„Klaus Hurrelmann“ – Versionsunterschied

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== Wissenschaftliches Werk ==
== Wissenschaftliches Werk ==
Im Zentrum des wissenschaftlichen Werkes von Klaus Hurrelmann steht die [[Sozialisationstheorie]]. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Übertragung der Sozialisationstheorie auf Kindheit und Jugend, Bildung und Gesundheit.<ref>{{Literatur |Autor=Maik Philipp |Titel=Lesesozialisation in kindheit und Jugend : lesemotivation, Leseverhalten und lesekompetenz in familie, schule und peer-beziehungen |Auflage=1. Auflage |Ort=Stuttgart |Datum=2011 |ISBN=978-3-17-028118-9 |Online= |Abruf=}}</ref> Der theoretische Ansatz, den er für diese Forschungsthemen entwickelt hat, beeinflusst nicht nur die Soziologie, sondern auch Forschungsprojekte im Bereich der Pädagogik, Psychologie, Gesundheitswissenschaft und Sozialmedizin. Er leitete mehrere Projekte zur Rolle der familiären und schulischen Bedingungen für die Entwicklung von Persönlichkeit und Leistung, zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Gesundheit sowie zur Prävention von Risikoverhalten, insbesondere von Gewalt, Sucht und psychosomatischen Gesundheitsstörungen.<ref>{{Internetquelle |url=https://idw-online.de/en/news744317 |titel=Prof. Klaus Hurrelmann neuer Senior Expert beim FiBS |abruf=2022-11-23}}</ref>
Im Zentrum des wissenschaftlichen Werkes von Klaus Hurrelmann steht die [[Sozialisationstheorie]]. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Übertragung der Sozialisationstheorie auf Kindheit und Jugend, Bildung und Gesundheit.<ref>{{Literatur |Autor=Maik Philipp |Titel=Lesesozialisation in kindheit und Jugend : lesemotivation, Leseverhalten und lesekompetenz in familie, schule und peer-beziehungen |Auflage=1. Auflage |Ort=Stuttgart |Datum=2011 |ISBN=978-3-17-028118-9 |Online= |Abruf=}}</ref> Der theoretische Ansatz, den er für diese Forschungsthemen entwickelt hat, beeinflusst nicht nur die Soziologie, sondern auch Forschungsprojekte im Bereich der Pädagogik, Psychologie, Gesundheitswissenschaft und Sozialmedizin. Er leitete mehrere Projekte zur Rolle der familiären und schulischen Bedingungen für die Entwicklung von Persönlichkeit und Leistung, zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Gesundheit sowie zur Prävention von Risikoverhalten, insbesondere von Gewalt, Sucht und psychosomatischen Gesundheitsstörungen.<ref>{{Internetquelle |url=https://idw-online.de/en/news744317 |titel=Prof. Klaus Hurrelmann neuer Senior Expert beim FiBS |abruf=2022-11-23}}</ref>

=== Bildungsforschung ===
Hurrelmann startete seine wissenschaftliche Arbeit im Bereich der [[Bildungsforschung]]. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Ausgangsbedingungen für die Ungleichheit von [[Bildungschance|Bildungschancen]] zu analysieren. In seiner Dissertation „Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation“<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation Eine empirische Untersuchung z. Rolle d. Leistungsdifferenzierung im schul. Selektionsprozess. |Ort=Weinheim / Berlin / Basel |Datum=1971 |ISBN=978-3-407-19001-7 |Online= |Abruf=}}</ref> ging er in einer umfangreichen empirischen Studie der Frage nach, wie sich die Aufteilung von Schülern in Lerngruppen mit niedrigem, mittlerem und hohem Leistungsniveau nach unterschiedlichen Leistungsgruppen auf ihre schulische Leistung auswirkt. Die Erwartung, dass diese pädagogisch als „äußere Leistungsdifferenzierung“ bezeichnete Maßnahme die Schüler in der niveauschwächsten Gruppe aus den benachteiligten Elternhäusern stärkt und damit die Bildungsungleichheit verringert, erfüllt sich demnach nicht.<ref>{{Literatur |Titel=Bildungsverlierer Neue Ungleichheiten |Hrsg=Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann |Ort=Wiesbaden |Datum=2010 |ISBN=978-3-531-92576-9 |Seiten=578 |Online= |Abruf=}}</ref> Im Gegenteil fühlten sie sich durch die Trennung von den leistungsstärkeren Schülern abgesondert und stigmatisiert, und die Lehrkräfte unterforderten sie im Sinne einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“. Im Endeffekt sanken ihre schulischen Leistungen ab.<ref>{{Literatur |Autor=Uwe Engel |Titel=Psychosoziale Belastung im Jugendalter : Empirische Befunde zum Einfluss von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe |Ort=Berlin |Datum=2015 |ISBN=978-3-11-085809-9 |Seiten=199 |Online= |Abruf=}}</ref>

In seiner Habilitationsschrift „Erziehungssystem und Gesellschaft“<ref name=":3">{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Erziehungssystem und Gesellschaft |Auflage=[1.-10. Tsd.] |Verlag=Rowohlt |Ort=Reinbek bei Hamburg |Datum=1975 |ISBN=3-499-21070-3 |Online= |Abruf=}}</ref> hat Hurrelmann diese Erkenntnis auf die Struktur des gesamten Schulsystems übertragen. Seine Analyse zeigt, dass die in Deutschland übliche Aufteilung der Schülerschaft nach der Grundschule auf die drei unterschiedlichen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium mit unterschiedlichem Leistungsniveau und unterschiedlichen Abschlussperspektiven die Bildungsungleichheit verstärkt. Ein selektives Erziehungssystem wirkt demnach als „Vehikel der Reproduktion sozialer Ungleichheit“.<ref name=":3" />

