Scheunenviertel (Berlin)

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Straßenhandel im Scheunenviertel, Grenadierstraße, 1933

Das Scheunenviertel war ein Gebiet in Berlin-Mitte nordwestlich des Alexanderplatzes vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.

Lage des Scheunenviertels, 1862

Das Scheunenviertel befand sich zwischen der heutigen Karl-Liebknecht-Straße im Osten, der Torstraße (vorher zweite Stadtmauer) im Norden, der Rosenthaler Straße im Westen und der Münz- und Weinmeisterstraße (vor der ersten Stadtmauer) im Süden.

Die eigentlichen Scheunengassen lagen um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, eingegrenzt von der heutigen Almstadtstraße (westlich), der Hirtenstraße (südlich), der Linienstraße (nördlich) und der Kleinen Alexanderstraße (östlich). Keine der Scheunengassen existiert mehr in ihrer damaligen Form.

Etwa seit den 1930er Jahren wurde auch das Gebiet bis zur Oranienburger Straße fälschlicherweise gelegentlich in diese Bezeichnung einbezogen, da dort einige jüdische Einrichtungen waren.

17. und 18. Jahrhundert

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Im Jahr 1670 hatte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm aus Brandschutzgründen den Unterhalt von Scheunen innerhalb des Stadtgebietes untersagt, um 1672 ordnete er den Bau von 27 Scheunen in unmittelbarer Nähe der damaligen Stadtmauer an. So entstand das heutige Scheunenviertel. Der Alexanderplatz war zu jener Zeit ein Viehmarkt, für dessen Betrieb große Mengen Heu und Stroh benötigt wurden. Da die Brandschutzordnung das Lagern derart feuergefährlicher Materialien innerhalb der Stadtmauer verbot, wurden die Scheunen außerhalb der Mauer errichtet. Nördlich der heutigen Dircksenstraße, die deren ungefähren Verlauf vor der barocken Stadtbefestigung markiert, befanden sich ausgedehnte, landwirtschaftliche Nutzflächen. Das Scheunenviertel diente zudem als Heimstatt für die dort beschäftigten Landarbeiter. Nach dem Abriss der Stadtmauer wurde das Gebiet bebaut, behielt aber im Volksmund seinen alten Namen.

Friedrich Wilhelm I. befahl 1737 allen Berliner Juden, die kein eigenes Haus besaßen, ins Scheunenviertel zu ziehen. Juden durften die Stadt Berlin nur durch durch das Rosenthaler Tor (später auch durch das Prenzlauer Tor) betreten oder verlassen. Ein typischer Erwerbszweig war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die aufkommende Zigarettenherstellung mit allen Familienmitgliedern.

19. und frühes 20. Jahrhundert

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Der Prozess der Industrialisierung hinterließ im Scheunenviertel gravierende Spuren. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Berlin zur größten Industriestadt Europas. Die Bevölkerungsdichte stieg innerhalb weniger Jahre rapide an, der Wohnraumbedarf der zuziehenden Arbeiter wurde nur verspätet und unzureichend durch den Bau von Mietskasernen in den neu entstehenden Stadtteilen gemindert. In den kleinteiligen Altbauten des Scheunenviertels herrschte drangvolle Enge.

Viele neu angekommene deutsche Arbeitskräfte fanden hier ihre erste Wohnstatt. Die knappen Schlafplätze in den untervermieteten Wohnungen wurden oftmals analog zu den Schichten in den nahegelegenen Borsigwerken geteilt. Wer weder schlief noch arbeitete, hielt sich in den Straßen auf oder verbrachte die wenige Freizeit in einer der zahlreichen Kneipen des Viertels (beispielsweise in der um die Mulackstraße gelegenen sogenannten Mulackei oder Mulackritze).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich das Scheunenviertel zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt. Das Viertel war geprägt durch Armut, Prostitution, Kleinkriminalität und besaß bei der Berliner Bevölkerung einen entsprechenden Ruf. Im Scheunenviertel wurde 1891 auch der erste Ringverein, eine kriminelle Organisation, gegründet.[1]

