Gabriele Kröcher-Tiedemann

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Gabriele Kröcher-Tiedemann (* 18. Mai 1951 in Ziegendorf in Mecklenburg; † 7. Oktober 1995) war eine deutsche Terroristin aus dem Umfeld der West-Berliner Haschrebellen. Sie war 1972 in Berlin Gründungsmitglied der Bewegung 2. Juni. Nach ihrem Aufenthalt im Südjemen im Anschluss an die Lorenz-Entführung soll sie Kontakte zur Rote Armee Fraktion (RAF) gehabt haben. Sie wird oft zur „zweiten Generation“ der RAF gezählt.

Leben

Die frühe Kindheit verbrachte Gabriele Tiedemann in der DDR. Ihr Vater war wegen „Antikommunismus“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden; die Familie siedelte dann Anfang der 1960er Jahre durch den Häftlingsfreikauf in die Bundesrepublik über. Nach dem Abitur am Bavink-Gymnasium in Bielefeld, heute Waldhof-Gymnasium, begann sie an der Universität Bochum ein Studium der Politik und Soziologie, wechselte aber bald an die Freie Universität Berlin.[1] Dort stand sie dem Leben in der Kommune nahe und arbeitete in verschiedenen linksradikalen Gruppierungen, unter anderem mit Peter Paul Zahl. Dort lernte sie auch Norbert Kröcher kennen, ein maßgebliches Mitglied des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen, den sie heiratete. Norbert Kröcher wurde 1977 bei der Vorbereitung einer Entführung durch die RAF in Schweden festgenommen[2] und später in der Bundesrepublik Deutschland als Terrorist verurteilt.

Sie gehörte mutmaßlich zunächst der Roten Ruhr-Armee an.[3][4] Ab 1971/1972 lebte Kröcher-Tiedemann im Untergrund und war vermutlich an verschiedenen Banküberfällen beteiligt. Gemeinsam unter anderen mit Ralf Reinders, Ina Siepmann und ihrem Ehemann gründete sie 1972 in Berlin die Bewegung 2. Juni. 1973 schoss sie in Bochum beim Versuch, sich der Festnahme zu entziehen, einen Polizisten an, wurde verhaftet und wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.[5]

Bei der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch Mitglieder der Bewegung 2. Juni am 27. Februar 1975 wurde sie mit weiteren Inhaftierten aus dem Umfeld der West-Berliner Terroristen, Verena Becker, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler und Rolf Pohle, freigepresst, ausgetauscht und am 3. März 1975 in Begleitung von Heinrich Albertz nach Südjemen ausgeflogen. Daraufhin wurde Peter Lorenz von den Terroristen freigelassen.

Kröcher-Tiedemann wird vorgeworfen, am 21. Dezember 1975 gemeinsam mit Hans-Joachim Klein und Ilich Ramírez Sánchez, Codename Carlos, an der OPEC-Geiselnahme in Wien beteiligt gewesen zu sein. Während der Geiselnahme soll ihr Pseudonym Nada gewesen sein.[6] Laut Zeugenaussagen erschoss sie den Polizisten Anton Tichler sowie den irakischen OPEC-Angestellten Alaa Hassan Khafali.[7] Zu einer Verurteilung kam es jedoch nicht.

Am 20. Dezember 1977 wurde Kröcher-Tiedemann nach einem Schusswechsel in Fahy an der französischen Grenze zusammen mit Christian Möller durch Schweizer Grenzschützer verhaftet; dabei wurden zwei Beamte durch Schüsse schwer verletzt. Die Polizei stellte bei der Verhaftung einen Teil des Lösegeldes aus der Entführung des österreichischen Industriellen Walter Michael Palmers sicher.[8] Da es in der Schweiz damals keine Hochsicherheitsgefängnisse für Frauen gab, baute der Kanton Bern in der Anstalt von Hindelbank einen Sondertrakt speziell für Kröcher-Tiedemann.[9] 1986 plante sie die Heirat mit dem Zürcher Journalisten und Autor Jan Morgenthaler, die ihr nach damaliger Rechtslage automatisch die Schweizer Staatsbürgerschaft beschert und damit auch die geplante Abschiebung nach Deutschland verunmöglicht hätte. Der Zürcher Stadtrat verhinderte die Ehe jedoch unter anderem mit dem Argument städtischer Juristen, da im Gefängnis eine Partnerschaft und damit auch eine Ehe gar nicht möglich sei, handele es sich um eine bloße Scheinehe.[9] Nach der Verbüßung von zwei Dritteln einer fünfzehnjährigen Haftstrafe wurde sie im Dezember 1987 an Deutschland ausgeliefert, wo sie den Rest ihrer 1975 durch die Freipressung unterbrochenen Haftstrafe zu verbüßen hatte.