Seit den 1980er Jahren plädiert Hurrelmann für leistungsheterogene Lerngruppen im Unterricht („innere Differenzierung“), verbunden mit einer Intensivierung der Elternarbeit, und für ein integriertes Schulsystem mit mehreren Bildungsgängen. In einem Offenen Brief an die 16 Schulministerien, veröffentlicht in Wochenzeitung [[Die Zeit]],<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Zwei Schulen für das eine Deutschland. Offener Brief an die Konferenz der Kultusminister: Schafft eine einheitliche Schulstruktur für die neue Bundesrepublik! |Sammelwerk=Die Zeit |Band= |Nummer=45 |Datum=1991-11-01 |ISSN=0044-2070 |DOI= |Seiten=64 |Online= |Abruf=}}</ref> hat er 1990 aus Anlass der Wiedervereinigung als ersten Reformschritt ein „Zwei-Wege-Modell für die Sekundarschule“ gefordert. Nach der Grundschule soll es demnach nur noch die Wahl zwischen zwei Schulformen geben: Die eine Schulform ist das Gymnasium, die zweite die integrierte Sekundarschule. Beide Schulformen sollen zu allen Schulabschlüssen einschließlich des Abiturs führen, aber dabei unterschiedliche pädagogische und didaktische Konzeptionen verfolgen.<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Kinder - Bildung - Zukunft drei Wege aus der Krise |Auflage=1. Aufl |Ort=Stuttgart |Datum=2011 |ISBN=978-3-12-920372-9 |Seiten=138 |Online= |Abruf=}}</ref>

Viele dieser Forderungen sind inzwischen politisch umgesetzt worden: Die Hauptschule wurde nach der Wiedervereinigung in keinem der ostdeutschen Bundesländer eingeführt, und auch in mehreren westlichen Bundesländern wurde diese Schulform eingestellt. An ihre Stelle sind Sekundarschulen mit mehreren Bildungsgängen getreten, die immer häufiger auch mit einer Gymnasialen Oberstufe ausgestattet werden. An diesen Schulen werden verschiedene Modelle der inneren Differenzierung praktiziert.<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Das Schulsystem in Deutschland: Das „Zwei- Wege-Modell setzt sich durch |Sammelwerk=Zeitschrift für Pädagogik |Band=59 |Nummer=Heft 4 |ISSN=0044-3247 |Seiten=455-468}}</ref> Trotz aller dieser Maßnahmen ist aber immer noch ein hohes Ausmaß von Bildungsungleichheit zu verzeichnen.<ref>{{Literatur |Autor=Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann, Springer Fachmedien Wiesbaden |Titel=Handbuch Bildungsarmut |Auflage=1. Auflage 2019 |Ort=Wiesbaden |Datum=2019 |ISBN=978-3-658-19573-1 |Online= |Abruf=}}</ref>

Auch die Kooperation zwischen Elternhaus und Schule wurde in den letzten zwanzig Jahren intensiviert. So sind mehrere Ansätze der „Bildungspartnerschaft“ umgesetzt worden.<ref>{{Literatur |Autor=Matthias Bartscher |Titel=Bildungs- und Erziehungspartnerschaften in Schulen Band 2 Beziehungen motivierend gestalten und inspirierend kommunizieren / Matthias Bartscher. |Band=Band 2 |Auflage=1. Auflage |Ort=Hannover |Datum=2021 |ISBN=978-3-7727-1524-2 |Online= |Abruf=}}</ref> Sie orientieren sich zum Teil an Ansätzen des „Elterntrainings“ mit der Vergabe eines symbolischen „Elternführerscheins“, an denen Hurrelmann als wissenschaftlicher Begleiter mitgewirkt hat. Dazu gehören die Trainingsprogramme „Systematisches Training für Eltern und Pädagogen“ STEP<ref>{{Internetquelle |url=https://www.instep-online.de/ |titel=STEP für Eltern und Pädagogen - STEP - Systematisches Training für Eltern und Pädagogen |abruf=2022-12-17}}</ref> und „Gesetze des Schulerfolgs“ GdS<ref>{{Internetquelle |url=https://www.aim-akademie.org/gesetze-des-schulerfolgs |titel=Die Gesetze des Schulerfolgs: Fortbildung für Eltern & Pädagog/-innen |sprache=de-DE |abruf=2022-12-17}}</ref>. Letzteres orientiert sich an der Typologie der Erziehungsstile mit dem „Magischen Erziehungsdreieck“ von Hurrelmann, bei dem es um die angemessene Dosierung der drei Impulse „Anerkennung“, „Anregung“ und „Anleitung“ geht.<ref name=":4" />

2021 hat Hurrelmann in seiner Eigenschaft als Senior Expert beim Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) maßgeblich dazu beigetragen, die „Cornelsen Schulleitungsstudie“ zu etablieren.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.cornelsen.de/schulleitungsstudie/zusammenfassung |titel=Zentrale Ergebnisse der Cornelsen Schulleitungsstudie 2022 |sprache=de |abruf=2022-12-17}}</ref> Die Studie baut auf einer regelmäßig wiederholten repräsentativen Befragung aller Schulleiterinnen und Schulleitern in Deutschland auf und soll dazu beitragen, dass ihre Initiativen zur Reform von Schule und Unterricht und insbesondere ihre Vorstellungen vom Abbau der Bildungsungleichheit in die öffentliche Diskussion getragen werden.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.cornelsen.de/presse/pressemitteilungen/cornelsen-schulleitungsstudie-erstmals-veroeffentlicht |titel=Cornelsen Schulleitungsstudie erstmals veröffentlicht |sprache=de |abruf=2022-12-17}}</ref>