Wegen der katastrophalen baulichen und sozialen Situation beschloss der Berliner Magistrat, das Viertel ab 1906/1907 komplett umzugestalten. Waren bis dahin noch vier der ursprünglich acht Scheunengassen vorhanden, wurde nach dem Abriss vieler Gebäude das Straßennetz rund um den Bülowplatz (jetzt Rosa-Luxemburg-Platz) neu gestaltet:

  • Erste Scheunengasse – heute überbaut
  • Zweite Scheunengasse – heute: Rosa-Luxemburg-Straße (mit einem anderen Straßenverlauf)
  • Dritte Scheunengasse – heute: Zolastraße (nur dieser Teil orientiert sich noch an dem alten Straßenverlauf, ist allerdings nur eine damals nicht existente Verlängerung zur Linienstraße)
  • Vierte Scheunengasse – heute: Weydingerstraße (mit einem anderen Straßenverlauf)
  • Kleine Scheunengasse – heute überbaut

Wegen des Ersten Weltkriegs wurde die Umgestaltung des gesamten Viertels jedoch abgebrochen, sodass im westlichen Bereich noch die alte Bausubstanz vorhanden ist, während am Rosa-Luxemburg-Platz moderne Gebäude aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dominieren.

Seit den späten 1910er Jahren wuchs der Anteil der ostjüdischen Einwanderer im Scheunenviertel stark an. Diese waren durch Pogrome, die russische Revolution und die neuen Staatenbildungen im östlichen Europa hierher vertrieben worden.

Antijüdische Ausschreitungen 1923

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In den 1920er und 1930er Jahren wurde das Scheunenviertel mehrfach zum Ziel polizeilicher Razzien und antisemitischer Audschreitungen. Um 1922 ordnete der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter eine Großrazzia gegen die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel an, bei der rund 300 jüdische Männer, Frauen und Kinder von der Polizei aufgegriffen und in einem „Judenlager“ bei Zossen interniert wurden.[2][3]

Im Zuge der fortschreitenden Hyperinflation warteten am 5. November 1923 tausende Erwerbslose vor dem Arbeitsamt in der Gormannstraße, um Unterstützungsgelder zu erhalten. Ihnen wurde aber schon nach kurzer Zeit mitgeteilt, es wäre kein Geld mehr zur Auszahlung vorhanden. Hierauf traten Agitatoren an die aufgebrachte Menge heran, die verbreiteten, galizische Juden aus dem Scheunenviertel hätten das vorhandene Geld planmäßig aufgekauft. Bald begannen im Scheunenviertel Ausschreitungen, die sich gegen alle Personen und Geschäfte richteten, die der Menge „jüdisch“ erschienen. Dabei wurden Menschen aus ihren Wohnungen herausgezerrt und verprügelt und Geschäftseinrichtungen verwüstet.[4] In zeitgenössischen Zeitungen wie der Vossischen Zeitung war zu lesen, die Polizei habe sich bei den Ausschreitungen auffallend zurückgehalten, wo es ihr doch ein Leichtes gewesen wäre, der Menge Einhalt zu gebieten.

Weitere Entwicklung

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Durch den Zuzug tausender weiterer osteuropäischer Juden wandelte sich das Gebiet um die Grenadierstraße (östlich der Alten Schönhauser Straße) bald zu einem fast ausschließlich jüdischen Viertel. Dort befanden sich mehrere Bethäuser, verschiedene jüdische Organisationen und viele jüdische Geschäfte.

Die Berliner Polizei durchsucht gemeinsam mit der nationalsozialistischen Hilfspolizei Gebäude in der Grenadierstraße, 1933

In den 1930er und frühen 1940er Jahren emigrierten viele jüdische Bewohner in das Ausland oder wurden deportiert.


