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„Stochastische Analysis“ – Versionsunterschied

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Kleinigkeiten
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== Literatur ==
== Literatur ==


=== Allgemeine Lehrbücher ===
* Thomas Deck: ''Der Itô-Kalkül. Einführung und Anwendungen.'' Springer, Berlin/ Heidelberg 2006, ISBN 3-540-25392-0.

* Fima C. Klebaner: ''Introduction to Stochastic Calculus with Applications.'' 3. Auflage. Imperial College Press, London 2012, ISBN 978-1-84816-831-2.
* {{Literatur| Autor=Samuel N. Cohen, Robert J. Elliott| Titel=Stochastic Calculus and Applications| Verlag=Springer|Auflage=2. |Ort=New York u. a.| Jahr=2015| ISBN=978-1-4939-2866-8}}
* Philip E. Protter: ''Stochastic integrals and differential equations.'' 2. Auflage. Version 2.1, Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-00313-4.
* {{Literatur| Autor=Thomas Deck| Titel=Der Itô-Kalkül: Einführung und Anwendungen| Verlag=Springe| Ort=Berlin u. a.| Jahr=2006| ISBN=3-540-25392-0}}
* Daniel Revuz, Marc Yor: ''Continuous Martingales and Brownian Motion.'' 3. Auflage. Springer, Berlin 1999, ISBN 3-540-64325-7.
* {{Literatur| Autor=[[Richard Durrett]]| Titel=Stochastic Calculus – A Practical Introduction| Verlag=CRC Press| Ort=Boca Raton u. a.| Jahr=1996| ISBN=0-8493-8071-5}}
* {{Literatur| Autor=Wolfgang Hackenbroch, Anton Thalmaier| Titel=Stochastische Analysis – Eine Einführung in die Theorie der stetigen Semimartingale| Verlag=Springer Fachmedien| Ort=Wiesbaden| Jahr=1994| ISBN=978-3-519-02229-9}}
* {{Literatur| Autor=Fima C. Klebaner| Titel=Introduction to Stochastic Calculus with Applications| Auflage=3.| Verlag=Imperial College Press| Ort=Londin| Jahr=2012| ISBN=978-1-84816-831-2}}
* {{Literatur| Autor=[[Jean-François Le Gall]]| Titel=Brownian Motion, Martingales, and Stochastic Calculus| Verlag=Springer| Ort=Berlin/Heidelberg| Jahr=2013| ISBN=978-3-319-31088-6}}
* {{Literatur| Autor=Philip E. Protter| Titel=Stochastic Integrals and Differential Equations| Auflage=2. (Version 2.1)| Verlag=Springer| Ort=Berlin u. a.| Jahr=2005| ISBN=3-540-00313-4}}

=== Lehrbücher mit Schwerpunkt Finanzmathematik ===

* {{Literatur| Autor=[[Albrecht Irle]]| Titel=Finanzmathematik: Die Bewertung von Derivaten| Auflage=3.|Verlag=Springer Spektrum| Ort=Wiesbaden| Jahr=2012| ISBN=978-3-8348-1574-3}}
* {{Literatur| Autor=Andrea Pascucci| Titel=PDE and Martingale Methods in Option Pricing| Verlag=Springer| Ort=Mailand u. a.| Jahr=2011| ISBN=978-88-470-1780-1}}
* {{Literatur| Autor=Stefan Reitz| Titel=Mathematik in der modernen Finanzwelt: Derivate, Portfoliomodelle und Ratingverfahren| Verlag=Vieweg+Teubner| Ort=Wiesbaden| Jahr=2011| ISBN=978-3-8348-0943-8}}
* {{Literatur| Autor=J. Michael Steele| Titel=Stochastic Calculus and Financial Applications| Verlag=Springer| Ort=New York| Jahr=2001| ISBN=0-387-95016-8}}


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 16. September 2016, 10:54 Uhr

Die stochastische Analysis ist ein Teilgebiet der Mathematik, genauer der Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie beschäftigt sich mit der Verallgemeinerung von Begriffsbildungen, Aussagen und Modellen der Analysis auf stochastische Prozesse, also auf Funktionen, deren Werte zufällig sind. Im Zentrum der stochastischen Analysis steht die Formulierung und Untersuchung von stochastischen Integralen und, darauf aufbauend, von stochastischen Differentialgleichungen.

