Todesfall Mouhamed Dramé
Am 8. August 2022 kam der Senegalese Mouhamed Lamine Dramé infolge eines Polizeieinsatzes in der Dortmunder Nordstadt durch Schüsse eines Polizisten ums Leben. Die fünf mit Hinblick auf den Einsatz angeklagten Polizisten wurden erstinstanzlich am Ende eines einjährigen Strafprozesses im Dezember 2024 in allen Anklagepunkten freigesprochen.
Biografie Mouhamed Dramé
Mouhamed Lamine Dramé stammte aus einem Dorf der knapp 50.000 Einwohner umfassenden, landwirtschaftlich geprägten Gemeinde Ndiaffate im Département Kaolack im Senegal.[1] Diese liegt in direkter Nähe zur Großstadt Kaolack und zum Fluss Saloum. Im Alter von zwölf Jahren wurde Dramé von seinem Vater auf eine Koranschule im Nachbarland Guinea-Bissau geschickt. Über Dramés Alter existieren unterschiedliche Angaben. Während er selbst angab, 16 Jahre alt zu sein, recherchierte Spiegel TV, dass er „nicht 16, sondern wohl 25 Jahre alt war“.[2][3] Laut einer Akte des Jugendamts Dortmund habe sich Mouhamed Dramé eigenen Angaben nach Ende 2019 aus dem Senegal auf den Weg nach Europa begeben, um seine Familie finanziell zu unterstützen. Zusammen mit einem Freund, der bei Dramés Familie aufwuchs,[4] führte der Weg über Mali und Mauretanien nach Marokko. Ende 2021 fuhr er mit einem Boot von Marokko nach Spanien, wobei sein Begleiter im Mittelmeer unter unbekannten Umständen ertrunken sein soll.
Aus einer Unterkunft für Asylsuchende in Sevilla machte er sich, da es ihm „dort nicht gefallen habe“, mit dem Zug via Paris auf nach Deutschland.[5] Nach seiner illegalen Einreise im April 2022 machte Dramé mehrere falsche Angaben: So gab er an, malischer Staatsbürger zu sein, dass seine Mutter verstorben sei und er seinen Vater nie getroffen habe.[3] Reporter von Spiegel TV[3] und der Welt trafen Dramés Eltern im Senegal, die angaben, zehn Kinder zu haben.[6]
Zunächst hielt Dramé sich in Worms und Zornheim auf. In der Nacht des 3. Juli 2022 soll Dramé eine Fußgängerin bedrängt und gegen Münzen Sex verlangt haben. Er folgte ihr, als sie wegrannte, und flüchtete erst, nachdem die Frau die Polizei gerufen hatte. Dramé wurde wegen einer detaillierten Personenbeschreibung des Opfers am Mainzer Hauptbahnhof durch die Bundespolizei aufgegriffen.[6]
Schließlich kam Dramé nach Dortmund und war dort ab 1. August 2022 in der katholischen Jugendeinrichtung St. Elisabeth in der Nordstadt untergebracht. Am 6. August brachte man ihn aufgrund einer vermuteten Suizidabsicht in die LWL-Klinik Dortmund -Elisabeth-Klinik-, aus der er auf eigenen Wunsch einen Tag später wieder entlassen wurde.[5] Die behandelnde Ärztin beschrieb ihn als „sehr freundlich und kooperativ“ und erläuterte, dass er keine Suizidabsichten gehabt habe.[7] Ebenfalls zwei Tage vor seinem Tod wurde Dramé laut einem Chatverlauf bedrängt und darauf angesprochen, dass bei seiner Familie im Senegal noch kein Geld aus Deutschland von ihm eingetroffen sei.[4]
Dramé sprach, entgegen anderweitig lautenden ersten Schilderungen, gebrochen Deutsch sowie Französisch und die senegalische Landessprache Wolof.[5][8]
Polizeieinsatz und Tod
Am 8. August 2022 rief der Leiter einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt den Notruf wegen einer Suizidgefährdung des nach eigenen Angaben 16-jährigen Mouhamed Dramé. Als die Polizeibeamten in der Jugendhilfeeinrichtung erschienen, saß Dramé apathisch im Hof und richtete ein Küchenmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge gegen sich.[4] Zwölf Polizeibeamte waren vor Ort. Nach dem erfolglosen Einsatz von Pfefferspray (RSG8) soll er aufgestanden und sich auf die Beamten zubewegt haben, woraufhin zwei Polizeibeamte mit Tasern auf ihn schossen. Fast zeitgleich feuerte ein Polizist sechs Schüsse mit einer Maschinenpistole auf ihn. Getroffen von fünf Schüssen ging Dramé zu Boden, wo er von Polizisten fixiert wurde. Nach Angaben der Rettungssanitäter, die bereits vor den Schüssen vor Ort waren, war Dramé trotz der Schussverletzungen zunächst stabil und atmete selbständig, lediglich der Blutdruck sei nicht festzustellen gewesen. Im Rettungswagen habe er sich gewehrt und damit die notwendige Behandlung erschwert.[3][9] Sein Tod wurde erst „rund eineinhalb Stunden später“[10] im Krankenhaus festgestellt. Das Geschehen wurde von der Notrufleitstelle aufgezeichnet, da der Leiter der Jugendhilfe während des gesamten Einsatzes mit der Leitstelle telefonierte und der Polizei Fragen zu Dramé beantwortete.[11]