=== Sozialisationsforschung ===
=== Sozialisationsforschung ===
Im Mittelpunkt von Hurrelmanns Sozialisationstheorie steht das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Er definiert Sozialisation als Persönlichkeitsentwicklung des Individuums, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ergibt. Die innere Realität eines Individuums wird durch körperliche und geistige Dispositionen und Eigenschaften gebildet, die äußere Realität durch die Eigenschaften der sozialen und physischen Umwelt. Die Verarbeitung der Realität ist produktiv, weil der Einzelne sein Leben aktiv lebt und versucht, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, denen er sich im Laufe seines Lebens stellen muss.<ref>{{Literatur |Autor=Mariana Durt |Titel=Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung [...] Lehrerband |Ort=Baltmannsweiler |Datum=2016 |ISBN=978-3-8340-1563-1 |Online= |Abruf=}}</ref>
Im Mittelpunkt von Hurrelmanns Sozialisationstheorie steht das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Er definiert Sozialisation als Persönlichkeitsentwicklung des Individuums, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ergibt. Die innere Realität eines Individuums wird durch körperliche und geistige Dispositionen und Eigenschaften gebildet, die äußere Realität durch die Eigenschaften der sozialen und physischen Umwelt. Die Verarbeitung der Realität ist produktiv, weil der Einzelne sein Leben aktiv lebt und versucht, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, denen er sich im Laufe seines Lebens stellen muss.<ref>{{Literatur |Autor=Mariana Durt |Titel=Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung [...] Lehrerband |Ort=Baltmannsweiler |Datum=2016 |ISBN=978-3-8340-1563-1 |Online= |Abruf=}}</ref>


