Nathan der Weise

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Titelblatt des Erstdruckes
Recha begrüßt ihren Vater, 1877 von Maurycy Gottlieb
Zeitgenössischer Einband des Erstdruckes.

Nathan der Weise ist der Titel und die Hauptfigur eines fünfaktigen Ideendramas von Gotthold Ephraim Lessing, das 1779 veröffentlicht und am 14. April 1783 in Berlin uraufgeführt worden ist. Das Werk hat als Themenschwerpunkt Religionstoleranz. Besonders wichtig dabei ist die Ringparabel im dritten Aufzug des Dramas, die sich bereits bei Giovanni Boccaccio in dessen Geschichtensammlung „Decamerone“ findet.

Die Parabel reicht aber tatsächlich bis etwa um 1100 zur Iberischen Halbinsel zurück, wo sie von sephardischen Juden erfunden wurde.

„Nathan der Weise“ ist Lessings letztes Werk. Hintergrund ist eine Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, die soweit reichte, dass ein Teilpublikationsverbot gegen Lessing erhoben wurde. Infolgedessen implizierte Lessing seine Idee des Deismus in dieses Drama. Seine Beschäftigung mit dem Stoff reicht jedoch nachweislich bis ca. 1750 zurück.

In der Figur Nathans des Weisen setzte Lessing seinem Freund Moses Mendelssohn ein literarisches Denkmal.

Von historischem Interesse für die Entstehung des Stückes ist auch die Auseinandersetzung mit Hermann Samuel Reimarus im Fragmentenstreit.

Äußere Form

Die Handlung ist geteilt auf 5 Aufzüge, die wiederum in Auftritte gegliedert sind. Lessing hat das Drama im Blankvers verfasst, der in England seinen Ursprung hat und sich erst durch ihn in Deutschland durchsetzen konnte. Lessings Stil:

Das Werk entspricht dem klassischen Aufbau eines Dramas, da es zur Darstellung auf der Bühne geschaffen ist. „Nathan der Weise“ enthält sowohl tragische als auch komische Elemente, ist aber weder eine Komödie noch eine Tragödie. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Ringparabel, somit im Kern die Frage nach der „wahren“ Religion.

Inhalt

Die Handlung spielt zur Zeit des Dritten Kreuzzugs während des Waffenstillstandes in Jerusalem. Als der Jude Nathan von einer Geschäftsreise zurückkommt, erfährt er, dass seine Pflegetochter Recha von einem christlichen Tempelherrn aus dem Feuer gerettet worden ist. Der Ordensritter verdankt sein Leben der Begnadigung durch den muslimischen Herrscher, Sultan Saladin. Dieser hat ihn als einzigen von zwanzig Gefangenen begnadigt, weil er Saladins verstorbenem Bruder Assad ähnlich sah. Durch geschickte Rede überzeugt Nathan den Tempelherrn zu einem Besuch, um den Dank seiner Tochter entgegenzunehmen. Derweilen hat Saladin Geldsorgen, weswegen er Nathan zu sich bringen lässt. Er gibt dazu vor, Nathans bekannte Weisheit zu testen und fragt nach der „wahren Religion“. Nathan antwortet mit der Ringparabel. Saladin erkennt schnell die Aussage der Gleichberechtigung unter den drei monotheistischen Religionen. Davon tief beeindruckt bittet er daraufhin, Nathans Freund sein zu dürfen. Noch erfreuter zeigt er sich, als er von Nathan ein Darlehensangebot erhält, ohne danach gefragt zu haben. Der Tempelherr hat sich unterdessen in Recha verliebt und möchte sie heiraten. Als er durch Information von Nathans Haushälterin Daja, einer Christin, herausfindet, dass Recha adoptiert ist und ihre leiblichen Eltern Christen waren, wendet er sich an den Patriarchen von Jerusalem, auch weil Nathan gegenüber der Idee einer Heirat eine sehr zurückhaltende Haltung zeigt. Der Templer erzählt den Vorfall hypothetisch, doch das Kirchenoberhaupt Jerusalems möchte sofort "diesen Juden" suchen lassen, um ihn auf den Scheiterhaufen zu bringen. Durch ein Verzeichnis eines Klosterbruders stellt sich schließlich heraus, dass die von einem Juden erzogene Recha und der christliche Tempelherr Geschwister und zugleich die Kinder von Assad sind, der wiederum Saladins Bruder und reformierter Christ war. Somit sind sie auch noch Nichte und Neffe des Muslims Saladin, womit die enge Verwandtschaft der Religionen nochmals verdeutlicht wird. Nathan wird als Vater im Sinne der Seelenverwandtschaft und Adoption anerkannt.