Darstellungen in der Literatur

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Das Scheunenviertel wurde besonders seit den 1920er Jahren mehrfach literarisch beschrieben. Am bekanntesten sind

  • Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, 1923, Roman, die Handlung spielt teilweise im Scheunenviertel, vor allem im kriminellen Milieu
  • Walter Mehring, Der Kaufmann von Berlin, 1928/29, Theaterstück, handelt von einem ostjüdischen Ankömmling im Scheunenviertel, der rasch zu Reichtum kommt
  • Fischl Schneersohn, Grenadierstraße, Roman, beschreibt das jüdische Leben im Scheunenviertel, auch über die kulturelle Spannung zwischen den osteuropäischen Zuwanderern und den alteingesessenen Berliner Juden
  • Martin Beradt, Die Straße, 1965 (posthum), kommentierte Neuauflage 2000, Roman, beschreibt detailliert das jüdische Leben im Scheunenviertel[5]
  • Mischket Liebermann, Autobiographie, 1977, berichtet von Kindheitserlebnissen im jüdischen Scheunenviertel.

Auch Klaus Mann beschrieb Eindrücke aus dem Scheunenviertel in seiner Autobiographie

Überblicksdarstellungen
  • Rainer Haubrich: Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin. Suhrkamp/Insel, Berlin 2019, ISBN 978-3-458-36462-7.
  • Wolfgang Feyerabend u. a.: Das Scheunenviertel und die Spandauer Vorstadt. L&H Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-939629-38-2.
  • Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Severin & Siedler, Berlin 1981, ISBN 3-88680-016-4., mit vielen historischen Fotos zum jüdischen Leben im Scheunenviertel
Erwähnungen des Scheunenviertels in weiteren Monographien
  • Anne-Christin Saß: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik. Wallstein, Göttingen 2012, mit vielen Beschreibungen aus dem Scheunenviertel[6]
  • Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte. Biografien – Orte – Begegnungen. (Hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V.). trafo verlag Wolfgang Weist, Berlin 2000, ISBN 3-89626-019-7.
  • Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923. Verbrecher Verlag, Berlin 2023, ISBN 978-3-95732-567-9.
  • Ulrike Steglich, Peter Kratz: Das falsche Scheunenviertel – Ein Vorstadtverführer. Altberliner Bücherstube, Verlagsbuchhandlung Oliver Seifert, Berlin 1993, ISBN 3-930265-00-1.
Aufsätze und Zeitungsartikel
Commons: Scheunenviertel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Peter Niggl: Ganoven gründen ersten Ringverein in Berlin. (pdf; 420 kB) In: kripo.at. 6. Dezember 2011, archiviert vom Original am 11. Januar 2016; abgerufen am 2. November 2023.
  2. Martin H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat? Hamburger Edition, Hamburg 2018, ISBN 978-3-86854-319-3.
  3. MDR Zeitreise: Buchenwald – Ein Konzentrationslager mitten unter uns. MDR Fernsehen, 2020.
  4. Karsten Krampitz: Vor achtzig Jahren wurden die Juden des Scheunenviertels Opfer eines Pogroms: Es begann am Arbeitsamt. In: Berliner Zeitung. 5. November 2003, abgerufen am 2. November 2023.
    Lorenz Hoffmann, Tobias Barth: Anatomie eines Pogroms: Berliner Scheunenviertel 1923. (mp3-Audio; 27 MB; 29:11 Minuten) In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Zeitfragen. Feature“. 1. November 2023, abgerufen am 2. November 2023.
  5. Die Straße der kleinen Ewigkeit Aufbau Verlage, Informationen
  6. Thomas Medicus, Wenn ich dich je vergesse, Scheunenviertel, in Die Welt vom 24. März 2012 Text-, Rezension, mit einigen Informationen zum jüdischen Scheunenviertel

Koordinaten: 52° 32′ N, 13° 25′ O