1983 konzipierte er dafür das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ (abgekürzt MpR), das den konzeptionellen Rahmen für die Auswahl von Einzeltheorien aus Soziologie, Psychologie, Gesundheits- und [[Neurowissenschaften]] setzt.<ref>''Das Modell des produktiv realitätverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 3, 1983, S. 91-103''</ref> Dieses Modell dient als Ausgangspunkt für seine Forschung im Bereich von Kindheit, Jugend, jungem Erwachsenenalter und Generationenbeziehungen. Das MpR -Modell dient auch als Kristallisationspunkt für seine an die [[Salutogenese]] angelehnte Definition von Gesundheit und seine Forschungsarbeit in der Gesundheitsförderung und Prävention.<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Einführung in die Sozialisationstheorie das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung |Auflage=13. Auflage |Ort=Weinheim |Datum=2020 |ISBN=978-3-407-25843-4}}</ref> Kernannahme dieses Modells ist, dass sich die Persönlichkeit nicht unabhängig von der Gesellschaft in ihren Funktionen und Dimensionen ausbildet, sondern in einer konkreten, historisch vermittelten Lebenswelt über die gesamte Lebensspanne hinweg kontinuierlich gestaltet wird.<ref>{{Literatur |Autor=Andreas Spengler |Titel=Das Selbst im Netz : zum Zusammenhang von Sozialisation, Subjekt, Medien und ihren Technologien |Ort=Baden-Baden |Datum=2018 |ISBN=978-3-95650-387-0 |Seiten=98 |Online= |Abruf=}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Heinz Abels |Titel=Einführung in die Soziologie Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft |Auflage=5. Auflage 2019 |Ort=Wiesbaden |Datum=2019 |ISBN=978-3-658-22476-9 |Seiten=57 |Online= |Abruf=}}</ref> Der Mensch als autonomes Subjekt hat die lebenslange Aufgabe, die Prozesse der sozialen Integration und der persönlichen Individualisierung in Einklang zu bringen. Über die gesamte Lebensspanne hinweg bewältigt das Individuum diese Aufgabe in altersgemäßen, seinem Entwicklungsstand entsprechenden Schritten.<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Socialisation during the life course |Ort=London |Datum=2018 |ISBN=978-1-351-38457-5 |Online= |Abruf=}}</ref> Diese „Entwicklungsaufgaben“ sind: Bildung/Qualifikation, Bindung/Soziale Kontakte, Konsum/Regeneration und Partizipation/Wertorientierung. In diesem Sinne besteht die Sozialisation in einer komplexen kontinuierlichen Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.<ref>{{Literatur |Autor=Gudrun Quenzel, Gabriele Böheim-Galehr, StudienVerlag Ges.m.b.H. |Titel=Lebenswelten 2020 - Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg. |Auflage=Unter Mitarbeit von Katharina Meusburger, Martina Ott, Egon Rücker, Helga Kohler-Spiegel. mit zahlreichen farbigen Grafiken und Tabellen |Ort=Innsbruck |Datum=2021 |ISBN=978-3-7065-6169-3 |Online= |Abruf=}}</ref> Sie kann gelingen, aber unter ungünstigen Bedingungen auch scheitern. Das Scheitern führt zu Problemen mit der Identität, der Persönlichkeit und der Gesundheit.<ref>{{Literatur |Autor=Roger J. R. Levesque |Titel=Dangerous adolescents, model adolescents : shaping the role and promise of education |Verlag=Kluwer Academic/Plenum |Ort=New York |Datum=2002 |ISBN=0-306-47540-5 |Online= |Abruf=}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Richard M. Lerner, Anne C. Petersen, Rainer K. Silbereisen, Jeanne Brooks-Gunn |Titel=The developmental science of adolescence : history through autobiography |Verlag=Psychology Press |Ort=New York, NY |Datum=2014 |ISBN=978-1-136-67372-6 |Online= |Abruf=}}</ref>
1983 konzipierte er dafür das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ (abgekürzt MpR), das den konzeptionellen Rahmen für die Auswahl von Einzeltheorien aus Soziologie, Psychologie, Gesundheits- und [[Neurowissenschaften]] setzt.<ref>''Das Modell des produktiv realitätverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 3, 1983, S. 91-103''</ref> Dieses Modell dient als Ausgangspunkt für seine Forschung im Bereich von Kindheit, Jugend, jungem Erwachsenenalter und Generationenbeziehungen. Das MpR -Modell dient auch als Kristallisationspunkt für seine an die [[Salutogenese]] angelehnte Definition von Gesundheit und seine Forschungsarbeit in der Gesundheitsförderung und Prävention.<ref name=":4">{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Einführung in die Sozialisationstheorie das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung |Auflage=13. Auflage |Ort=Weinheim |Datum=2020 |ISBN=978-3-407-25843-4}}</ref> Kernannahme dieses Modells ist, dass sich die Persönlichkeit nicht unabhängig von der Gesellschaft in ihren Funktionen und Dimensionen ausbildet, sondern in einer konkreten, historisch vermittelten Lebenswelt über die gesamte Lebensspanne hinweg kontinuierlich gestaltet wird.<ref>{{Literatur |Autor=Andreas Spengler |Titel=Das Selbst im Netz : zum Zusammenhang von Sozialisation, Subjekt, Medien und ihren Technologien |Ort=Baden-Baden |Datum=2018 |ISBN=978-3-95650-387-0 |Seiten=98 |Online= |Abruf=}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Heinz Abels |Titel=Einführung in die Soziologie Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft |Auflage=5. Auflage 2019 |Ort=Wiesbaden |Datum=2019 |ISBN=978-3-658-22476-9 |Seiten=57 |Online= |Abruf=}}</ref> Der Mensch als autonomes Subjekt hat die lebenslange Aufgabe, die Prozesse der sozialen Integration und der persönlichen Individualisierung in Einklang zu bringen. Über die gesamte Lebensspanne hinweg bewältigt das Individuum diese Aufgabe in altersgemäßen, seinem Entwicklungsstand entsprechenden Schritten.<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Hurrelmann |Titel=Socialisation during the life course |Ort=London |Datum=2018 |ISBN=978-1-351-38457-5 |Online= |Abruf=}}</ref> Diese „Entwicklungsaufgaben“ sind: Bildung/Qualifikation, Bindung/Soziale Kontakte, Konsum/Regeneration und Partizipation/Wertorientierung. In diesem Sinne besteht die Sozialisation in einer komplexen kontinuierlichen Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.<ref>{{Literatur |Autor=Gudrun Quenzel, Gabriele Böheim-Galehr, StudienVerlag Ges.m.b.H. |Titel=Lebenswelten 2020 - Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg. |Auflage=Unter Mitarbeit von Katharina Meusburger, Martina Ott, Egon Rücker, Helga Kohler-Spiegel. mit zahlreichen farbigen Grafiken und Tabellen |Ort=Innsbruck |Datum=2021 |ISBN=978-3-7065-6169-3 |Online= |Abruf=}}</ref> Sie kann gelingen, aber unter ungünstigen Bedingungen auch scheitern. Das Scheitern führt zu Problemen mit der Identität, der Persönlichkeit und der Gesundheit.<ref>{{Literatur |Autor=Roger J. R. Levesque |Titel=Dangerous adolescents, model adolescents : shaping the role and promise of education |Verlag=Kluwer Academic/Plenum |Ort=New York |Datum=2002 |ISBN=0-306-47540-5 |Online= |Abruf=}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Richard M. Lerner, Anne C. Petersen, Rainer K. Silbereisen, Jeanne Brooks-Gunn |Titel=The developmental science of adolescence : history through autobiography |Verlag=Psychology Press |Ort=New York, NY |Datum=2014 |ISBN=978-1-136-67372-6 |Online= |Abruf=}}</ref>


In den Lehrbüchern „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“ und „Gesundheits- und Medizinsoziologie“ werden Hurrlemanns Ansätze ausformuliert. Diese Lehrbücher und sie ergänzende Handbücher wurden und werden von Klaus Hurrelmann seit vielen Jahren unter anderem zusammen mit Erik Albrecht, [[Sabine Andresen]], [[Ullrich Bauer]], [[Heidrun Bründel]], [[Gudrun Quenzel]], Katharina Rathmann und Matthias Richter permanent aktualisiert und weiterentwickelt.<ref>{{Literatur |Autor=Gerlinde Unverzagt |Titel=Kinder stark machen für das Leben : Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln. |Verlag=Kreuz Verlag |Ort=Freiburg |Datum=2014 |ISBN=978-3-451-80189-1}}</ref> Sie sind alle auch in englischer Sprache erschienen. Das MpR hat dadurch Eingang in zahlreiche schulische und hochschulische Lehrpläne gefunden und ist zum Beispiel in [[Nordrhein-Westfalen]] in den letzten Jahren Bestandteil der Abiturprüfungen in Pädagogik und Sozialwissenschaft.
In den Lehrbüchern „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“ und „Gesundheits- und Medizinsoziologie“ werden Hurrlemanns Ansätze ausformuliert. Diese Lehrbücher und sie ergänzende Handbücher wurden und werden von Klaus Hurrelmann seit vielen Jahren unter anderem zusammen mit Erik Albrecht, [[Sabine Andresen]], [[Ullrich Bauer]], [[Heidrun Bründel]], [[Gudrun Quenzel]], Katharina Rathmann und Matthias Richter permanent aktualisiert und weiterentwickelt.<ref>{{Literatur |Autor=Gerlinde Unverzagt |Titel=Kinder stark machen für das Leben : Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln. |Verlag=Kreuz Verlag |Ort=Freiburg |Datum=2014 |ISBN=978-3-451-80189-1}}</ref> Sie sind alle auch in englischer Sprache erschienen. Das MpR hat dadurch Eingang in zahlreiche schulische und hochschulische Lehrpläne gefunden und ist zum Beispiel in [[Nordrhein-Westfalen]] in den letzten Jahren Bestandteil der Abiturprüfungen in Pädagogik und Sozialwissenschaft.