Ringparabel

In der Schlüsselszene lässt Saladin Nathan zu sich rufen und legt ihm die Frage vor, welche der drei monotheistischen Religionen er für die wahre halte. Nathan sieht sich vor dem Konflikt, weder seine Religion zu sehr zu betonen, noch die anderen beiden. Deshalb antwortet er mit einem Gleichnis. Darin besitzt ein Mann ein wertvolles Familienerbstück: einen Ring, der über die magische Eigenschaft verfügt, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“ zu machen. Dieser Ring wurde über viele Generationen hinweg vom Vater an jenen Sohn vererbt, den der Vater am meisten liebte. Doch nun tritt der Fall ein, dass der Vater von seinen drei Söhnen keinen bevorzugen kann und möchte, sodass er von einem Goldschmied zwei Duplikate des Ringes herstellen lässt. Er hinterlässt jedem Sohn einen Ring, wobei er jedem versichert, sein Ring sei der echte. Nach dem Tode des Vaters ziehen die Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen der echte sei. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen; wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sein müsse. Jedenfalls solle ein jeder von ihnen trachten, die Liebe aller seiner Mitmenschen zu verdienen; wenn dies einem von ihnen gelinge, so sei er der Träger des echten Ringes.

Wirkung und Diskussion der Ringparabel

Die Ringparabel gilt als ein Schlüsseltext der Aufklärung und als pointierte Formulierung der Toleranzidee. Dem zugrunde liegt die Analogie, dass der Vater für Gott, die drei Söhne für die drei monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) und der Richter für Nathan selbst steht. Die Aussage der Parabel wäre demnach, dass Gott die drei Religionen gleichermaßen liebe.

Eine weitere Interpretation ist, dass Gott die Religion am meisten liebe, die von allen Menschen angenommen und respektiert wird und die alle Menschen eint.

Eine dritte Interpretation ist, dass der echte Ring im Laufe der Zeit an seiner Wirkung erkannt werden kann. Gleiches gälte dann für die wahre Religion.

Eine weitere Interpretationsmöglichkeit besteht darin, dass der Vater der drei Söhne für die ursprünglich als ideale betrachtete einzige Religion steht, die sich in die drei Religionen (drei Söhne) Islam, Judentum und Christentum unterteilte. Der Richter in der Ringparabel steht für Gott, der vor allen Religionen gleich ist. Die Idee des Dramas (Ideendrama) besteht folglich darin, die drei Religionen erneut zu einer starken Einheit zu verbinden.

Gleichermaßen lässt sich auch außerhalb der Aufklärung die Bedeutung finden, dass die „Wahrheit“, also die wahre Gottesschau (in diesem Fall hinter dem christlichen Charisma- und Liebessymbol versteckt) tatsächlich verloren gegangen ist (so sie denn jemals in expliziter Form vorlag und nicht nur als implizite Offenbarung). Die Religionen als Gruppierungen, welche diesem Ideal zustreben, seien ihm ähnlich nah, aber gleichzeitig auch ähnlich fern. Die Tradition, immer dem „liebsten“ Sohn die Wahrheit zu vererben, lässt sich deuten als Verweis auf das Prophetenwesen, weshalb die Ähnlichkeit der abrahamitischen Religionen untereinander und des gesamten Monotheismus zu Recht postuliert wird. Mit der Parabel jedoch wird auch unterstellt, man müsse das Wirken Gottes an seinen Resultaten in der Welt erkennen können, um ihnen Sein zuzuweisen.

Zur Vorgeschichte der Ringparabel siehe die Erzählung von Saladins Tisch bei Jans dem Enikel (13. Jahrhundert) und die Erzählung "Vom dreifachen Lauf der Welt" in den Gesta Romanorum.