Die Bodycams der zwölf eingesetzten Polizisten waren alle ausgeschaltet,[5] was den Vorschriften entspricht; das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen verweist auf eine Dienstvorschrift, welche das Filmen „höchstpersönlicher Lebenssachverhalte“ (darunter Suizidversuche) nicht gestatte.[12]
Dramés Leichnam wurde auf Kosten der Stadt Dortmund nach Senegal überführt und in seinem Heimatdorf begraben.[13]
Reaktionen
Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Reul kündigte an, die Schusswaffengebräuche sowie sämtliche Zwangsmaßnahmen mit Todesfolge der letzten fünf Jahre darauf überprüfen zu lassen, ob sich aus diesen „Anhaltspunkte ergeben, die einen Anpassungsbedarf in der Aus- und Fortbildung nahelegen“. Auch kündigte er an, einen unabhängigen Polizeibeauftragten zu installieren.[14][15]
Eine Petition mit über 30.000 Unterschriften forderte eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Polizeieinsatzes.[5]
Vier Tage nach Dramés Tod kamen rund 500 Menschen zur Trauerfeier in den Innenhof der Abu-Bakr-Moschee, darunter der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD). Nach der Trauerfeier folgte eine Demonstration auf dem Friedensplatz gegen Polizeigewalt und Rassismus. Es gab Rufe „Justice for Mouhamed“.[16]
Prozess
Am 19. Dezember 2023 begann vor dem Landgericht Dortmund der Prozess gegen fünf der zwölf am Einsatz beteiligten Polizisten. Drei der Polizisten, die das Pfefferspray und die Taser eingesetzt hatten, wurden wegen gefährlicher Körperverletzung, der Einsatzleiter wegen Anstiftung dazu sowie der als Sicherungsschütze eingeteilte Polizist wegen Totschlags angeklagt. Letzterer hatte mit einer Maschinenpistole HK MP5 die tödlichen Schüsse abgegeben.[11]
Die Staatsanwaltschaft forderte in ihrem Plädoyer im Dezember 2024 für den Dienstgruppenführer, der den Einsatz vor Ort führte, eine Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung. Er habe den Einsatz von Pfefferspray angeordnet. Dies wertete die Staatsanwaltschaft „als Verleitung einer untergebenen Person zur gefährlichen Körperverletzung im Amt“. Für die anderen vier Angeklagten forderte man einen Freispruch. So habe der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, in Putativnotwehr gehandelt.[17] Die Verteidiger der fünf Angeklagten plädierten auf einen Freispruch.
Am 12. Dezember 2024 wurden alle angeklagten Polizisten vom Gericht freigesprochen. Die Richter sahen keine Straftat vorliegen; sowohl der Schütze als auch der Einsatzleiter hätten rechtmäßig gehandelt, so das Gericht. Sie hätten davon ausgehen müssen, in Gefahr zu sein, da Dramé sich mit dem Messer auf sie zu bewegte. Nach Ansicht des Gerichts habe Dramé allerdings nicht die Polizisten angreifen, sondern vor dem eingesetzten Pfefferspray flüchten wollen. Den Einsatz von Pfefferspray gegen Dramé bewertete das Gericht als rechtmäßig und als das einzig geeignete Vorgehen.[18] Mouhameds Brüder Sidy und Lassana Dramé, die sich seit Januar 2024 über Spenden finanziert[3] in Dortmund aufhielten und im Prozess als Nebenkläger aufgetreten waren, zeigten sich schockiert über das Urteil. Aktivisten riefen im Zuschauerbereich nach dem Urteil „Justice for Mouhamed - Das war Mord“. Justizbeamte forderten sie auf, den Gerichtssaal zu verlassen.[19] Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.[2][20]
Am Abend des Urteils gab es eine spontane Demonstration von rund 300 Menschen in der Dortmunder Nordstadt, die „Gerechtigkeit für Mouhamed Dramé“ forderten.[18] Am 14. Dezember demonstrierten etwa 1200 Menschen gegen das Urteil in der Dortmunder Innenstadt. Auf Transparenten und Flugblättern forderten sie „Gerechtigkeit und Solidarität für alle von der Polizei getöteten Geflüchteten“. Ein Mitglied des Landesvorstandes von Die Linke Nordrhein-Westfalen sprach von Polizeigewalt.[21]
Die Staatsanwaltschaft legte Revision zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe gegen den Freispruch des Einsatzleiters ein.[22]
Weblinks
- Mouhamed Dramé — Wenn die Polizei tötet, siebenteilige Podcast-Reihe, WDR, ARD-Audiothek
Einzelnachweise
- ↑ Plan de riposte à la COVID-19 dans la Commune de Ndiaffate. (PDF; 2,28 MB) Brève présentation de la Commune de Ndiaffate. Aissatou Ndiaye Tall, Bürgermeister von Ndiaffate; UNDP Büro Senegal, August 2020, S. 13, abgerufen am 15. Dezember 2024 (französisch).