Version vom 17. Dezember 2022, 16:25 Uhr

Klaus Hurrelmann (2020)

Klaus Hurrelmann (* 10. Januar 1944 in Gotenhafen) ist ein deutscher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler. Nach langjähriger Tätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin.

Biografie

Durch Flucht vor der nahenden Roten Armee gelangte Hurrelmann als Kleinkind mit seiner Mutter aus Gotenhafen, heute Gdynia bei Danzig, zunächst nach Leipzig. Nach der Rückkehr seines Vaters aus der Gefangenschaft Ende 1947 zog die Familie nach Norddeutschland, wo er in Nordenham aufwuchs. Sein Abitur machte er an der Humboldtschule Bremerhaven.[1]

Aus seiner ersten Ehe mit Bettina Hurrelmann (verstorben 2015), spätere Professorin für Germanistik an der Universität Köln, stammen ein Sohn und eine Tochter. In zweiter Ehe ist er verheiratet mit Doris Schaeffer, Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld.[2]

Ausbildung

Hurrelmann studierte an den Universitäten in Münster und Freiburg und der University of California in Berkeley (USA) Soziologie, Psychologie und Pädagogik. 1968 absolvierte er sein Diplom, 1971 die Promotion in Soziologie an der Universität Münster. Die Doktorarbeit hatte das Thema „Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation“. 1975 habilitierte er sich an der Universität Bielefeld mit der Arbeit „Erziehungssystem und Gesellschaft“.[3]

Berufsleben

Von 1968 bis 1970 war Hurrelmann Projektleiter der „Arbeitsgruppe Hauptschule“ an der Pädagogischen Hochschule in Münster. Von 1970 bis 1974 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld in der Fakultät für Soziologie mit den Arbeitsschwerpunkten Sozialisations- und Bildungsforschung.[2]

Nach der Habilitation übernahm er 1975 den Lehrstuhl Bildung und Sozialisation an der Universität Essen. 1980 folgte er einem Ruf der Universität Bielefeld auf den Lehrstuhl Sozialisationsforschung. Hurrelmann war erster Dekan der neu gegründeten „Fakultät für Pädagogik“. Von 1986 bis 1998 leitete er den von ihm mit begründeten Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“.[2]

1993 wechselte Hurrelmann an die neu gegründete Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Bielefeld. Er wurde zum Gründungsdekan gewählt und war für den Aufbau der bis heute einzigen voll ausgebauten deutschen School of Public Health verantwortlich. In der Fakultät für Gesundheitswissenschaften übernahm er die Erforschung des Gebietes Prävention und Gesundheitsförderung. Er baute im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation das Collaboration Centre for Child and Adolescent Health Promotion auf. Das Zentrum koordinierte bis 2012 die repräsentativen Gesundheitserhebungen bei 11- bis 15-jährigen Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland, die alle vier Jahre im Rahmen der europaweiten Studie Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) durchgeführt wurden. Von 1996 bis 2004 war er außerdem Direktor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik.[2] Er hatte Gastprofessuren an der New York University (1998) und an der University of California in Los Angeles (1999) inne[4].

Seit März 2009 ist Hurrelmann Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin[4]. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Verbindung von Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, um umfassende Interventionsstrategien zur Prävention von sozialen und gesundheitlichen Benachteiligungen zu entwickeln. Außerdem führt er vergleichende Studien zu Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen durch. Dazu gehören die Shell-Jugendstudien und Jugendstudien in 15 osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern, die durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert werden.[3] Seit 2019 veröffentlicht er zusammen mit Simon Schnetzer die regelmäßig erscheinenden Trendstudien „Jugend in Deutschland“, die auf repräsentativen Stichproben von 14 bis 29-Jährigen beruhen.[5]

Hurrelmann war Mitglied des Expertenrats Demografie beim Bundesminister des Innern, der von 2010 bis 2017 den Ausschuss von Staatssekretären verschiedener Bundesministerien beim Thema „Gestaltung der demografischen Entwicklung“ beriet.[6] Er fungierte als stellvertretender Sprecher eines Expertenkreises, der 2018 den Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz erstellte.[7]

Seit 2020 arbeitet er als Senior Expert am Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS), das von Dieter Dohmen geleitet wird. Als wissenschaftlicher Berater verantwortet er unter anderem die seit 2021 vom FiBS regelmäßig durchgeführte Cornelsen Schulleitungsstudie.[8]

Auszeichnungen

  • Preis der Schweizer Margrit-Egnér-Stiftung für sein Lebenswerk (dotiert mit 25.000 Franken), 2003
  • Verleihung des Titels Dr. phil. h. c. durch die PH Freiburg, 2018

