Ch-47M2 Kinschal
Ch-47M2 Kinschal (russisch Кинжал ‚Dolch‘; Betonung: Kinschál, GRAU-Index: Х-47М2) ist eine Hyperschall-Luft-Boden-Rakete aus russischer Produktion. Der NATO-Codename für die Lenkwaffe lautet AS-24 Killjoy, die Reichweite wird in verschiedenen Quellen zwischen 500 und 2000 km angegeben.
Entwicklung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Luftgestützte ballistische Raketen wurden von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bereits in den 1960er- bis 1970er-Jahren entwickelt. Mit der amerikanischen AGM-48 Skybolt und der sowjetischen Ch-45 Molnija (russisch Х-45 Молния) wurden bereits in den 1960er-Jahren Geschwindigkeiten von über Mach 12 und Reichweiten von über 1800 km erreicht.[1][2]
Wann die Entwicklung der Ch-47 begann, ist nicht bekannt. Erste Informationen über das Projekt gelangten im Jahr 2010 an die Öffentlichkeit.[3] Nach einer Testserie wurde die Ch-47 im Dezember 2017 in die Bewaffnung der russischen Streitkräfte übernommen.[4] Offiziell wurde die Ch-47 im März 2018 im Rahmen einer Rede Wladimir Putins vor der Föderalen Versammlung vorgestellt.
Westliche Analysten gehen davon aus, dass die Kinschal entwickelt wurde, um kritische Infrastruktureinrichtungen (z. B. Flugplätze, Lagerhäuser, Kommandozentralen usw., aber auch Seeziele[5]) anzugreifen und US-Raketenabwehrsystemen wie dem THAAD entgegenzuwirken. Da die Kinschal flugzeuggestützt ist, kann die Waffe aus unvorhersehbaren Richtungen gestartet werden, was die Bekämpfung mit sektorgebundenen (nicht 360-Grad-fähigen) Radargeräten, wie sie beispielsweise bei dem Patriot-System eingesetzt werden, erschwert.[3]
Technik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Über die Ch-47 ist wenig bekannt und die veröffentlichten Leistungsparameter beruhen zum Teil auf Schätzungen. Die Rakete hat inklusive Gefechtskopf ein Gewicht von über 1000 kg, ist rund 7 m lang und hat einen Durchmesser von etwa 1 m.[3][6] Am Heck der Rakete sind acht trapezförmige Stabilisierungs- und Steuerflächen angebracht. Sie kann mit einem Nukleargefechtskopf oder einem rund 500 kg wiegenden Splittergefechtskopf ausgerüstet werden.[7] Westliche Rüstungsexperten nehmen aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit an, dass der Entwurf der Ch-47 auf der 9M723-Iskander-Rakete beruht.[3][8] Als Trägerflugzeuge wurden die MiG-31K sowie die Tu-22M3M vorgestellt.[9][10] US-Quellen gehen zudem davon aus, dass auch die Suchoi Su-34 sowie die Suchoi Su-57 die Ch-47 tragen können.[11][12]
Nach dem Abwurf vom Flugzeug erfolgt zunächst eine kurze antriebslose Phase. Erst in sicherem Abstand zum Flugzeug zündet das Feststoffraketentriebwerk im Lenkwaffenheck. Danach steigt die Lenkwaffe auf einer semiballistischen Flugbahn auf eine Höhe von 18 bis 20 km.[13] Dabei soll sie nach russischen Angaben eine Geschwindigkeit von rund Mach 10 erreichen und dennoch Ausweichmanöver durchführen können. Ukrainische Kräfte berichteten hingegen von deutlich geringeren Fluggeschwindigkeiten von Mach 3,6.[14] Beim Flug durch die Erdatmosphäre mit Hyperschallgeschwindigkeit entsteht eine sehr hohe Kompressionshitze auf der Raketenoberfläche, die eine Hitzeschutzbeschichtung, insbesondere der Raketenspitze und der Tragflächen, notwendig macht. Die Steuerung erfolgt vermutlich mit einem inertialen Navigationssystem und dem Satelliten-Navigationssystem GLONASS.[7] Über die tatsächliche Reichweite der Ch-47 wird spekuliert. Während russische Medien von einer Reichweite von über 2000 km berichten, gehen westliche Quellen von 500 bis 1000 km aus, da in die russischen Angaben vermutlich die Reichweite des Trägerflugzeuges eingerechnet sei.[15][7][13][16]