Anwendungen finden sich vor allem bei der Modellierung von Prozessen in der Finanzmathematik, aber auch in der Biologie und Physik. Ein prominentes Beispiel ist die Modellierung von Aktienkursentwicklungen, die sich mit Hilfe stochastischer Differentialgleichungen studieren lassen.

Einführung

Die stochastische Analysis hat Anwendungen in zahlreichen wissenschaftlichen Fachgebieten. Besonders elementar und klar treten ihre Begrifflichkeiten bei ihrem Hauptanwendungsgebiet, der Finanzmathematik, zu Tage. Dazu werden im Folgenden konkret die Vorgänge beim Handel mit einer Aktie beschrieben. Die Überlegungen sind aber so allgemein, dass sie auf jedes Wirtschaftsgut angewendet werden können, dessen Preis sich im Laufe der Zeit ändert und das in beliebigen Mengen ge- und verkauft werden kann.

Vom Gewinn bei einer Aktie zum stochastischen Integral

Der Gewinn (oder Verlust) beim Besitz von Aktienanteilen innerhalb eines bestimmten Zeitraums hängt auf offensichtliche Weise davon ab, wie viele Anteile man von der Aktie besitzt und wie sich ihr Preis, der Börsenkurs, in diesem Zeitraum ändert. Kauft man beispielsweise Anteile einer Aktie mit Anfangskurs und steigt der Kurs (etwa innerhalb eines Tages) auf so beträgt der Gewinn (gerundet)

Nach diesem Tag könnten weitere Anteile der Aktie gekauft oder verkauft werden, sodass man nun Anteile besitzt, also zum Beispiel , wenn man noch eine ganze Aktie hinzukauft. Fällt daraufhin der Aktienkurs bis zum folgenden Tag auf , berechnet sich der Gesamtgewinn innerhalb der zwei Tage zu

.

Es ist somit im betrachteten Zeitraum ein negativer Gewinn, also ein Verlust eingetreten. Allgemein ist der Gesamtgewinn nach Zeitabschnitten die Summe der Teilgewinne jedes einzelnen Abschnitts:

.

Dabei ist die Kursänderung im -ten Zeitabschnitt und gibt an, wie viele Anteile der Aktie der Aktionär in diesen Zeitraum besitzt.

Die Analysis kommt bei diesen elementaren Überlegungen ins Spiel, wenn nicht mehr nur eine Folge diskreter Handelszeitpunkte, sondern alle Zeitpunkte aus einem Zeitintervall betrachtet werden. Eine Aktie hat zu jeder Zeit einen Kurs , der sich im Allgemeinen „ständig ändert“. Auch die gehaltenen Anteile können in idealisierter Weise als ein sich kontinuierlich ändernder Prozess, der sogenannte Portfolioprozess, angesehen werden. Der Gesamtgewinn während des Zeitintervalls kann dann allerdings nicht mehr durch die oben dargestellte einfache Summierung endlich vieler Teilgewinne bestimmt werden. Er ergibt sich stattdessen durch Integration des Portfolioprozesses gewichtet mit den Änderungen des Aktienkurses, in Symbolen

.

Eine Grundaufgabe der stochastischen Analysis ist es, solche stochastischen Integrale für möglichst allgemeine Integranden und Integratoren mathematisch zu definieren und ihre Eigenschaften zu untersuchen.

Von einem Modell für den Aktienkurs zu stochastischen Differentialgleichungen

Die Überlegungen, die zu obiger Darstellung des Gewinns als ein stochastisches Integral führen, sind so allgemein, dass sie sinngemäß für beliebige zeitlich veränderliche Größen durchgeführt werden können. Im konkreten Beispiel des Aktienhandels stellt sich daher die Frage, wie ein mathematisches Modell für die zeitliche Entwicklung des Kurses aussehen könnte. Reale Kursverläufe scheinen sich „zufällig“ auf und ab zu bewegen. Aus Sicht der Mathematik ist es also naheliegend jedes als eine Zufallsvariable zu modellieren, also als eine Funktion, die jedem Ergebnis eines (abstrakten) Zufallsexperiments den Wert zuordnet. Der Aktienkurs hängt dann sowohl vom Zeitpunkt als auch von dem Zufallsergebnis ab: Er ist ein stochastischer Prozess.

