Rechtsstaat (Schweiz)

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Das schweizerische Verständnis des Begriffs Rechtsstaat deckt sich heutzutage im Wesentlichen mit dem des restlichen Westeuropa, ist jedoch historisch anders gewachsen.

Rechtsstaat bedeutet in erster Linie Herrschaft des Rechts. Die Macht des Staates kann nur auf Grundlage des Rechts ausgeübt werden. Der Rechtsstaat ist somit der Antipode zum Willkür- oder Machtstaat. Im Rechtsstaat sind Hoheitsträger nicht nur an das Recht gebunden; die rechtlich verbriefte individuelle Freiheit setzt staatlichem Handeln Grenzen. Der Rechtsstaat anerkennt im Unterschied zum totalitären Staat, dass nicht jeder Lebensbereich autoritativ zu regulieren ist.[1] Der Rechtsstaatsbegriff ist jedoch in hohem Masse unbestimmt und dogmatisch äusserst vielschichtig. Das hängt mit der historischen Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens zusammen, die von der Antike über das Mittelalter reicht, von Sozialvertragstheorien und Naturrechtsdenken beeinflusst wurde und in verschiedenen Staaten teilweise sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.[2]

Für gewöhnlich wird zwischen formellen und materiellen Elementen des Rechtsstaates unterschieden. Die formellen Elemente schützen den Einzelnen vor Machtmissbrauch und staatlicher Willkür. Dazu zählen in der Schweiz[3]

An das formell korrekt erlassene, angewandte und durchgesetzte Recht werden materielle Anforderungen, namentlich die Wahrung der Grundrechte, gestellt.[4] «Der materielle Rechtsstaat will die Persönlichkeit des Individuums in einer staatlichen Kollektivität sicherstellen.» (Zaccaria Giacometti, «Rechtsstaat und Notrecht», 1950).[5] Beim NS-Staat handelte es sich um einen Unrechtsstaat, wenngleich viele der Gräueltaten eine Rechtsgrundlage hatten; das erlassene Recht muss elementaren Gerechtigkeitsanforderungen genügen.[6] Die Menschenwürde (Art. 7 BV) nimmt dabei eine Sonderstellung als oberstes Konstitutionsprinzip ein.[7] In säkularisierten Staaten wie der Schweiz dient die Garantie der Menschenwürde als wertende Orientierung, als materielle Grundnorm des gesamten Staatswesens.[8] Zudem muss jedem Bürger, damit er seine Rechte ausüben kann, die materielle Existenz gesichert sein. Insofern besteht ein Konnex zwischen dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip.[9] Unerlässlich sind denn auch die Ordnungsaufgaben der Polizei und diverser Aufsichtsbehörden.[10]

Die Schweiz ist zweifelsohne ein Rechtsstaat. Das Rechtsstaatsprinzip ist in der Verfassung in Art. 5 verankert, zusammen mit Art. 9 BV (Willkürverbot), Art. 36 BV (Voraussetzungen für Einschränkungen der Grundrechte) und Art. 191c BV (richterliche Unabhängigkeit) sowie die Grundrechte insgesamt.[11]

Historische Entwicklung

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Ursprünge des Rechtsstaatsbegriffs

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Entstehung in Deutschland

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Erste Elemente (formeller) Rechtsstaatlichkeit finden sich im Altertum bei Platon, der in seinen Nomoi die unbedingte Herrschaft des Gesetzes fordert und jedem Individuum und jeder staatlichen Institution einen übergesetzlichen Status abspricht. In aristotelischer Tradition verlangten mittelalterliche Scholastiker wie Marsilius von Padua die Bindung an das Gesetz.[12]

Der „Rechtsstaat“ als Begriff entstand im Deutschland des 19. Jahrhunderts[13] und wurde als «Staat der Vernunft» (Carl Theodor Welcker)[14] oder «Verstandesstaat» (Robert von Mohl)[15] verstanden. Die Liberalen verwendeten ihn als Gegenbegriff zum übergriffigen Polizeistaat, zu dessen willkürlicher Bevormundung.[16] Das deutsche Bürgertum, das in der Märzrevolution 1848 unterlegen war, suchte die monarchische Regierung mithilfe des Rechts zu binden und gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen. Noch heute basiert das deutsche Rechtsstaatsverständnis wesentlich auf dem Rechtsschutz durch Gerichte.[17]