Wissenschaftliches Werk

Im Zentrum des wissenschaftlichen Werkes von Klaus Hurrelmann steht die Sozialisationstheorie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Übertragung der Sozialisationstheorie auf Kindheit und Jugend, Bildung und Gesundheit.[9] Der theoretische Ansatz, den er für diese Forschungsthemen entwickelt hat, beeinflusst nicht nur die Soziologie, sondern auch Forschungsprojekte im Bereich der Pädagogik, Psychologie, Gesundheitswissenschaft und Sozialmedizin. Er leitete mehrere Projekte zur Rolle der familiären und schulischen Bedingungen für die Entwicklung von Persönlichkeit und Leistung, zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Gesundheit sowie zur Prävention von Risikoverhalten, insbesondere von Gewalt, Sucht und psychosomatischen Gesundheitsstörungen.[10]

Bildungsforschung

Hurrelmann startete seine wissenschaftliche Arbeit im Bereich der Bildungsforschung. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Ausgangsbedingungen für die Ungleichheit von Bildungschancen zu analysieren. In seiner Dissertation „Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation“[11] ging er in einer umfangreichen empirischen Studie der Frage nach, wie sich die Aufteilung von Schülern in Lerngruppen mit niedrigem, mittlerem und hohem Leistungsniveau nach unterschiedlichen Leistungsgruppen auf ihre schulische Leistung auswirkt. Die Erwartung, dass diese pädagogisch als „äußere Leistungsdifferenzierung“ bezeichnete Maßnahme die Schüler in der niveauschwächsten Gruppe aus den benachteiligten Elternhäusern stärkt und damit die Bildungsungleichheit verringert, erfüllt sich demnach nicht.[12] Im Gegenteil fühlten sie sich durch die Trennung von den leistungsstärkeren Schülern abgesondert und stigmatisiert, und die Lehrkräfte unterforderten sie im Sinne einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“. Im Endeffekt sanken ihre schulischen Leistungen ab.[13]

In seiner Habilitationsschrift „Erziehungssystem und Gesellschaft“[14] hat Hurrelmann diese Erkenntnis auf die Struktur des gesamten Schulsystems übertragen. Seine Analyse zeigt, dass die in Deutschland übliche Aufteilung der Schülerschaft nach der Grundschule auf die drei unterschiedlichen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium mit unterschiedlichem Leistungsniveau und unterschiedlichen Abschlussperspektiven die Bildungsungleichheit verstärkt. Ein selektives Erziehungssystem wirkt demnach als „Vehikel der Reproduktion sozialer Ungleichheit“.[14]

Seit den 1980er Jahren plädiert Hurrelmann für leistungsheterogene Lerngruppen im Unterricht („innere Differenzierung“), verbunden mit einer Intensivierung der Elternarbeit, und für ein integriertes Schulsystem mit mehreren Bildungsgängen. In einem Offenen Brief an die 16 Schulministerien, veröffentlicht in Wochenzeitung Die Zeit,[15] hat er 1990 aus Anlass der Wiedervereinigung als ersten Reformschritt ein „Zwei-Wege-Modell für die Sekundarschule“ gefordert. Nach der Grundschule soll es demnach nur noch die Wahl zwischen zwei Schulformen geben: Die eine Schulform ist das Gymnasium, die zweite die integrierte Sekundarschule. Beide Schulformen sollen zu allen Schulabschlüssen einschließlich des Abiturs führen, aber dabei unterschiedliche pädagogische und didaktische Konzeptionen verfolgen.[16]

Viele dieser Forderungen sind inzwischen politisch umgesetzt worden: Die Hauptschule wurde nach der Wiedervereinigung in keinem der ostdeutschen Bundesländer eingeführt, und auch in mehreren westlichen Bundesländern wurde diese Schulform eingestellt. An ihre Stelle sind Sekundarschulen mit mehreren Bildungsgängen getreten, die immer häufiger auch mit einer Gymnasialen Oberstufe ausgestattet werden. An diesen Schulen werden verschiedene Modelle der inneren Differenzierung praktiziert.[17] Trotz aller dieser Maßnahmen ist aber immer noch ein hohes Ausmaß von Bildungsungleichheit zu verzeichnen.[18]

Auch die Kooperation zwischen Elternhaus und Schule wurde in den letzten zwanzig Jahren intensiviert. So sind mehrere Ansätze der „Bildungspartnerschaft“ umgesetzt worden.[19] Sie orientieren sich zum Teil an Ansätzen des „Elterntrainings“ mit der Vergabe eines symbolischen „Elternführerscheins“, an denen Hurrelmann als wissenschaftlicher Begleiter mitgewirkt hat. Dazu gehören die Trainingsprogramme „Systematisches Training für Eltern und Pädagogen“ STEP[20] und „Gesetze des Schulerfolgs“ GdS[21]. Letzteres orientiert sich an der Typologie der Erziehungsstile mit dem „Magischen Erziehungsdreieck“ von Hurrelmann, bei dem es um die angemessene Dosierung der drei Impulse „Anerkennung“, „Anregung“ und „Anleitung“ geht.[22]

2021 hat Hurrelmann in seiner Eigenschaft als Senior Expert beim Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) maßgeblich dazu beigetragen, die „Cornelsen Schulleitungsstudie“ zu etablieren.[23] Die Studie baut auf einer regelmäßig wiederholten repräsentativen Befragung aller Schulleiterinnen und Schulleitern in Deutschland auf und soll dazu beitragen, dass ihre Initiativen zur Reform von Schule und Unterricht und insbesondere ihre Vorstellungen vom Abbau der Bildungsungleichheit in die öffentliche Diskussion getragen werden.[24]

