Soziale Gruppe

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Soziale Gruppe bezeichnet in Soziologie und Psychologie eine Sammlung von mindestens zwei Personen.[1] Soziologisch bestimmt sich eine Gruppe dadurch, dass alle ihre Mitglieder in einer unmittelbaren sozialen Beziehung zueinander stehen, jedes Mitglied sich der anderen Mitglieder bewusst ist und zwischen allen Mitgliedern soziale Interaktion möglich ist. Damit unterscheidet sich eine soziale Gruppe von einer Organisation, einer Sozialform, die eine sehr große Ausdehnung in Bezug auf Mitgliederzahl und Komplexität ihrer Sozialstruktur haben kann (gelegentlich als formelle Gruppe bezeichnet); Organisationen haben beispielsweise oft eine anonyme Struktur mit formalisierten und anonymen Begegnungen. Demgegenüber ist eine Gruppe aufgrund der nötigen Interaktionen grundsätzlich in ihrer Größe begrenzt.

In der Psychologie, insbesondere der Sozialpsychologie, wird die Größe einer Gruppe nicht begrenzt; einige Wissenschaftler unterscheiden aber zwischen Phänomenen in kleineren Gruppen und solchen in größeren. Eine anerkannte Definition stammt von dem Sozialpsychologen Henri Tajfel, er bestimmte eine (soziale) Gruppe als eine Ansammlung von Individuen:[2]

  • die sich selber als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahrnehmen,
  • die ein gewisses Maß an emotionaler Bindung an diese Kategorie aufweisen,
  • die ein gewisses gemeinsames Einverständnis über ihre Mitgliedschaft und die Beurteilung der Gruppe aufweisen.

Tajfels Theorie wird ebenso auf Kleingruppen wie auf ethnische Gruppen und ganze Nationen angewendet.

Soziologie

Kennzeichnend für viele Gruppen ist ihre Abgrenzung gegenüber Nicht-Mitgliedern

Für den dänischen Soziologen Theodor Geiger ist die Gruppe kategorial von einem Paar (der Dyade) zu unterscheiden, da bei diesem alle (beiden) Mitglieder jederzeit an allen Interaktionen beteiligt sind. Für den deutschen Soziologen Georg Simmel kommt gerade der Dreizahl, die als untere Grenze der Gruppengröße festgelegt ist, eine besondere Bedeutung für die Gesellschafts­bildung zu.[3]

Wichtiges Merkmal einer sozialen Gruppe ist im soziologischen Sinne ihre Überschaubarkeit, für die Gruppenmitglieder ebenso wie für Außenstehende. Soziale Gruppen werden daher häufig auch als Kleingruppen bezeichnet; als grober Richtwert gilt eine Mitgliederzahl von höchstens 25 Personen. Außerhalb der Soziologie, etwa in der Sozialpsychologie, wird auch bei sehr viel größeren Gruppen noch von sozialen Gruppen gesprochen.

Eine soziologische Definition von Friedhelm Neidhardt lautet: „Gruppe ist ein soziales System, dessen Sinnzusammenhang unmittelbar durch diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist.“ Kennzeichen einer Gruppe ist häufig eine wiederkehrende Interaktion zwischen den Personen, jedoch nicht zwangsläufig. Ein sozial Handelnder (Akteur) gehört einer Gruppe an:

  • wenn er sich der Gruppe zugehörig fühlt,
  • wenn dieses Zugehörig­keitsgefühl von der Gruppe nicht zurückgewiesen wird.

Damit die erste Bedingung erfüllt sein kann, muss diese Gruppe mindestens in der Vorstellung eines Akteurs existieren. Sie kann dann als Bezugsrahmen für soziale Vergleiche dienen und so als seine Bezugsgruppe wirken, obwohl sie z. B. nicht nur aus lebenden Akteuren bestehen muss (z. B. „meine Sippe“) oder vielleicht überhaupt nichts davon weiß, dass sie als Bezugsgruppe wirkt (beispielsweise „alle Menschen mit Selbstachtung“). Um die Gruppenzugehörigkeit überhaupt dementieren zu können, muss darüber hinaus eine „Gruppe“ so etwas wie eine Gruppenidentität (Wir-Gefühl) entwickelt haben (siehe Eigengruppe).

Das Wir-Gefühl ist ein wesentlicher, konstituierender Ausgangsfaktor für den Erhalt und Bestand von Gruppen, denn dieses Gruppengefühl gründet in den Gefühlen von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Unmittelbare Interaktion eines Mitgliedes mit jedem anderen, Vertrautheit und Intimität gehören ebenso zu den Qualitäten der Gruppe.