Einsatz
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im März 2022 gab das russische Verteidigungsministerium den ersten erfolgreichen Einsatz des Kinschal-Raketensystems im Rahmen des russischen Überfalls auf die Ukraine bei einem Angriff auf ein unterirdisches ukrainisches Munitionsdepot im Dorf Deljatyn im Gebiet Iwano-Frankiwsk sowie am darauffolgenden Tag auf ein Treibstoffdepot in Kostjantyniwka bekannt.[17][18][19] Dabei soll es den USA gelungen sein, die Flugbahnen der Raketen in Echtzeit zu verfolgen.[3] Im April 2022 soll ein unterirdischer Kommandostand der ukrainischen Streitkräfte in der Oblast Donezk mit einer Ch-47M2-Rakete zerstört worden sein.[20] Militäranalysten zufolge war der mögliche Zweck dieses Einsatzes, die Waffe unter realen Einsatzbedingungen zu testen.[21] Am 9. März 2023 führten die russischen Streitkräfte einen umfangreichen Raketenangriff auf Infrastrukturobjekte in der Ukraine durch. Dabei kamen vermutlich sechs Kinschal-Raketen zum Einsatz.[22]
Der Chef der ukrainischen Luftwaffe gab im Mai 2023 an, dass eine auf Kiew abgefeuerte Kinschal durch ein Patriot PAC-3-System, das von westlichen Verbündeten geliefert worden war, abgefangen worden sei.[23] Ein Sprecher des US-amerikanischen Pentagons bestätigte wenige Tage später den Abschuss. CNN berichtete unter Berufung auf nicht genannte US-Beamte, dass die Kinschal die durch ihr Radarsignal lokalisierte Patriot-Batterie als Ziel gehabt haben soll. Das Patriot-System habe jedoch die Kinschal im Anflug zerstören können.[24] Der Bürgermeister von Kiew Vitali Klitschko präsentierte Trümmerteile, die von der abgeschossenen Kinschal stammen sollen.[25] Ukrainische Stellen meldeten den Abschuss weiterer sechs Kinschals im Raum Kiew mit einem Patriot-System in der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 2023; der russische Verteidigungsminister Schoigu dementierte die ukrainischen Angaben mit dem Hinweis, es seien gar nicht so viele Kinschal-Raketen abgefeuert worden.[26] Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, in derselben Nacht ein vom Westen geliefertes Patriot-Luftabwehrsystem mit fünf Patriot-Abschussrampen und einem zugehörigen Radar durch eine Kinschal-Rakete zerstört zu haben.[27][28][29] US-Offizielle bestätigten, dass ein Patriot-System in der Nacht beschädigt wurde.[30][31] Drei Tage später teilte das US-Verteidigungsministerium mit, dass das System repariert und wieder voll einsatzfähig sei.[32]
In einem im Juni 2023 im Economist veröffentlichten Interview gab ein Mitglied der ukrainischen Bedienmannschaft des Patriot-Systems an, dass die Kinschal mit einer Geschwindigkeit von etwa 1240 m/s unterwegs gewesen sei, einem Drittel der russischen Angaben.[33]
Aus der Ukraine wurde berichtet, dass am 13. Dezember 2023 zwei Wellen von Kinschals von MiG-31-Kampfflugzeugen aus dem russischen Luftraum heraus auf die Ukraine gefeuert wurden. Es gab Explosionen in der Nähe des Militärflughafens Starokostjantyniw im Gebiet Chmelnyzkyj.[34]
Russland beschoss Ziele in der Ukraine seit dem 29. Dezember 2023 in wenigen Tagen mit 500 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen. Besonders intensiv war der Beschuss am 2. Januar 2024; er richtete sich ausschließlich gegen Kiew und die Großstadt Charkiw. Die Ukraine meldete, alle zehn in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 2024 auf die Ukraine abgefeuerten Kinschal-Raketen seien abgefangen worden.[35]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der britische Militärnachrichtendienst urteilte, dass die Kinschal bei Einsätzen in der Ukraine weniger schlagkräftig sei, als zuvor angenommen wurde. Stand Oktober 2023 sei die Waffe weiterhin in der Erprobung und eher ein Papiertiger.[36]