Der australische Aktienindex All Ordinaries zeigt über den Zeitraum von 1875 bis 2013 ein ausgeprägtes exponentielles Wachstum

In der Realität erscheinen Aktienkurse zwar zufällig, sind aber nicht völlig regellos. Über längere Zeiträume „ungestörte“ Kursverläufe weisen im Allgemeinen als Grundtendenz ein exponentielles Wachstum auf, steigen also beispielsweise von Jahr zu Jahr um einige Prozent. Das zeigt sich normalerweise noch deutlicher bei Aktienindizes, bei denen über eine Anzahl von Einzelkursen gemittelt wird, wie etwa – in besonders ausgeprägter Weise – in der nebenstehenden Grafik des australischen Aktienindex All Ordinaries. Ein völlig ungestörtes exponentielles Wachstum von würde bedeuten, dass die Änderung in einem kurzen Zeitraum proportional zu und zu ist:

mit einer Wachstumsrate . Bei einem Sparguthaben wäre dies das übliche exponentielle Wachstum durch Zinseszins. Bei Aktien wird dieses Wachstumsgesetz hingegen in der Realität offenbar durch eine komplizierte Zufallsbewegung überlagert. Die Statistik und die Wahrscheinlichkeitstheorie legen es nahe, bei zufälligen Störungen, die sich aus vielen kleinen Einzeländerungen zusammensetzen, von einer Normalverteilung als einfachstem Modell auszugehen. Außerdem zeigt sich, dass die Varianz der Störungen proportional zum betrachteten Zeitraum ist. Der Wiener-Prozess besitzt alle diese gewünschten Eigenschaften, eignet sich also als ein Modell für die zeitliche Entwicklung der Zufallskomponente des Aktienkurses. Insgesamt führen diese Überlegung zu folgender Modellgleichung für die Änderung in einem Zeitintervall :

Dabei ist die Änderung des Wiener-Prozesses im betrachteten Zeitraum und eine Proportionalitätskonstante, die modelliert, wie stark sich die Zufallskomponente auf die Kursänderung auswirkt.

Das weitere Vorgehen der klassischen Analysis wäre nun, das Zeitintervall gegen null konvergieren zu lassen und so eine gewöhnliche Differentialgleichung für die gesuchte Funktion zu gewinnen. Das ist hier auf diese Weise nicht möglich, denn wie sich herausstellt sind weder die Pfade des Wiener-Prozesses noch des gesuchte Aktienkursprozesses differenzierbar, lassen sich also nicht durch klassische Differentialrechnung untersuchen. Stattdessen erhält man eine stochastische Differentialgleichung, die meist in der Form

geschrieben wird. Die dabei verwendeten Differentiale sind ein reiner Notationsbestandteil und es ist Aufgabe der stochastischen Analysis solchen Gleichungen erst einen mathematischen Sinn zu geben. Das gelingt durch die Beobachtung, dass wegen des Fundamentalsatzes der Analysis Beziehungen zwischen einer differenzierbaren Funktion und ihrer Ableitung auch mithilfe ihres Integrals geschrieben werden können. Entsprechend ist eine stochastische Differentialgleichung nur eine intuitive Schreibweise einer Integralgleichung mit einem stochastischen Integral. Die stochastische Analysis beschäftigt sich unter anderem mit den Fragen, unter welchen Voraussetzungen stochastische Differentialgleichungen eindeutig lösbar sind und welche analytischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Eigenschaften die Lösungen haben. Für einige einfache Typen stochastischer Differentialgleichungen gibt es Methoden, um die Lösungen explizit zu berechnen. So hat zum Beispiel die oben hergeleitete Gleichung für den Aktienkurs als Lösung die sogenannte geometrische brownsche Bewegung. Wie es aber auch schon bei gewöhnlichen Differentialgleichungen der Fall ist, können bei vielen stochastischen Differentialgleichungen die Lösungen nur numerisch berechnet werden.