Organisationspsychologie

In der Organisationspsychologie wird die Gruppe als Mehrzahl von Personen gesehen, die über eine längere Zeitspanne hinweg in direkter Interaktion zueinander stehen und durch ein Wir-Gefühl verbunden sind. Es bestehen Rollendifferenzierungen bzw, gemeinsame Normen, Werte und Ziele.[4] Soziale Gruppen können in formale und informelle Gruppen klassifiziert werden.[5]

  • Die formalen Gruppen werden von der Organisationsleitung nach den jeweiligen Erfordernissen und Zielsetzungen gebildet, um bestimmte, geplante und definierte Aufgaben auszuführen und Teilziele zu erreichen, beispielsweise Arbeitsgruppe, Team, Ausschuss bzw. Qualitätszirkel.
  • Die informelle Gruppe ist durch gefühlsmäßige Bindungen zwischen den Gruppenmitgliedern gekennzeichnet und haben damit von der formellen Organisation unabhängige Begründungen,[6] beispielsweise als Freundschaftsgruppe, aber auch als Clique. Sie befriedigen am Arbeitsplatz und in ihrer Freizeit soziale Bedürfnisse.

Für die Vorgesetzten als Gruppenleiter ist es im Rahmen der Teamführung bedeutsam zu wissen, welches Mitglied als informeller Gruppenführer agiert, wie die sozialen Gruppen die Kommunikation in der Organisation beeinflussen und ob es möglicherweise Konfliktpotential gibt.

Gruppenstruktur

Das soziale Zusammenleben innerhalb der Gruppe ist geprägt durch dauerhafte soziale Beziehungen und Kontakte, durch Eigen- und Zusammenhandeln, durch Einheit sozial Handelnder mit gemeinsamen Werten und Interessen, durch Unmittelbarkeit von Beziehungen, durch wechselseitige Wahrnehmung der Beteiligten, durch Anwesenheit und direkte Interaktion, sowie durch aufeinander abgestimmte soziale Rollen. Hiermit sind einige grundlegende, gruppensoziologische Merkmalbestimmungen genannt, die die Basis für die sozialen Prozesse innerhalb einer Gruppe ergeben und die im speziellen Sinne dann Gruppenprozesse genannt werden können. In der Interaktion der Individuen ergeben sie die Gruppendynamik.

Aufschlussreich sind bei der Untersuchung der Struktur zunächst die verschiedenen sozialen Rollen und Positionen (Status) in Hinblick auf die Verteilung von Macht, Kompetenz, Einfluss, Autorität oder anderer signifikanter Sozialressourcen. Wie auch der Blick auf Unterwerfung oder Anpassung als spezifische Verhaltensweisen, aus denen sich möglicherweise eine Hierarchie oder eine andere spezifische Struktur ergibt.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist das Innen-Außen-Verhältnis der Gruppe. Wie definiert sie sich nach innen als Gemeinschaft, z. B. über Inhalte, Gefühle, Rituale, Werte? Daraus folgt die Frage, wie sich die Gruppe überhaupt vom Umfeld, von anderen Gruppen (siehe Fremdgruppe) oder der Gesellschaft abgrenzt. Die mehr oder weniger klar definierte Art und Weise dieser Grenze stellt einen bestimmenden Analysefaktor dar.

Handeln und Verhalten in Gruppen

Menschen handeln oder verhalten sich in einer Gruppe anders als alleine (Beispiel: Gruppenpolarisierung, siehe auch Gruppendynamik).

Gruppen, Verhaltensweisen zwischen Gruppen (Intergruppenverhalten) und Verhaltensweisen von Individuen innerhalb von Gruppen (Intragruppenverhalten) sind der primäre Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie und spielen auch in der Soziologie eine Rolle, sowie, bezogen auf Gruppen in Organisationen, in der Organisationspsychologie.

Gruppengrößen

Für das Wohlfühlen in Gruppen, aber auch für deren Leistungsfähigkeit spielt die Größe eine entscheidende Rolle. Kleine Gruppen sind konfliktanfällig (beispielsweise die Dreiergruppe), zu große Gruppen (über zehn Teilnehmer) zerfallen häufig in Untergruppen. Es kann durchaus sinnvoll sein, von der „optimalen Gruppengröße von fünf Teilnehmern“ auszugehen.[7]

Rollen innerhalb von Gruppen

In der Regel kristallisieren sich innerhalb kurzer Zeit in den Gruppen einzelne Positionen heraus, die von einzelnen Gruppenmitgliedern eingenommen und unterschiedlich ausgefüllt werden (die soziale Rolle kann unterschiedlich gespielt werden) oder aber von den anderen Gruppenmitgliedern einem Individuum zugesprochen werden. Mit den meisten Rollen identifizieren sich einzelne Gruppenmitglieder bewusst oder unbewusst, zugesprochene Rollen werden von ihnen akzeptiert oder aber abgelehnt. Man kann sagen, dass die Rollenübernahme und -zuschreibung sozial ausgehandelt wird.