Sozialisationsforschung

Im Mittelpunkt von Hurrelmanns Sozialisationstheorie steht das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Er definiert Sozialisation als Persönlichkeitsentwicklung des Individuums, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ergibt. Die innere Realität eines Individuums wird durch körperliche und geistige Dispositionen und Eigenschaften gebildet, die äußere Realität durch die Eigenschaften der sozialen und physischen Umwelt. Die Verarbeitung der Realität ist produktiv, weil der Einzelne sein Leben aktiv lebt und versucht, die Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, denen er sich im Laufe seines Lebens stellen muss.[25]

1983 konzipierte er dafür das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ (abgekürzt MpR), das den konzeptionellen Rahmen für die Auswahl von Einzeltheorien aus Soziologie, Psychologie, Gesundheits- und Neurowissenschaften setzt.[26] Dieses Modell dient als Ausgangspunkt für seine Forschung im Bereich von Kindheit, Jugend, jungem Erwachsenenalter und Generationenbeziehungen. Das MpR -Modell dient auch als Kristallisationspunkt für seine an die Salutogenese angelehnte Definition von Gesundheit und seine Forschungsarbeit in der Gesundheitsförderung und Prävention.[22] Kernannahme dieses Modells ist, dass sich die Persönlichkeit nicht unabhängig von der Gesellschaft in ihren Funktionen und Dimensionen ausbildet, sondern in einer konkreten, historisch vermittelten Lebenswelt über die gesamte Lebensspanne hinweg kontinuierlich gestaltet wird.[27][28] Der Mensch als autonomes Subjekt hat die lebenslange Aufgabe, die Prozesse der sozialen Integration und der persönlichen Individualisierung in Einklang zu bringen. Über die gesamte Lebensspanne hinweg bewältigt das Individuum diese Aufgabe in altersgemäßen, seinem Entwicklungsstand entsprechenden Schritten.[29] Diese „Entwicklungsaufgaben“ sind: Bildung/Qualifikation, Bindung/Soziale Kontakte, Konsum/Regeneration und Partizipation/Wertorientierung. In diesem Sinne besteht die Sozialisation in einer komplexen kontinuierlichen Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.[30] Sie kann gelingen, aber unter ungünstigen Bedingungen auch scheitern. Das Scheitern führt zu Problemen mit der Identität, der Persönlichkeit und der Gesundheit.[31][32]

In den Lehrbüchern „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“ und „Gesundheits- und Medizinsoziologie“ werden Hurrlemanns Ansätze ausformuliert. Diese Lehrbücher und sie ergänzende Handbücher wurden und werden von Klaus Hurrelmann seit vielen Jahren unter anderem zusammen mit Erik Albrecht, Sabine Andresen, Ullrich Bauer, Heidrun Bründel, Gudrun Quenzel, Katharina Rathmann und Matthias Richter permanent aktualisiert und weiterentwickelt.[33] Sie sind alle auch in englischer Sprache erschienen. Das MpR hat dadurch Eingang in zahlreiche schulische und hochschulische Lehrpläne gefunden und ist zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren Bestandteil der Abiturprüfungen in Pädagogik und Sozialwissenschaft.

Publikationen (Auswahl)

Die große Anzahl von Veröffentlichungen von Hurrelmann lässt sich vor allem durch die zahlreichen durchgeführten Forschungsprojekte erklären. Dazu zählen die Kinder- und Jugendstudien und die sozialisations- und bildungsbezogenen Forschungsberichte ebenso wie die aus der Gesundheitsforschung.[34] Hurrelmann ist zudem einer der wenigen deutschen Sozialwissenschaftler, die frühzeitig begonnen haben, auch international zu publizieren und sich in Diskussionen einzumischen, die über den deutschen Kontext hinaus gehen.[35]

Lehrbücher (Auswahl)

Handbücher(Auswahl)