Charakterisierung der Hauptpersonen

Nathan

Statue Nathan, (1961), Erich Schmidtbochum (1913-1999), Modell: Ernst Deutsch (1890-1963), Wolfenbüttel)

Nathan ist die Hauptfigur, bei der die Handlungsstränge zusammenlaufen und der alle Fäden zu einem Ganzen verknüpft. Zuerst wird Nathan als reicher Kaufmann aus Jerusalem vorgestellt (I, 6.), der von seinen Geschäftsreisen immer viel Geld und Luxusgüter mitbringt. Das Volk hat sich bereits vor geraumer Zeit ein Bild von diesem reichen „Juden“ gemacht. Nathan ist nicht geizig, möchte aber nicht die leeren Staatskassen Saladins füllen, obwohl er dadurch seinen Reichtum vermehren könnte; nicht zuletzt deshalb lehnt er aber ab, als sein Freund Al-Hafi ihn darum bittet. Durch dieses Verhalten entkräftet Nathan das Vorurteil, dass Juden nur nach Reichtum streben. Auf die Bitte des Sultans, ihm Geld zu leihen, reagiert er aber entgegenkommend. Nathan wird vom Volk und von allen Menschen vor allem wegen seiner Güte und seines Großmuts gelobt. In Nathans Person bilden „bürgerliche Tüchtigkeit“ und „Tugend“ eine in sich geschlossene Einheit.

Saladin und der Tempelherr sehen in Nathan allerdings zuerst den Juden, dem man aus dem Weg gehen sollte.

Recha ist zwar nur Nathans Adoptivtochter, doch er nennt sie ganz selbstverständlich „meine Recha“ und „mein liebes Kind“. Nathan ist für Recha der perfekte Vater, obgleich er nicht ihr leiblicher ist („Das Blut allein macht noch nicht den Vater aus.“). Außerdem ist er Beschützer und Anwalt Rechas zugleich.

Nathan hat sich vom orthodoxen Judentum gelöst und ist anderen Religionen gegenüber tolerant eingestellt (Vers 1070 „Jud' und Christ Und Muselmann und Parsi, alles ist Ihm eins“). Für ihn ist die Religion nur eine Hülle. Bei ihm finden Glaube und Vernunft Einklang. Seine Weltanschauung lebt er vorbildhaft und macht sie auch zur Grundlage von Rechas Erziehung. Durch diese Weltanschauung wird er als „weise“ bezeichnet.

Saladin

Sultan Saladins Palast ist der Mittelpunkt der politischen Macht in Jerusalem und Schauplatz der letzten Szene. Während eines Angriffes auf Tebnin nehmen Saladins Männer einige Tempelritter als Gefangene. Nur einen dieser Tempelritter lässt Saladin am Leben, weil er seinem verschollenen Bruder Assad ähnlich sieht. Er ist von Grund auf ein guter Mensch, der anderen Gutes möchte und ihnen jederzeit, soweit es möglich ist, Geschenke und Gaben überreicht. Er sieht dabei auch von seinem eigenen Wohl ab, was ihn schlussendlich in den wirtschaftlichen Ruin treibt. Mit seiner Schwester Sittah spielt Saladin oft Schach, was von Intelligenz zeugt. Die Begegnung mit Nathan und der „Ringparabel“ wird zum Schlüsselerlebnis für Saladin, welche seine Einstellung vollkommen verändert. (4. Aufzug, 4. Auftritt: „Ich habe nie verlangt, Daß allen Bäumen Eine Rinde wachse.“) Saladin gilt als Verbesserer der Welt: Er hilft den Bettlern und begnadigt einen Tempelherren, welchem er anfangs sogar gute Kleidung beschafft, um ihm Ansehen zu verleihen. Mit der Freundschaft zu Nathan bildet er eine Glaubensgemeinschaft, welche alle Grenzen der Religion überwindet.