Empirische Beispiele:

  • Ein informeller Gruppenführer (instrumental leader) hat die Funktion, die Gruppe zusammenzuhalten, und bestimmt und koordiniert die Gruppenziele. In Gruppen, in denen es keinen offiziellen Gruppenleiter gibt, wetteifern meist der Beliebteste und der Normentreueste („Tüchtigste“)[8] um diese Position (nach George C. Homans sind beide sozialen Rollen unvereinbar).
    • Wer beliebt ist (emotional leader), hat die Funktion, die Gruppe zusammenzuhalten; er wird von allen gemocht und verkörpert die emotionale Seite der Gruppenbedürfnisse. Da er die 'Strenge' der Gruppenmaßstäbe gerade nicht verkörpert, ist er als Gruppenführer meist erfolglos, oder er wird unbeliebter und kann so seine ursprüngliche Rolle verlieren.
    • Wer tüchtig ist, verkörpert die normativen Ziele der Gruppe. Damit kann er nicht der Beliebteste sein: „Es recht zu machen jedermann ist eine Kunst, die keiner kann.“
  • Mitläufer orientieren sich am Gruppenleiter.
  • Der Opponent hat eine besondere Beziehung zum informellen Gruppenführer und hat als starkes Mitglied ebenfalls Leitungsqualitäten, ist jedoch nicht zum Führer gemacht worden und macht diesem (un)bewusst seine Position streitig. Der Opponent ist oft auch dafür verantwortlich, dass soziale Konflikte akut werden. Die dabei entstehenden Aggressionen richten sich nicht selten gegen schwächere Mitglieder. Im Kleinen spielt er die Rolle der „Gegenelite“ bei Vilfredo Pareto.
  • Der Opportunist kümmert sich vorrangig um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen in der sozialen Gruppe.
  • Der Sündenbock ist allgemein das schwächste Gruppenmitglied, und er wird verantwortlich gemacht, wenn die Gruppe ein Ziel nicht erreicht hat und die Nennung der genauen Ursache dessen einer sozialen Zensur unterliegt. Dieser Außenseiter nimmt einen niedrigen Gruppenrang ein (Unbeliebtheit bzw. Kasper), kann aber durchaus auch eine bessere Position in der Gruppe haben, z. B. als Berater mit einer wenig beliebten Rolle (Selbstausgrenzung).

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Putz-Osterloh, Wiebke: Sozialpsychologie der Schule und Familie, Universität Bayreuth, Wintersemester 2008/2009, S. 29
  2. Henri Tajfel, John C. Turner: The Social Identity Theory of Intergroup Behavior. In: William G. Austin, ‎Stephen Worchel (Hrsg.): Psychology of Intergroup Relations. 2. Auflage. Nelson-Hall, Chicago 1986, S. 7–24 (PDF-Datei; 746 kB; 18 Seiten auf uni-frankfurt.de); siehe auch Henri Tajfel: Social Identity and Intergroup Behaviour. In: Social Science Information. Band 13, April 1974, S. 65–93.
  3. Eintrag: Gruppe. In: Wilhelm Bernsdorf u. a. (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie. Band 2, Fischer, Frankfurt 1972, S. 314.
  4. Lutz von Rosenstiel: Organisationspsychologie. 6. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 288.
  5. Ansfried Beda Weinert: Organisations- und Personalpsychologie. 5., vollständig überarbeitete Auflage. Beltz, Weinheim/Basel 2004, ISBN 3-621-27490-1, S. 394–395.
  6. Horst-Joachim Rahn: Erfolgreiche Teamführung. 6. Auflage. Windmühle, Hamburg 2010, ISBN 978-3-937444-66-6, S. 10.
  7. Manfred Sader: Psychologie der Gruppe. 9. Auflage. Juventa, Weinheim/München 2008, ISBN 978-3-7799-0315-4, S. 62–80: Einzelheiten der Gruppenstruktur (erstveröffentlicht 1976).
  8. Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik. Die Kritik der Massenpsychologie. Durchgesehene und erweiterte Neuauflage. Hamburg 1971, ISBN 3-499-55038-5, S. 140 ff. (Erstveröffentlichung 1957).