Ein exilchinesischer Militärexperte schrieb, China sei von der Kinschal wenig beeindruckt, da sie lediglich Technik aus der Zeit des Kalten Krieges darstellen würde und einen Großteil der gemachten Versprechungen nicht einhalten könnte. Da die Kinschal auf das Glonass-System angewiesen sind, wäre die Performance aufgrund der Schwächen des Glonass-Systems eingeschränkt.[37][38]
Der Leiter des ukrainischen Forschungsinstituts für forensische Expertise Andrij Kultschitskyji stellte nach umfassenden Untersuchungen der Kinschal fest, dass es dieser an Präzision mangelt. So betrage die Zielgenauigkeit entgegen der Angaben des russischen Militärs nicht wenige Meter, sondern teilweise 50 bis 100 Meter. Kultschitskyji führt die Ungenauigkeiten auf Mängel in der russischen Rüstungsindustrie zurück.[39]
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Was kann „Kinschal“ – und was nicht? ( vom 21. Juni 2022 im Internet Archive) (Tagesschau.de am 21. August 2022)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Federation of American Scientists (FAS): Air-Launched-Ballistic Missiles
- ↑ Airwar.ru: X-45 Молния
- ↑ a b c d e Kh-47M2 Kinzhal. Abgerufen am 22. Januar 2024 (amerikanisches Englisch).
- ↑ Rainer Göpfert: Russlands Streitkräfte testen neue Hyperschallrakete. MiG-31 greift zum „Dolch“. In: Fliegerrevue. Nr. 09. PPV Medien, 2018, ISSN 0941-889X, S. 24 ff.
- ↑ Iiss.org: Russia tests sea-denial systems with Soviet echoes
- ↑ Kh-47M2 Kinzhal Air-Launched Ballistic Missile | Military-Today.com. Abgerufen am 19. März 2022.
- ↑ a b c Гиперзвуковой бросок «Кинжала»: конкуренты еще – в «пеленках» In: zvezdaweekly.ru. (russisch).
- ↑ New Russian missile likely to be part of antisatellite system. (PDF) In: janes.com. Archiviert vom am 11. Februar 2019; abgerufen am 3. Juli 2023 (englisch).
- ↑ Neil Gibson, Nicholas Fiorenza: Russia unveils Kinzhal hypersonic missile. In: IHS Jane’s Defence Weekly. 15. März 2018, abgerufen am 14. Mai 2018 (englisch).
- ↑ Hyperschall-Quartett: Auch Langstreckenbomber bekommt Kinschal-Raketen. In: de.sputniknews.com. Staatliches Medienunternehmen Rossija Sewodnja, 2. Juli 2018, archiviert vom am 3. Juli 2018; abgerufen am 4. September 2018.
- ↑ Congressional Research Service: Hypersonic Weapons: Background and Issues for Congress S. 14.
- ↑ Kyle Mizokami: Ten Years Later, Russia Finally Begins Production of the Su-57 Stealth Fighter. In: popularmechanics.com. 31. Juli 2019, abgerufen am 19. April 2022 (englisch).
- ↑ a b Jill Hruby: Russia’s New Nuclear Weapon Delivery Systems – An Open-Source Technical Review. (PDF) In: nti.org. NTI – The Nuclear Threat Initiative, 1. November 2019, abgerufen am 28. Januar 2020 (englisch).
- ↑ How Kyiv fended off a Russian missile blitz in May. In: economist.com. The Economist Newspaper Limited, 13. Juni 2023, abgerufen am 3. Juli 2023 (Leseprobe).
- ↑ Gregor Grosse: Der Mythos der russischen Hyperschallrakete schwindet. In: faz.net. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, 17. Mai 2023, abgerufen am 3. Juli 2023.
- ↑ Tom Demerly: Russia Test Fires New Kh-47M2 Kinzhal Hypersonic Missile. In: theaviationist.com. 12. März 2018, abgerufen am 3. Juli 2023 (englisch).
- ↑ Russland verstärkt nach Bombardement von Kaserne Luftangriffe auf Mykolajiw. In: Arte. 19. März 2022, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 20. März 2022; abgerufen am 20. März 2022. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Russia claims first use of hypersonic Kinzhal missile in Ukraine. In: BBC News. 19. März 2022, abgerufen am 27. März 2022 (englisch).