Empirische Studien

Weblinks

Commons: Klaus Hurrelmann – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Detlef Berentzen: Meister des magischen Dreiecks; in taz.de am 13.01.2014 (Memento vom 22. August 2018 im Internet Archive)
  2. a b c d Klaus Hurrelmann im Munzinger-Archiv, abgerufen am 1. Januar 2022 (Artikelanfang frei abrufbar)
  3. a b Universität Bielefeld: Curriculum Vitae.
  4. a b Magriet Cruywagen: Curriculum Vitae Klaus Hurrelmann. Hrsg.: Hertie School. 2019 (kxcdn.com [PDF]).
  5. Jugend in Deutschland - Trendstudie: Sommer 2022. Abgerufen am 30. August 2022 (deutsch).
  6. Dritte Sitzung des Expertenrats Demografie. Abgerufen am 30. August 2022.
  7. Doris Schaeffer, Klaus Hurrelmann, Ullrich Bauer, Kai Kolpatzik, Attila Altiner, Marie-Luise Dierks, Michael Ewers, Annett Horn, Susanne Jordan, Ilona Kickbusch, Bernadette Klapper, Jürgen M. Pelikan, Rolf Rosenbrock, Alexander Schmidt-Gernig, Sebastian Schmidt-Kaehler, Heide Weishaar, Christiane Woopen: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Hrsg.: Doris Schaeffer, Klaus Hurrelmann, Ullrich Bauer und Kai Kolpatzik. 1. überarbeitete Auflage. Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz, Berlin Februar 2020, S. 58.
  8. Cornelsen Schulleitungsstudie - FiBS. Abgerufen am 30. August 2022.
  9. Maik Philipp: Lesesozialisation in kindheit und Jugend : lesemotivation, Leseverhalten und lesekompetenz in familie, schule und peer-beziehungen. 1. Auflage. Stuttgart 2011, ISBN 978-3-17-028118-9.
  10. Prof. Klaus Hurrelmann neuer Senior Expert beim FiBS. Abgerufen am 23. November 2022.
  11. Klaus Hurrelmann: Unterrichtsorganisation und schulische Sozialisation Eine empirische Untersuchung z. Rolle d. Leistungsdifferenzierung im schul. Selektionsprozess. Weinheim / Berlin / Basel 1971, ISBN 978-3-407-19001-7.
  12. Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann (Hrsg.): Bildungsverlierer Neue Ungleichheiten. Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-92576-9, S. 578.
  13. Uwe Engel: Psychosoziale Belastung im Jugendalter : Empirische Befunde zum Einfluss von Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe. Berlin 2015, ISBN 978-3-11-085809-9, S. 199.
  14. a b Klaus Hurrelmann: Erziehungssystem und Gesellschaft. [1.-10. Tsd.] Auflage. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1975, ISBN 3-499-21070-3.
  15. Klaus Hurrelmann: Zwei Schulen für das eine Deutschland. Offener Brief an die Konferenz der Kultusminister: Schafft eine einheitliche Schulstruktur für die neue Bundesrepublik! In: Die Zeit. Nr. 45, 1. November 1991, ISSN 0044-2070, S. 64.
  16. Klaus Hurrelmann: Kinder - Bildung - Zukunft drei Wege aus der Krise. 1. Auflage. Stuttgart 2011, ISBN 978-3-12-920372-9, S. 138.
  17. Klaus Hurrelmann: Das Schulsystem in Deutschland: Das „Zwei- Wege-Modell setzt sich durch. In: Zeitschrift für Pädagogik. Band 59, Heft 4, ISSN 0044-3247, S. 455–468.
  18. Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann, Springer Fachmedien Wiesbaden: Handbuch Bildungsarmut. 1. Auflage 2019. Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-19573-1.
  19. Matthias Bartscher: Bildungs- und Erziehungspartnerschaften in Schulen Band 2 Beziehungen motivierend gestalten und inspirierend kommunizieren / Matthias Bartscher. 1. Auflage. Band 2. Hannover 2021, ISBN 978-3-7727-1524-2.
  20. STEP für Eltern und Pädagogen - STEP - Systematisches Training für Eltern und Pädagogen. Abgerufen am 17. Dezember 2022.
  21. Die Gesetze des Schulerfolgs: Fortbildung für Eltern & Pädagog/-innen. Abgerufen am 17. Dezember 2022 (deutsch).
  22. a b Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. 13. Auflage. Weinheim 2020, ISBN 978-3-407-25843-4.
  23. Zentrale Ergebnisse der Cornelsen Schulleitungsstudie 2022. Abgerufen am 17. Dezember 2022.
  24. Cornelsen Schulleitungsstudie erstmals veröffentlicht. Abgerufen am 17. Dezember 2022.
  25. Mariana Durt: Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung [...] Lehrerband. Baltmannsweiler 2016, ISBN 978-3-8340-1563-1.
  26. Das Modell des produktiv realitätverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 3, 1983, S. 91-103
  27. Andreas Spengler: Das Selbst im Netz : zum Zusammenhang von Sozialisation, Subjekt, Medien und ihren Technologien. Baden-Baden 2018, ISBN 978-3-95650-387-0, S. 98.
  28. Heinz Abels: Einführung in die Soziologie Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft. 5. Auflage 2019. Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-22476-9, S. 57.
  29. Klaus Hurrelmann: Socialisation during the life course. London 2018, ISBN 978-1-351-38457-5.
  30. Gudrun Quenzel, Gabriele Böheim-Galehr, StudienVerlag Ges.m.b.H.: Lebenswelten 2020 - Werthaltungen junger Menschen in Vorarlberg. Unter Mitarbeit von Katharina Meusburger, Martina Ott, Egon Rücker, Helga Kohler-Spiegel. mit zahlreichen farbigen Grafiken und Tabellen Auflage. Innsbruck 2021, ISBN 978-3-7065-6169-3.
  31. Roger J. R. Levesque: Dangerous adolescents, model adolescents : shaping the role and promise of education. Kluwer Academic/Plenum, New York 2002, ISBN 0-306-47540-5.
  32. Richard M. Lerner, Anne C. Petersen, Rainer K. Silbereisen, Jeanne Brooks-Gunn: The developmental science of adolescence : history through autobiography. Psychology Press, New York, NY 2014, ISBN 978-1-136-67372-6.
  33. Gerlinde Unverzagt: Kinder stark machen für das Leben : Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln. Kreuz Verlag, Freiburg 2014, ISBN 978-3-451-80189-1.
  34. Pascal Bastian, Annerieke Diepholz, Eva Lindner: Frühe Hilfen für Familien und soziale Frühwarnsysteme. Münster 2008, ISBN 978-3-8309-7014-9, S. 31 f.
  35. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (Hrsg.): Fördern, Fordern, Fallenlassen. Aktuelle Entwicklungen im Umgang mit Jugenddelinquenz ; Dokumentation des 27. Deutschen Jugendgerichtstages vom 15. - 18. September 2007 in Freiburg. Mönchengladbach 2008, ISBN 978-3-936999-49-5, S. 271.