Der Rechtsstaat wurde im beginnenden 19. Jahrhundert nicht als neue Staatsform, sondern als eine Gattung von Staaten verstanden, die die Vernunftrechtslehre verwirklichen. Zu dieser Rechtsstaatsidee gehörte die Abwendung von metaphysischen/eschatologischen Begründungsmustern für Staatlichkeit. Der Rechtsstaat wurde nicht als göttliche Ordnung, sondern als Gemeinwesen angesehen, das im Interesse seiner Mitglieder handelt. Der Bezugspunkt war das freie, selbstbestimmte und gleiche Individuum. «Die Substanz des menschlichen Daseins verlagert sich aus dem Bereich des Öffentlichen und Allgemeinen in den Bereich des Privaten, auf den das Öffentliche funktional bezogen ist.»[18] Der Staatszweck beschränkte sich dabei auf den Schutz von Leib und Leben und die Sicherheit der Person sowie dessen Eigentum. Der Rechtsstaat habe die Freiheitsrechte und formelle Rechtsstaatselemente wie die richterliche Unabhängigkeit der Gerichte und das Legalitätsprinzip zu garantieren, weniger jedoch die Gewaltenteilung, die die mühsam errungene Staatsgewalt gefährden könnte.[19] Grundlegend für diesen Rechtsstaatsbegriff war die Staatsphilosophie Immanuel Kants.[20]

Frühe Rezeption in der Schweiz

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In der Schweiz stiess der deutsche Rechtsstaatsbegriff auf Ablehnung. Während christlich-konservative Autoren (Jeremias Gotthelf) die Säkularisierung der Staatsidee anprangerten, erachtete die liberal gesinnte Schweizer Rechtswissenschaft (Johann Jakob Rüttiman, Jakob Dubs) die deutsche Rechtsstaatskonzeption als minimalistisch, ja beschränkt.[21] Weil die Kantone zu Beginn des 19. Jahrhunderts über einen schwachen staatlichen Vollzugsapparat verfügten – ein starker Zentralstaat bestand nur 1798–1802 und danach ab 1848 wieder zunehmend[22]–, war das in Deutschland starke Bedürfnis, der Staatsgewalt Fesseln anzulegen, schwächer ausgeprägt.[21] Der Staat – hiess es in der Schweiz – sei nicht «blosser Rechtsstaat»,[23] sondern habe ebenso die soziale Wohlfahrt, die Gesundheit und die Wissenschaft zu sichern.[21] Von demokratisch-radikaler Seite – namentlich von Simon Kaiser – wurde der Rechtsstaat als Korsett für die demokratische Schweiz wahrgenommen, das Reformen erschwere und dessen es in einem Land wie der Schweiz, das auf Volkssouveränität und dem Volkswillen basiere, nicht bedürfe.[24]

Der Kulturkampf der 1870er verlieh dem Rechtsstaatsbegriff eine neue, positivere Bedeutung. Während er zuvor als autoritär und demokratiefeindlich wahrgenommen wurde, war er neu der säkularisierte Staat, in dem das weltliche Recht regierte. Die Bestrebungen, die Ehe, den Grundschulunterricht oder das Bestattungswesen dem kirchlichen Einfluss zu entziehen und staatlicher Kontrolle zu unterwerfen, wurden zu rechtsstaatlichen Anliegen. Hinzukam zu Beginn des 20. Jahrhunderts der massive Ausbau der öffentlichen Verwaltung im Bund und den grossen Kantonen aufgrund dieser zunehmenden Bürokratisierung wurden Rufe nach stärker gerichtlicher Kontrolle, d. h. nach einem Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit, laut. Dieses Anliegen war neben der Säkularisierung das zweite Teilelement des Rechtsstaatsbegriffs in der Schweiz.[25]

