synthetisiert. Die Untersuchungen von Hofmeister 1888 waren der Beginn der zielgerichteten Untersuchung des Einflusses von SCN- und anderen im Organismus vorkommenden Anionen auf physiologische Vorgänge.[6] Vor allem die menschlichen Leberzellen erzeugen Thiocyanat durch Entgiftung von im Zellstoffwechsel entstehenden Cyaniden durch das in den Mitochondrien lokalisierte und von Lang entdeckte Enzym Rhodanese (Thiosulfat: Cyanid-Sulfurtransferase).[7] Sowohl in den Mitochondrien als auch im Cytoplasma von Leber, Nieren, Gehirn und Myokard existiert noch ein weiteres für den Cyanidabbau verantwortliches Enzym, die 3-Mercaptopyruvat-Cyanid-Sulfurtransferase.[8] Aus einigen Nahrungsmitteln, wie Kohl, können Thiocyanate aus den darin enthaltenen Senfölglykosiden, wie etwa Glucobrassicin, enzymatisch freigesetzt werden, andere Nahrungsmittel enthalten das Thiocyanat direkt. Vor allem mit lacto-vegetabiler Kost wird reichlich Thiocyanat aufgenommen.[9] Die Auffassung, wonach Thiocyanat die Iodaufnahme in der Schilddrüse hemmt, konnte weder experimentell noch epidemiologisch gesichert werden; im Wesentlichen wird nur der Iodverlust vergrößert und im Bereich physiologischer Konzentrationen wird die Schilddrüsenfunktion sogar stimuliert. Damit ist bei alimentärer Aufnahme in physiologischen Bereichen 4-8 mg SCN-/d) keine Schilddrüsenhemmung zu erwarten.[10] Mit dem Rauchen zugeführtes Cyanid wird ebenfalls zu Thiocyanat entgiftet, so dass über diesen Weg früher der Tabakkonsum nachgewiesen wurde.[11]

Die Thiocyanatbildung erfolgt im sog. Thiocyanat-Cyanid-Zyklus, in dem ein zum Thiocyanat verschobenes Gleichgewicht zu Cyanid besteht. Bei Abfall des Thiocyanat-Serumspiegels kommt es zu einer Aktivierung; an der Bildung sind die beiden Transferasen und die Thiosulfatreductase beteiligt.[12] Andererseits reagieren Thiocyanat und Wasserstoffperoxid mittels der Enzyme Lactoperoxidase, Myeloperoxidase und eosinophiler Peroxidase zu Hypothiocyanit und höheren Oxidationsprodukten.[13]

Biologische Wirkungen

Lange Zeit galt Thiocyanat nur als Entgiftungsprodukt von Cyanid ohne eigene physiologische bzw. biochemische Bedeutung. Auf Grund der ubiquitären Präsenz von Thiocyanat in allen Zellen und Körperflüssigkeiten von Mensch und Säugetier, der beobachteten Konzentrationsänderungen im menschlichen Organismus z. B. bei Immunisierung, Infektion, Stress, toxischer Belastung, UV-Strahlung und bestimmten Erkrankungen[4] und dem erstmals 1968 geführten Nachweis der Stimulierung der humoralen Immunantwort[14] setzte eine intensive Erforschung weiterer Wirkungen dieses bioaktiven Anions ein. In deren Ergebnis konnten folgende Wirkungen bei physiologischen Dosierungen im Rahmen der physiologischen Regelbreite gesichert werden: Stimulierung von Wundheilung, Phagozytose, Spermiogenese, Haarbildung und Interferonproduktion sowie der Chemofusion bei Protoplasten.[4] Die Stimulation ist besonders ausgeprägt bei SCN--Mangel oder bei erhöhtem Bedarf. Außerdem wirkt Thiocyanat antiphlogistisch und protektiv bei infektiöser, allergischer, toxischer, irritativer und mutagener Belastung.[4] Die antiinfektiöse Schutzwirkung beruht sowohl auf der Förderung der Kolonisationsresistenz als auch indirekt durch Bildung von Hypothiocyanit. Bei der Pflanze werden die vegetative Entwicklung, der Ertrag und die Resistenz gegen Mikroorganismen gefördert und eine Schutzwirkung bei toxischer Belastung erreicht.[4] Die durch Oxidation entstehenden Hypothiocyanite sind antimikrobiell hoch wirksam und essenziell für die mikrobielle Abwehr in der Mundhöhle, [13] den Atemwegen, der Tränenflüssigkeit, der Milch, im Vaginalsekret und weiteren Kompartimenten.[6]