Geschichte

Die Anfänge: Mathematische Modelle für die brownsche Bewegung

Brownsche Bewegung der Fetttröpfchen in Milch

Als brownsche Bewegung wird das physikalische Phänomen bezeichnet, dass kleine Partikel, die in einer Flüssigkeit oder in einem Gas schweben, sich auf eine unregelmäßig und zufällig erscheinende Art „zitternd“ bewegen. Sie ist nach dem Botaniker Robert Brown benannt, der sie 1827 zuerst bei der mikroskopischen Untersuchung von Pollenkörnern in einem Wassertropfen beobachtete und beschrieb. In der Folgezeit zeigten Experimente, dass die physikalische Ursache der brownschen Bewegung in der Wärmebewegung der Flüssigkeitsmoleküle liegt. Diese stoßen ständig gegen die viel größeren Partikel und versetzen sie dadurch selbst in eine unregelmäßige Bewegung.[1]

Eine zu ihrer Zeit wissenschaftlich nur wenig beachtete frühe Anwendung der brownschen Bewegung in der Finanzmathematik untersuchte der französische Mathematiker Louis Bachelier, der im Jahr 1900 mit der Hilfe von Zufallsbewegungen versuchte, die Aktienkurse an der Pariser Börse zu modellieren und damit Preisformeln für Optionsscheine herzuleiten. Er nahm damit zahlreiche Ideen aus dem erst 73 Jahre später vorgestellten berühmten Black-Scholes-Modell vorweg.[1]

Albert Einstein (1905)

Die brownsche Bewegung gelangte wieder in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, als Albert Einstein 1905, also in seinem annus mirabilis, ein mathematisches Modell für das physikalische Phänomen vorstellte. Er nahm darin an, dass die brownsche Bewegung – in moderner Sprechweise – ein stochastischer Prozess mit stetigen Pfaden und unabhängigen normalverteilten Zuwächsen ist, also grundlegende und aus physikalischer Sicht sinnvolle Bedingungen erfüllt. Andere, physikalisch ebenso notwendige Bedingungen setzte er nicht jedoch voraus, vor allem nicht, dass ein Teilchen in einem festen Zeitraum nur eine endliche Wegstrecke zurücklegen kann, die sogenannte Rektifizierbarkeit der Pfade. Da 1905 die maßtheoretische Fundierung der Wahrscheinlichkeitstheorie durch Émile Borel und Henri Lebesgue gerade erst begonnen hatte, konnte Einstein allerdings nicht beweisen, dass sein Modell als ein mathematisches Objekt tatsächlich existiert.[2]

Eine mathematische Konstruktion des einsteinschen Modells gelang erst 1923 dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener. Er verwendete dazu einen 1913 von Percy John Daniell entwickelten Zugang zur Maßtheorie sowie die Theorie der Fourier-Reihen. Bei der Untersuchung der Eigenschaften dieses, ihm zu Ehren auch Wiener-Prozess genannten, Modells zeigte sich unter anderem, dass dessen Pfade nicht rektifizierbar sind. So stellte sich im Nachhinein heraus, dass Einstein genau die „richtigen“ Eigenschaften in seinem Modell ausgewählt hatte; mit der zusätzlichen Annahme der Rektifizierbarkeit hätte es mathematisch gar nicht existiert.[3]

In Jahr 1931 fand der sowjetische Mathematiker Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow eine Möglichkeit zur Untersuchung stochastischer Prozesse mit Hilfe der Analysis. Er betrachtete Verallgemeinerungen des Wiener-Prozesses, die sogenannten Markow-Prozesse, und entwickelte eine Theorie zur ihrer Beschreibung. Er zeigte, dass sich diese Prozesse stets in einen nichtzufälligen Drift-Term und in einen rein stochastischen Anteil zerlegen lassen, und stellte einen Zusammenhang zwischen ihren Wahrscheinlichkeitsverteilungen und bestimmten partiellen Differentialgleichungen, den Kolmogorow-Gleichungen, dar. Kolmogorow verwendete dabei stets Methoden der klassischen Analysis; eine Verallgemeinerung von Integral- und Differentialrechnung hin zu einer „stochastischen Analysis“ fand sich bei ihm noch nicht.[3]