Alte Eidgenossenschaft

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Forderungen nach gerechten Verfahren, die rechtlich geregelt werden, lassen sich in der Schweiz in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen. An der Decke des grossen Ratsaales von Appenzell wird seit 1651 die Geschichte des Urteils von Kambyses erzählt, der seinen Statthalter bei lebendigem Leibe häuten lässt, weil dieser Bestechungsgelder annahm. Damit sollen die Amtsträger des Appenzell, insbesondere die Richter, ermahnt werden. Die Erzählung findet sich ebenfalls im Silbernen Landbuch[26] von 1585, in dem Verpflichtungen von Hoheitsträgern, ihres Amtes stets unparteiisch und unvoreingenommen zu walten, niedergeschrieben sind. Wenngleich die Justiz als eigene Gewalt im Staat nicht existierte, wurden gerichtliche Verfahren von der Regierung und Verwaltung getrennt. Private Fehden und Willkür wurden so stetig durch einen geregelten Prozess, in dem möglichst Waffengleichheit unter den Teilnehmern herrschen soll, ersetzt.[27]

Am Beispiel des Kantons Zürich Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt sich ein weiteres Element formeller Rechtsstaatlichkeit, das damals immer bedeutender wurde: Die Idee, dass Recht Ordnung schafft. 1757 erschien in Zürich eine dreibändige, im Jahr 1793 auf sechs Bände angewachsene Sammlung materiell-rechtlicher Normtexte (Sammlung der Bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen lobl. Stadt und Landschaft Zürich). Darin finden sich Vorschriften, die in fast jeden Lebensbereich eindringen: Abgesehen von der Wahrung der inneren Sicherheit wurden Wirtschaftssektoren reguliert sowie miet- und arbeitsrechtliche Schutzklauseln zugunsten der Mieter und Arbeitnehmer festgeschrieben. Der Gesetzessammlung war eine Vorrede, wohl von Johann Jakob Bodmer verfasst, vorangestellt, die die naturrechtliche und aufklärerische Prägung zeigt. Rechtsetzung sei kein arbiträrer, dezisionistischer Akt; bei dem positiven Recht handele es sich um Ableitungen der zeitlosen, immer währenden Grundsätze der Naturgesetze.[28]

Die Gesetzessammlung illustriert die wachsende Bedeutung materieller Rechtsvorschriften. Schriftlich niedergelegte und generell-abstrakt formulierte Normen ermöglichten in den sich ausbildenden Territorialstaaten die flächendeckende und einheitliche Ausübung Herrschaft. Die Nichtbefolgung der Vorschriften war strafbewehrt. Die Publikation der Rechtstexte schuf aber ebenso Transparenz: Die Bevölkerung konnte die Regierungstätigkeit der Führungsriege an ihren eigenen rechtlichen Massstäben messen. Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Obrigkeit die Veröffentlichung der Gesetze aus ebendiesem Grund untersagte, besetzten 1757 von aufgeklärtem Gedankengut geprägte Juristen Schlüsselpositionen im Staatsapparat. Sie waren der Auffassung, dass Rechtskenntnis der Bevölkerung wichtig sei und dass niemand über dem Gesetz stehe. So avancierte das von Menschen gesetzte Recht zum primären Steuerungsinstrument und vermochte die Obrigkeit zunehmend wirksam zu disziplinieren.[29]

Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns

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Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns

1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.

2 Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.

3 Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.

4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.

Legalitätsprinzip

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Der Gedanke, dass staatliches Handeln mit einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen darf, wird als Legalitätsprinzip bezeichnet, dessen schweizerische Ausprägung aus zwei Elementen zusammengesetzt ist. Die erste Voraussetzung wird als «Erfordernis der Gesetzesform» bezeichnet, die zweite als «Erfordernis des Rechtssatzes». Das Erfordernis der Gesetzesform verlangt, dass alle wichtige Bestimmungen in Form des Gesetzes erlassen werden (Art. 164 Abs. 1 BV). Dadurch entscheidet der demokratisch legitimierte Gesetzgeber über die wichtigen Staatsgeschäfte, und die Stimmberechtigten können ein Referendum ergreifen.[30] Das Erfordernis des Rechtssatzes verlangt, dass eine Norm «so präzise formuliert sein [muss], dass der Bürger sein Verhalten danach einrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann.»[31] Das Ziel ist also, Rechtssicherheit zu schaffen; durch Lektüre des Gesetzes soll im Vornherein feststehen, wie man sich zu verhalten hat, und nicht erst durch ein richterliches Urteil.[32] Durch die Bindung im Verwaltungshandeln an das Gesetz – eine generell-abstrakte Rechtsnorm – wird Rechtsgleichheit gewährleistet, da die Behörden in ähnlich gelagerten Fällen gleich zu entscheiden haben. Von Bedeutung ist das Legalitätsprinzip schlussendlich bei Grundrechtseingriffen, die nur basierend auf einer gesetzlichen Grundlage erfolgen dürfen (Art. 36 Abs. 1 BV).[33] Die in Deutschland zentrale Unterscheidung zwischen Vorbehalt des Gesetzes und Vorrang des Gesetzes ist in der Schweiz eher unüblich.[34]