Wirkungsmechanismus

Durch Thiocyanat wird die Konformation sog. konformationslabiler Proteine in Abhängigkeit von der Art des Liganden der Eisenporphyrine geändert. Auf einer Konformationsänderung beruht offenbar auch die in physiologischen Thiocyanatkonzentrationen aktivitätssteigernde Wirkung auf eine Reihe Arzneimittel metabolisierender und weiterer Enzyme, z. B. Kollagenase, Lysozym, Na+-, K+- ,Mg2+- und anionensensitive ATPase (Myelo- und Lactoperoxidase), Phosphodiesterase; über Letztere kann Thiocyanat über den „Second Messenger“ cAMP Wachstums- und Teilungsprozesse beeinflussen. Weitere auf molekularer Ebene Wirkungen sind die Verschiebung thermodynamischer Gleichgewichte, der Schutz von SH-Gruppen, die Lockerung von H-Brücken-Bindungen mit Entropiezunahme, die Beeinflussung der Hydratation und Affinität von Biomakromolekülen (z. B. bei Antikörpern und Hormonrezeptoren), von Kationen- und Anionentransportprozessen, der Anstieg des Transmembranpotenzials mit damit verbundener Stabilisierung der Zellmembran und der Modulation von Transportvorgängen, die Hemmung der Bildung freier Radikale, die Stabilisierung der DNA und die Hemmung des oxidativen Metabolismus. Über Wechselwirkungen mit den Wasserstoffperoxid-Peroxidase-Systemen ist Thiocyanat in physiologische Kreisprozesse mit konzentrationsabhängig unterschiedlichen Auswirkungen eingebunden, z. B. Beeinflussung von Glykolyse und Glucosetransport, Immunregulation, zytolytischer Lymphozytenaktivität mit Hemmung von Entzündungsreaktionen und Verminderung der DR-Antigene auf der Zelloberfläche. In vitro haben Thiocyanat-Ionen signifikante Effekte auf Glukokortikoidrezeptoren. Offenbar beruht die biologische Aktivität von Thiocyanat-Ionen nicht auf einem einheitlichen Wirkungsmechanismus, sondern ist als Summe verschiedener Teileffekte aufzufassen.[6]

Einzelnachweise

  1. a b Beyer-Walter: Lehrbuch der Organischen Chemie. 23. Auflage, S. Hirzel Verlag 1998.
  2. Böhland H., Samoilenko V.M.: Thiocyanate Compounds. In: Golub A.M., Köhler H., Skopenkoe V.V. (Hrsg): Chemistry of Pseudohalides. Amsterdam: Elsevier, 1986, 239-363.
  3. Siegfried Hauptmann: Organische Chemie. 2. durchgesehene Auflage, VEB Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig, 1985, S. 470, ISBN 3-342-00280-8.
  4. a b c d e Weuffen W., Kramer A., Below H., Böhland H., Jülich W.D., Thürkow B, Burth U.: Das Thiocyanation als physiologisch bedeutsamer Wirkstoff in der belebten Natur. In: Die Pharmazie 1990;45(1):16-29.
  5. Weuffen W., Kramer A., Ambrosius H., Adrian V., Below H., Jülich W.D., Koch S., Thürkow B., Verbeek F.: Zur Bedeutung des endogenen Wirkstoffs und Umweltfaktors Thiopcyanat für die unspezifische und spezifische Resistenz aus hygienischer Sicht. In: Zentralblatt für Hygiene und Umweltmedizin 1990; 189: 473–510.
  6. a b c Kramer A., Böhland H., Below H.: Anorganische Thiocyanate. In: Kramer A., Assadian O. (Hrsg): Wallhäusers Praxis der Sterilisation, Desinfektion, Antiseptik und Konservierung. Stuttgart: Thieme, 2008, 891-4.
  7. Lang K.: Die Rhodanbildung im Tierkörper. Biochem Z 1933; 259: 243-56.
  8. Nagahara N., Ito T., Minami M.: Mercaptopyruvate sulfurtransferase as a defense against cyanide toxication: molecular properties and mode of detoxification. Histol Histopathol 1999;14(4):1277-86.
  9. Thürkow B., Weuffen .W, Kramer A., Below H., Johnson D.: Zur Bedeutung von Thiocyanat für die gesunde Ernährung des Menschen. Dt Lebensmittel-Rundschau 1992; 88 (10): 307-13.
  10. Kramer A., Meng W., Reinwein D., Weuffen W., Below H., Ermisch U., Jülich W.-D., Koch S., Kellner R., Meng S., Schibille O., Straßenberg A., Bauch K., Straube W., Ulrich F.E., Ventz M.: Experimentelle und epidemiologische Untersuchungen zu Wechselbeziehungen von Thiocyanat und Schilddrüsenfunktion. Z ges Hyg 1990; 36: 383-7.
  11. Foss O.P., Lund-Larsen P.G.: Serum thiocyanate and smoking: interpretation of serum thiocyanate levels observed in a large health study. Scand J Clin Lab Invest 1986;46(3):245-51.
  12. Wood J.L.:Biochemistry. In. Newman AA (ed) Chemistry and Biochemistry of Thiocyanic Acid and Its Derivatives. London: Academic Press, 1975, 156–221.
  13. a b Ihalin R., Loimaranta V., Tenovuo J.: Origin, structure, and biological activities of peroxidases in human saliva. Arch Biochem Biophys 2006; 445(2):261-8.
  14. Weuffen W., Behounkova L., Maruschka H.: Untersuchungen zur Beeinflussbarkeit der Pferdeserumanaphylaxie des Meerschweinchens durch verschiedene Pharmaka. 1. Mitt. Acta biol med germ 1968; 21:127-30.

Weblinks