Der Ansatz von Itō und die weitere Entwicklung

Kiyoshi Itō

Am Beginn der stochastischen Analysis steht eine Arbeit des japanischen Mathematikers Kiyoshi Itō (1915–2008) aus dem Jahr 1944 mit dem schlichten Titel Stochastic Integral. Itō, der damit als der Begründer des Fachgebiets gilt, konstruierte darin eine allgemeine stochastische Differentialgleichung zur Untersuchung von Markow-Prozessen. Den dabei auftretenden stochastischen Differentialen gab er einen Sinn durch die Konstruktion eines neuen Integralbegriffs für stochastische Prozesse, des Itō-Integrals. In seinen folgenden Arbeiten stellte er zudem eine Verbindung zu Kolmogorows Ergebnissen her, indem er bewies, dass die Lösungen seiner stochastischen Differentialgleichung die Kolmogorow-Gleichungen erfüllen. Dazu veröffentlichte er 1951 eines der grundlegendsten Ergebnisse der stochastischen Analysis, die Itō-Formel. Diese verallgemeinert die Kettenregel, die Produktregel, die Substitutionsregel und die partielle Integration der klassischen Anaylsis auf stochastische Differentiale bzw. Integrale von sogenannten Itō-Prozessen.[4]

Itōs Arbeiten stellten damit den Startpunkt einer raschen Entwicklung des Fachgebiets dar, die auch heute noch anhält. Wie sich allerdings im Jahr 2000 herausstellte, hatte der deutsch-französische Mathematiker Wolfgang Döblin bereits 1940 zahlreiche von Itōs Ideen vorweggenommen. Weil Döblin, der für Frankreich im Zweiten Weltkrieg kämpfte, seine Arbeit in einem versiegelten Umschlag an die Pariser Académie des sciences schickte, seine Notizen verbrannte und anschließend Suizid beging, um der Gefangennahme durch die deutsche Wehrmacht zu entgehen, wusste jedoch 60 Jahre lang niemand von Döblins Resultaten.[5]

In der Folgezeit von Itōs Arbeiten lag der Schwerpunkt der mathematischen Forschung auf Verallgemeinerungen seiner Ergebnisse. Joseph L. Doob erweiterte 1953 in seinem einflussreichen Buch über stochastische Prozesse Itōs Integral vom Wiener-Prozess auf Prozesse mit unkorrelierten Zuwächsen. Doob beschäftigte sich zudem mit der Fragestellung, wie sein Zerlegungssatz für diskrete Prozesse auf den zeitkontinuierlichen Fall verallgemeinert werden kann. Dieses Problem wurde 1962 von Paul-André Meyer gelöst. Meyer zeigte, dass eine solche Zerlegung, die Doob-Meyer-Zerlegung, nur unter einer Zusatzbedingung, die er „Klasse (D)“ nannte, möglich ist.[6] Im Jahr 1970 verallgemeinerten Catherine Doléans-Dade und Meyer das Itō-Integral auf sogenannte Semimartingale als Integratoren, also auf stochastische Prozesse, die sich aus einem lokalen Martingal und einem Prozess mit lokal endlicher Variation zusammensetzen. Semimartingale sind gewisser Weise die allgemeinste Klasse von stochastischen Prozessen, für die sich ein sinnvoller Integralbegriff definieren lässt.