Eine Verletzung des Legalitätsprinzips liegt dann vor, wenn entweder keine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht oder diese nicht ausreichend konkret ist, um als Grundlage für die Verordnung oder den Einzelakt zu gelten. Missachtungen des Legalitätsprinzips können indes nur eingeschränkt angefochten werden, da es nicht als verfassungsmässiges Recht gilt, deren Einschränkung mit Verfassungsbeschwerde vor Bundesgericht geltend gemacht werden kann.[35] Kantonales Recht, das das Legalitätsprinzip mutmasslich verletzt, kann nur über den Umweg des Grundsatzes der Gewaltenteilung oder des Willkürverbots (Art. 9 BV) gerügt werden. Auf Bundesebene sind die Bundesgesetze für das Bundesgericht massgebend (Art. 190 BV). Daraus folgt: Die gesetzliche Grundlage kann nicht infrage gestellt werden, und verfassungswidrige Gesetze sind gleichwohl anzuwenden. Der Bundesgesetzgeber soll zwar hinreichend bestimmt formulieren; eine Verletzung dieses Gebots kann indessen nicht sanktioniert werden.[36]

Die wirkungsorientierte Verwaltungsführung resp. das New Public Management fordert das Legalitätsprinzip heraus, denn diese Modelle stellen die Effizienz des Verwaltungshandelns in den Vordergrund.[37] Das moderne Verwaltungsverständnis ist weniger formal und stellt inhaltliche Ziele in den Vordergrund. Dafür werden Abstriche bei der Regelungs- und Normdichte gemacht – zuweilen wird kein Hoheitsakt, sondern eine Verhandlungslösung angestrebt –,[38] wodurch eine Aushöhlung der Erfordernis der Gesetzesform und des Rechtssatzes droht. Eine wirkungsorientierte Verwaltungsführung ist aber nicht notwendigerweise unvereinbar mit dem Legalitätsprinzip,[39] und die Praxis zeigt, dass eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit den Rechtsstaat auch gegenüber eine Verwaltung, die moderner und informaler organisiert ist, durchsetzen kann.[38]

Recht in ausserordentlichen Lagen

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Demokratische und rechtsstaatliche Prozesse sind, weil die Entscheidungsbefugnisse auf unterschiedliche Staatsorgane verteilt sind und insbesondere in Parlamenten auf der Suche nach Kompromissen gerungen wird, naturgemäss langsam. Indessen können Situationen eintreten, die die öffentliche Ordnung oder die äussere oder innere Sicherheit unmittelbar bedrohen und daher unverzüglich Massnahmen erfordern. Da das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nicht zur Bewältigung solcher ausserordentlicher Lagen taugt, werden dem Bundesrat umfassende Kompetenzen übertragen.[40] In Zeiten sachlicher und zeitlicher Dringlichkeit müssen situationsbedingt Abstriche an rechtsstaatlichen Prinzipien gemacht werden: Macht wird tendenziell in der Exekutive konzentriert, während die Legislative an Einfluss verliert.[41] So wird die Rechtsetzung dem demokratischen Diskurs entzogen.[42] Ausserdem sind weitreichende, flächendeckende Grundrechtseinschränkungen möglich,[43] und das Legalitätsprinzip wird relativiert.[44] Um den Zustand und das Wesen eines Rechtsstaats beurteilen zu können, ist die Frage, wer ihn (zumindest teilweise) ausser Kraft setzen kann, von grosser Bedeutung. Daher sagte Carl Schmitt: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.»[45]