Der Junge Tempelherr

Der Tempelherr (Leu von Filnek) ist Christ und Mitglied des Templerordens. Und als Christ hat er auch die damals üblichen Vorurteile gegenüber Juden. Durch sein beherztes Eingreifen rettet er Recha aus den Flammen des brennenden Hauses. Für diese Tat möchte er aber keinen Dank und keine Anerkennung, weil es für ihn selbstverständlich ist, zu helfen. Ferner schätzt der Tempelherr zu Beginn des Dramas das Leben Rechas als weniger wert ein, da sie „nur“ eine Jüdin ist. Erst nach einiger Zeit, in der er Daja, Recha und Nathan aus dem Weg geht, merkt er, dass er sich in ein „Judenmädchen“ verliebt hat. Zu Nathan kann der Tempelherr eine Freundschaft aufbauen und sein gesamtes Bewusstsein verändern. In der Schlussszene stellt sich heraus, dass der Tempelherr und Recha Geschwister sind.

Der Patriarch

Der autoritäre Politiker ist der Gegenspieler Saladins und Nathans. Er ist intolerant und glaubt an seine eigene Unfehlbarkeit, sogar vor Mord würde er nicht zurückschrecken.

Der Klosterbruder

Er zeigt Nächstenliebe als er das Waisenkind Blanda zu Nathan, unabhängig von Nathans Religionszugehörigkeit, bringt.

Daja

Die überzeugte Christin verschließt sich den Lehren Nathans über die Toleranz, deshalb fehlt sie auch in der letzten Szene des Dramas.

Recha

Die Ziehtochter ist ein lernfähiger Mensch. Sie verwendet ihren Verstand, so wie es ihr Nathan gelehrt hat. Anfangs glaubt sie bei ihrer Rettung noch an einen Engel, schämt sich aber anschließend dafür. Sie setzt sich für Nathan ein, obwohl er nicht ihr leiblicher Vater ist.

Sittah

Die Schwester Saladins gibt ihrem Bruder Kredite, ohne dass dieser etwas davon weiß. Sie hat einen besseren Bezug zur Realität und erkennt die tatsächliche politische Lage, sie bezeichnet die heiratspolitischen Pläne, eine Beziehung zwischen Muslime und Christen herzustellen, als Traum.

Al Hafi

Der Bettelmönch und Schachfreund Nathans wird Schatzmeister des Sultans. Er muss mit schlechten Mitteln Gutes tun, denn er soll Nathan überreden, dem Sultan Geld zu leihen. Sein Gelübde steht im Widerspruch zu seiner amtlichen Pflicht.

Figurenkonstellation

Schaubild zur Figurenkonstellation

Wirkung des Werkes

Lessing war schon zu Lebzeiten ein prominenter Autor. Nathan der Weise war seit Erscheinen in literarisch interessierten Kreisen bekannt. Seit dem frühen 19. Jahrhundert war es fester Bestandteil des klassischen bürgerlichen Bildungskanons, des Theaterspielplans und des gymnasialen Lehrplans. Bis zum Zweiten Weltkrieg kannten daher viele Menschen in Deutschland das Stück. In der Nazi-Zeit war es verboten und verpönt, weil ein menschlich vorbildlicher Jude der Nazi-Ideologie widersprach.

Literatur

  • Erstausgabe: G. E. Lessing : Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen. 1779 [keine Verlagsangabe], 276 S.(inkl. Anmerkungen)
  • Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Text und Materialien, bearbeitet von Ingrid Haaser. Reihe "Klassische Schullektüre, hrsg. von Ekkehart Mittelberg. Berlin: Cornelsen 1997 ISBN 3-464-12136-4
  • Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Lehrerheft von Ingrid Haaser. Reihe "Klassische Schullektüre, hrsg. von Ekkehart Mittelberg. Berlin: Cornelsen 1999 ISBN 3-464-12137-2
  • Hans-Ulrich Lindken: Erläuterungen zu Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. 5. Auflage. Bange 1987, ISBN 3-8044-0225-9
  • Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Schneider, Heidelberg 1988, ISBN 3-7953-0761-9
  • Hans Ritscher: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. 9. Auflage. Diesterweg 1979, ISBN 3-425-06380-4
  • Timotheus Will: Lessings dramatisches Gedicht Nathan der Weise und die Philosophie der Aufklärungszeit, Schöningh 1999. ISBN 3-506-75069-0

Weblinks

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