- ↑ a b Stephan Uersfeld: Prozess um Polizeischüsse endet mit Freisprüchen. In: n-tv.de. 12. Dezember 2024, abgerufen am 12. Dezember 2024.
- ↑ a b c d e Tod nach Polizeieinsatz: Der Fall Mouhamed Dramé. Spiegel TV vom 14. Oktober 2024, abgerufen am 17. Oktober 2024.
- ↑ a b c Axel Spilcker: Polizist erschoss Flüchtling (16) - zwei Tage vor seinem Tod erhielt der eine Mahnung. In: Focus Online. 19. Dezember 2023, abgerufen am 14. Dezember 2024.
- ↑ a b c d e Tödliche Staatsgewalt. In: taz.de. 19. August 2022, abgerufen am 1. April 2024.
- ↑ a b Fall Mouhamed Dramé: Konnte der Migrant die Polizisten nicht verstehen? Jetzt wachsen Zweifel. Die Welt, 17. Mai 2024, abgerufen am 17. Mai 2024.
- ↑ Martin von Braunschweig: RN+ Psychiaterin untersuchte Mouhamed Dramé am Tag vor tödlichen Schüssen: Ärztin sah keine Suizidgedanken. 20. Juni 2024, abgerufen am 13. Dezember 2024 (deutsch).
- ↑ Erschossener Senegalese: „Mouhamed, das Messer legst du aber weg!“ Die Welt, abgerufen am 15. Oktober 2024.
- ↑ Rettungssanitäter sagen im Fall Mouhamed Dramé aus. Westdeutscher Rundfunk Köln, 3. April 2024, abgerufen am 17. Mai 2024.
- ↑ „Dann sah ich mich dazu veranlasst, Schüsse abzugeben“. t-Online, 22. Mai 2024, abgerufen am 22. Mai 2024.
- ↑ a b Tödliche Polizeischüsse: Prozess gegen Polizisten beginnt - tagesschau.de
- ↑ Nach Polizeieinsatz in Dortmund - FDP fordert grundsätzlichen Einsatz von Bodycams. Kölner Stadt-Anzeiger, 16. August 2022, abgerufen am 18. Mai 2024.
- ↑ Erschossener Dramé im Senegal beigesetzt. In: jungewelt.de. 20. August 2022, abgerufen am 4. April 2024.
- ↑ Text: Anna Fischhaber, Lena Kampf, Svenja Schlicht, Nadja Tausche, Ralf Wiegand, Illustration: Stefan Dimitrov: Tödlicher Einsatz. Süddeutsche Zeitung, 18. November 2022, abgerufen am 17. Dezember 2022.
- ↑ Aaron Wörz: Wieso starb Mouhamed D.? taz, 11. August 2022, abgerufen am 17. Dezember 2022.
- ↑ Gedenkfeier für von Polizei erschossenen 16-Jährigen bis auf Zwischenrufe ruhig. welt.de, 14. August 2022, abgerufen am 1. April 2024.
- ↑ Staatsanwaltschaft fordert Freispruch für Polizisten im Mouhamed-Dramé-Prozess. Die Welt, 2. Dezember 2024, abgerufen am 13. Dezember 2024.
- ↑ a b David Peters: Freispruch für alle Polizisten im Fall Mouhamed Dramé. In: wdr.de, 12. Dezember 2024, abgerufen am 13. Dezember 2024.
- ↑ Freispruch für alle Polizisten im Fall Mouhamed Dramé. 1.wdr.de, 14. Dezember 2024, abgerufen am 12. Dezember 2024.
- ↑ Polizeigewalt vor dem LG Dortmund. Fünf Freisprüche im Fall Dramé. Legal Tribune Online (LTO), 12. Dezember 2024, abgerufen am 13. Dezember 2024.
- ↑ 1200 Menschen protestieren in Dortmund gegen Freisprüche für Polizisten. rp-online.de, 14. Dezember 2024, abgerufen am 14. Dezember 2024.
- ↑ Dramé-Prozess: BGH soll Freispruch für Einsatzleiter prüfen. Die Welt, 16. Dezember 2024, abgerufen am 16. Dezember 2024.