Das Notrecht (Art. 184 Abs. 3 BV, Art. 185 Abs. 3 BV)[46] regelt die Kompetenzordnung in diesen Fällen. Der Bundesrat ist befugt, auf sechs Monate befristete (Art. 7d RVOG) Verordnungen und Verfügungen zur Abwendung der Gefahren zu erlassen. Dabei handelt es sich um konstitutionelles Notrecht, d. h., dem Bundesrat ist es untersagt, von der Bundesverfassung abzuweichen. Insbesondere sind die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns (Art. 5 BV) und die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe (Art. 36 BV) zu beachten.[47]

Für den Fall eines Notstandes, wenn der Staat in seiner Existenz bedroht ist, kennt die Schweiz keine verfassungsrechtlichen Regelungen. Das konstitutionelle Notrecht und andere Instrumente zur Bekämpfung von Notlagen wie die Bundesintervention, Bundesexekution oder das Dringlichkeitsrecht taugen nicht zur Eindämmung eines Ausnahmezustands wie Krieg oder schwerste Naturkatastrophen.[48] Trotz der fehlenden Kodifikation wird die Anwendung dieses extrakonstitutionellen Notrechts von Praxis und Schrifttum als zulässig erachtet.[49] Das extrakonstitutionelle Notrecht vermag Verfassungs- und Gesetzesrecht zu durchbrechen; das zwingende Völkerrecht, die notstandsfesten Garantien von Art. 15 Abs. 2 EMRK und Art. 4 Abs. 2 UNO-Pakt II sowie das Kriegsvölkerrecht müssen aber respektiert werden.[50]