Aus Sicht der Anwendungen der stochastischen Analysis ist das historisch bedeutsamste Ergebnis das nach Vorarbeiten des Wirtschaftswissenschaftlers Paul A. Samuelson und des Mathematikers Henry McKean von Fischer Black, Myron S. Scholes und Robert C. Merton 1973 veröffentlichte Black-Scholes-Modell zur Bewertung von Finanzoptionen. Darin ist der Kurs der zugrunde liegenden Aktie durch die im Einführungsabschnitt dieses Artikels hergeleitete stochastische Differentialgleichung gegeben. Das Itō-Lemma angewendet auf den Preis einer Option als Funktion von Zeit und Aktienkurs führt dann zusammen mit einer ökonomischen Argumentation mittels eines Hedgegeschäfts auf eine bestimmte partielle Differentialgleichung, die Black-Scholes-Gleichung. Diese lässt sich explizit lösen und ergibt somit Formeln für den Wert von Kauf- und Verkaufsoptionen auf die Aktie. Scholes und Merton erhielten 1997 für ihre Leistungen den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften („Wirtschaftsnobelpreis“); Black war bereits zwei Jahre zuvor verstorben.

Literatur

Allgemeine Lehrbücher

  • Samuel N. Cohen, Robert J. Elliott: Stochastic Calculus and Applications. 2. Auflage. Springer, New York u. a. 2015, ISBN 978-1-4939-2866-8.
  • Thomas Deck: Der Itô-Kalkül: Einführung und Anwendungen. Springe, Berlin u. a. 2006, ISBN 3-540-25392-0.
  • Richard Durrett: Stochastic Calculus – A Practical Introduction. CRC Press, Boca Raton u. a. 1996, ISBN 0-8493-8071-5.
  • Wolfgang Hackenbroch, Anton Thalmaier: Stochastische Analysis – Eine Einführung in die Theorie der stetigen Semimartingale. Springer Fachmedien, Wiesbaden 1994, ISBN 978-3-519-02229-9.
  • Fima C. Klebaner: Introduction to Stochastic Calculus with Applications. 3. Auflage. Imperial College Press, Londin 2012, ISBN 978-1-84816-831-2.
  • Jean-François Le Gall: Brownian Motion, Martingales, and Stochastic Calculus. Springer, Berlin/Heidelberg 2013, ISBN 978-3-319-31088-6.
  • Philip E. Protter: Stochastic Integrals and Differential Equations. 2. (Version 2.1) Auflage. Springer, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-540-00313-4.

Lehrbücher mit Schwerpunkt Finanzmathematik

  • Albrecht Irle: Finanzmathematik: Die Bewertung von Derivaten. 3. Auflage. Springer Spektrum, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-8348-1574-3.
  • Andrea Pascucci: PDE and Martingale Methods in Option Pricing. Springer, Mailand u. a. 2011, ISBN 978-88-470-1780-1.
  • Stefan Reitz: Mathematik in der modernen Finanzwelt: Derivate, Portfoliomodelle und Ratingverfahren. Vieweg+Teubner, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-8348-0943-8.
  • J. Michael Steele: Stochastic Calculus and Financial Applications. Springer, New York 2001, ISBN 0-387-95016-8.

Einzelnachweise

  1. a b Robert Jarrow, Philip Protter: A short history of stochastic integration and mathematical finance the early years, 1880–1970. In: IMS Lecture Notes Monograph. Band 45, 2004, S. 1 (PDF-Datei).
  2. Robert Jarrow, Philip Protter: A short history of stochastic integration and mathematical finance the early years, 1880–1970. In: IMS Lecture Notes Monograph. Band 45, 2004, S. 1–2 (PDF-Datei).
  3. a b Robert Jarrow, Philip Protter: A short history of stochastic integration and mathematical finance the early years, 1880–1970. In: IMS Lecture Notes Monograph. Band 45, 2004, S. 2 (PDF-Datei).
  4. Robert Jarrow, Philip Protter: A short history of stochastic integration and mathematical finance the early years, 1880–1970. In: IMS Lecture Notes Monograph. Band 45, 2004, S. 3–5 (PDF-Datei).
  5. Bernard Bru, Marc Yor: Comments on the life and mathematical legacy of Wolfgang Doeblin. In: Finance and Stochastics 6. Jg. (2002), S. 3–47, doi:10.1007/s780-002-8399-0
  6. Robert Jarrow, Philip Protter: A short history of stochastic integration and mathematical finance the early years, 1880–1970. In: IMS Lecture Notes Monograph. Band 45, 2004, S. 5–6 (PDF-Datei).

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