1990 kam sie in Köln vor Gericht, musste jedoch am 22. Mai mangels Beweisen von der Mordanklage freigesprochen werden. Die unzureichende Spurensicherung am Wiener Tatort ergab keine Indizien gegen die Angeklagte. Zwar hatten Zeugen die Angeklagte auf einem Videofilm als Tatbeteiligte erkannt, doch waren ihnen keine Aufnahmen anderer Frauen vorgeführt worden, weshalb diese Aussagen vor Gericht nicht verwendet werden konnten. Weiter konnten den Zeugen vom Kölner Gericht keine Zusagen gemacht werden, für ihre Sicherheit zu sorgen. Angesichts der Tatsache, dass „Carlos“ damals noch auf freiem Fuß war, verzichteten die Zeugen auf eine Aussage in Köln. Der Tatbeteiligte Hans-Joachim Klein, der in seinem Prozess 2000 Kröcher-Tiedemanns Täterschaft behauptet hat, befand sich zu dieser Zeit noch im Untergrund. „Carlos“ wiederum hat in seinem Prozess 1997 in Paris ausgesagt, Klein habe den Iraker erschossen.[10] Ausschlaggebend für den Freispruch war vermutlich auch die Aussage des damaligen Innenministers Werner Maihofer, Kröcher-Tiedemann sei nach Geheimdienstquellen zur Zeit der OPEC-Entführung noch im Jemen gewesen.[11]

1991 wurde sie aus der Haft entlassen. Schon in der Haft hatte sie sich vom Terrorismus losgesagt und die Scheidung von Norbert Kröcher betrieben. 1992 erkrankte sie an Krebs, musste sich mehreren Operationen unterziehen und starb am 7. Oktober 1995 mit 44 Jahren. Ihr gesamter Schriftnachlass 1975–1995 wird seit 1996 im International Institute of Social History in Amsterdam als Gaby Tiedemann Papers[12] verwahrt.

Verfilmungen

In der Fernsehdokumentation Tage des Terrors aus dem Jahr 2005 wurde sie von Christina Grün dargestellt.[13] Im französischen Film Carlos – Der Schakal aus dem Jahre 2010 übernahm Julia Hummer ihre Rolle.[14]

Einzelnachweise

  1. IISG: Gaby Tiedemann Papers.
  2. SWR2 Archivradio: 4. April 1977: Terroristen aus Schweden.
  3. Ralf Reinders et. al: Die Bewegung 2. Juni, Gespräche über Haschrebellen, Lorenz-Entführung, Knast. Edition ID-Archiv.
  4. Roter Morgen Nr. 1, Dortmund 5. Januar 1974, S. 7
  5. Brief mit Finger. In: DER SPIEGEL 3/1988. 18. Januar 1988, abgerufen am 3. Dezember 2011.
  6. Letzte Adresse. In: DER SPIEGEL 9/1983. 28. Februar 1983, abgerufen am 6. Mai 2013.
  7. Zwei Tage Angst. (PDF; 243 kB) In: ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 1-2/06. Bundesministerium Für Inneres, Österreich, abgerufen am 3. Dezember 2011.
  8. Terrorismus: Letzte Adresse. In: Der Spiegel vom 28. Februar 1983, abgerufen am 20. Juli 2015
  9. a b Alex Baur: Diskreter Abschied vom Terror. In: Die Weltwoche, Ausgabe 40/2008, abgerufen am 20. Juli 2015
  10. Rhein-Zeitung Online:. Anschlag auf OPEC-Tagung.
  11. TAZ, 10. April 1990, S. 4
  12. International Institute of Social History: Gaby Tiedemann Papers 1975-1995. (Archiveintrag)
  13. Tage des Terrors, TV-Dokumentation für den ORF von Christoph Feurstein; Österreich, 2005
  14. Gabriele Kröcher-Tiedemann bei IMDb