- ↑ Brad Lendon: What to know about Russia’s hypersonic missiles. In: cnn.com. 9. März 2023, abgerufen am 27. März 2022 (englisch).
- ↑ Russland-Ukraine-News: Mariupols stellvertretender Bürgermeister dementiert Berichte über »letzte Schlacht«. In: Der Spiegel. 11. April 2022, abgerufen am 11. April 2022.
- ↑ Iiss.org: Ukraine: Russia’s air-launched cruise missiles coming up short
- ↑ Russian Offensive Campaign Assessment, March 9, 2023. In: understandingwar.org. Institute for the Study of War, 9. März 2023, abgerufen am 10. März 2023 (englisch).
- ↑ Patriot-System fängt Kinschal ab – Ukraine will erstmals russische Super-Rakete abgeschossen haben. In: n-tv.de. 6. Mai 2023.
- ↑ Russia tried to destroy US-made Patriot system in Ukraine, officials say. In: cnn.com. 12. Mai 2023 (englisch).
- ↑ „Kiew spricht von einem historischen Abschuss“. In: Welt. 10. Mai 2023, abgerufen am 12. Mai 2023.
- ↑ Russland dementiert ukrainische Angaben zu abgefangenen Raketen. In: tagesschau.de. 16. Mai 2023, abgerufen am 19. Mai 2023.
- ↑ Russen wollen Patriot-System zerstört haben. In: n-tv. 16. Mai 2023, abgerufen am 16. Mai 2023.
- ↑ Ukraine meldet den Abschuss 18 russischer Raketen, darunter sechs Kinschal. In: Euronews. 16. Mai 2023, abgerufen am 16. Mai 2023.
- ↑ Rebecca Barth: Wie Kiew versucht, den russischen Raketen zu trotzen. In: tagesschau.de. Abgerufen am 16. Mai 2023.
- ↑ U.S. officials confirm damage to a Patriot air defense system in the attack but say it remains operational. In: nytimes.com. 17. Mai 2023, abgerufen am 17. Mai 2023 (englisch).
- ↑ Ivo Mijnssen: Mit Hyperschallraketen gegen «Patriots»: Im Himmel über Kiew sucht Russlands «Dolch» Schwächen in der Luftverteidigung. In: Neue Zürcher Zeitung. 18. Mai 2023, abgerufen am 18. Mai 2023.
- ↑ Russlands Angriffskrieg. In: spiegel.de. 19. Mai 2023, abgerufen am 19. Mai 2023.
- ↑ How Kyiv fended off a Russian missile blitz in May. In: The Economist. 13. Juni 2023, archiviert vom am 13. Juni 2023; abgerufen am 20. August 2023 (englisch): „Zitat: The Russians’ “unbeatable” Kh-47 Kinzhal air-launched ballistic missile was not only beatable; but it was actually travelling at “only” around approximately 1,240 metres per second, a third of what the Russians like to claim.“
- ↑ Russland beschießt Westukraine mit Hyperschallraketen orf.at, 14. Dezember 2023, abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ nzz.ch 2. Januar 2024: «Weltweit grösster Raketenangriff mit Hyperschallwaffen»: Die Ukraine verteidigt sich gegen präzedenzlose russische Attacken
- ↑ Russland: Hyperschallrakete liefert schlechte Leistung in der Ukraine, sagt Großbritannien. In: spiegel.de. 22. Oktober 2023, abgerufen am 22. Januar 2024.
- ↑ Ritu Sharma: China "Mocks" Russia's Hypersonic Missile! Analyst Calls It ‘Outdated Cold-War Tech That Fails To Impress’. In: eurasiantimes.com. 16. Januar 2024, abgerufen am 22. Januar 2024 (englisch).
- ↑ Matthew Loh: Kritik aus China: Kinschal-Raketen enttäuschen im Ukraine-Krieg. In: businessinsider.de. 19. Januar 2024, abgerufen am 22. Januar 2024.
- ↑ https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/aus-wunder-wird-schrott-putins-hyperschallrakete-geht-in-rauch-auf/ar-BB1hKTNp?ocid=msedgdhp&pc=U531&cvid=d01adf65895d41778cbe561e25baaaed&ei=5