Einzelnachweise

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  1. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 88 f.
  2. Gerhard Schmid/Felix Uhlmann: Idee und Ausgestaltung des Rechtsstaates. In: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Schulthess, Zürich 2001, ISBN 3-7255-4174-4, S. 225.
  3. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 89.
  4. Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2021, S. 90. Dieser Auffassung folgt das deutsche Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 95, 96 Rz. 133; BVerfGE 45, 187 Rz. 193.
  5. Zaccaria Giacometti, Alfred Kölz: Giacometti Zaccaria: Ausgewählte Schriften. 1994, ISBN 3-7255-3262-1, S. 233.
  6. Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich Basel Genf 2020, ISBN 978-3-7255-8079-8, S. 40 f. (Die Frage, ob für die Geltung des Rechts inhaltliche Anforderungen gelten, wird in der Rechtsphilosophie kontrovers diskutiert. Der Disput verläuft zwischen Naturrechtlern, die extrem ungerechtem Recht die Geltung abstreiten (Gustav Radbruch), und Rechtspositivsten, die eine Trennung von Moral und Recht verfechten (Hans Kelsen).).
  7. Judith Wyttenbach: Menschenwürde. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1362.
  8. Philippe Mastronardi: Menschenwürde als materielle «Grundnorm» des Rechtsstaates? In: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Schulthess, Zürich 2001, ISBN 3-7255-4174-4, S. 235.
  9. Walter Haller, Alfred Kölz, Thomas Gächter: Allgemeines Staatsrecht. 5. Auflage. Schulthess, Zürich 2013, ISBN 978-3-7255-6873-4, S. 139.
  10. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 90.
  11. Astrid Epiney: Art. 5 BV. In: Basler Kommentar der Bundesverfassung (= Basler Kommentar). 1. Auflage. Helbing-Lichtenhahn-Verlag, Basel 2015, ISBN 978-3-7190-3318-7, S. 92 f.
  12. Walter Haller, Alfred Kölz, Thomas Gächter: Allgemeines Staatsrecht. 5. Auflage. 2013, S. 135.
  13. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. In: Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969, S. 53–76, 54.
  14. Carl Theodor Welcker: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe. 1813, S. 25 (digitale-sammlungen.de).
  15. Robert Mohl: Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg. Band 1. Tübingen 1829, S. 11 (google.com).
  16. Richard Bäumlin: Der schweizerische Rechtsstaatsgedanke. In: ZBJV. 1965, S. 81–102, 82.
  17. Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 908.
  18. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. In: Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969, S. 53–76, 57.
  19. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. In: Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969, S. 53–76, 55–58.
  20. Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs. 1969, S. 56; Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. 1797. Königsberg, § 45, § 52
  21. a b c Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 909.
  22. Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Band 2: Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Stämpfli, Bern 2004, ISBN 3-7272-9455-8, S. 599.
  23. Johann Jakob Rüttimann: Verhältnis der Staatsgewalt zur Gesellschaft. In: ders. (Hrsg.): Kleine vermischte Schriften juristischen und biographischen Inhalts. Zürich 1876, S. 158.
  24. Simon Kaiser: Schweizerisches Staatsrecht. Band 2, 1859, S. 82 (google.com).
  25. Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 910.
  26. Lukas Gschwend: Die Rechtsquellen der Kantone Appenzell. Band 1: Appenzeller Landbücher, 2009, ISBN 978-3-7965-2614-5 (ssrq-sds-fds.ch).
  27. Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 914–916.
  28. Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 916 f.
  29. Benjamin Schindler: Entstehung und Entwicklung der Rechtsstaatsidee in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 918 f.
  30. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1026 f.
  31. BGE 109 Ia 273, E. 4d, S. 283. Dieser Auffassung sind Bundesgericht und EGMR.
  32. Hansjörg Seiler: Fehlentwicklungen des Verhältnismässigkeitsprinzips. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Nr. 123, August 2022, S. 397 f.
  33. Ulrich Häfelin, Georg Müller, Felix Uhlmann: Allgemeines Verwaltungsrecht. 8. Auflage. Dike, 2020, ISBN 978-3-03891-221-7, S. 80.
  34. Felix Uhlmann, Florian Fleischmann: Das Legalitätsprinzip – Überlegungen aus dem Blickwinkel der Wissenschaft. In: Felix Uhlmann (Hrsg.): Das Legalitätsprinzip in Verwaltungsrecht und Rechtsetzungslehre. 15. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre (= Zentrum für Rechtsetzungslehre (ZfR)). Band 7. Dike, Zürich/St. Gallen 2017, ISBN 978-3-03751-898-4, S. 9.
  35. BGE 128 I 113 E. 2c S. 116; Urteil 2C_214/2007 E. 4.2
  36. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1042 f.
  37. Gunnar Folke Schuppert: Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit (= Schriften zur Governance-Forschung. Band 23). Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-6456-6.
  38. a b Walter Haller, Alfred Kölz, Thomas Gächter: Allgemeines Staatsrecht. 5. Auflage. Schulthess, Zürich 2013, ISBN 978-3-7255-6873-4, S. 140.
  39. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1045 f.
  40. Urs Saxer/Florian Brunner: Art. 185. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 2. Zürich/Basel 2023, S. 4329.
  41. Frédéric Bernard: État de droit et situations extraordinaires. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 982.
  42. BGE 121 I 22 E. 4bb S. 28
  43. Giovanni Biaggini: «Notrecht» in Zeiten des Coronavirus – Eine Kritik der jüngsten Praxis des Bundesrats zu Art. 185 Abs. 3 BV. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Mai 2020, S. 253.
  44. Urs Saxer, Florian Brunner: Art. 185 BV. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 2, 2023, S. 4345.
  45. Carl Schmitt: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 1. Auflage. München/Leipzig 1922, S. 11.
  46. Urs Saxer, Florian Brunner: Art. 184 BV. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. 2023, S. 4305.
  47. Urs Saxer, Florian Brunner: Art. 185 BV. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 2, 2023, S. 4341.
  48. Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. 2020, S. 579.
  49. Urs Saxer, Florian Brunner: Art. 185 BV. In: St. Galler Kommentar. 2023. S. 4346; Häfelin, Haller et al.: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 2020. S. 579 f.; Luc Gonin: Art. 185 Cst. In: Commentaire Romand. 2021. Fussnote 16; Jörg Künzli: Art. 185 BV. In: Basler Kommentar. 2015. S. 2708; Botschaft des Bundesrates zur neuen Bundesverfassung. 1996. S. 419
  50. Urs Saxer, Florian Brunner: Art. 185 BV. In: St. Galler Kommentar. 2023. S. 4346; Pierre Tschannen. Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2021. S. 182.