Morphem

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Morphem ist ein Fachausdruck der Linguistik für die kleinste Spracheinheit, der eine Bedeutung oder grammatikalische Funktion zugeordnet ist, und damit der Zentralbegriff[1] der linguistischen Morphologie. Der Begriff des Morphems ist dem Begriff des Wortes nicht direkt gegenüberzustellen, sondern kann sich mit ihm überschneiden: Ein Wort kann zerlegbar, und somit aus mehreren Morphemen zusammengesetzt sein, aber ein unzerlegbares Wort stellt zugleich ein einziges Morphem dar.

In der funktionellen Betrachtung unterscheidet man zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen:

  • Mit dem Begriff des lexikalischen Morphems erfasst man Wortwurzeln; diese stellen das Inventar dar, das die Grundlage für die Bildung abgeleiteter Wörter in einer Sprache ist.
  • Demgegenüber sind grammatische Morpheme solche, die in Verbindung mit Wurzeln oder größeren Wortstämmen grammatische Information wiedergeben. Grammatische Morpheme unterteilen sich wiederum in derivative und flexivische Morpheme: Derivative Morpheme leiten neue Wörter ab und bestimmen dabei für sie die Wortart, und flexive fügen grammatische Merkmale hinzu. Da auch unzerlegbare Wörter als Morpheme gelten, können gegebenenfalls auch Artikel, Konjunktionen und Ähnliches unter die grammatischen Morpheme fallen.

Begriff

Bestimmung

Morpheme werden allgemein als „kleinste bedeutungstragende (sprachliche) Einheit“ definiert; genauer wie folgt: „Das Morphem ist die kleinste lautliche oder graphische Einheit mit einer Bedeutung oder grammatischen Funktion“[1].

Zum Beispiel ist das Wort tische, geschrieben ⟨Ti·sche⟩ und gesprochen /'tıʃə/, aus zwei Morphemen aufgebaut: {tisch}{-e}; dabei ist {tisch} der Wortkern mit der Bedeutung ‚Möbel mit Platte und Beinen‘ und {-e} ist die Endung mit der Funktion ‚Mehrzahl‘, [Plural]. Das Wort wälder, ⟨Wäl·der⟩ /'vɛl.dɐ/, kann ebenfalls in zwei Wortteile, {wäld}{-er}, zerlegt werden. Dabei kommt das Morphem, das den Wortkern ausmacht, in zwei verschiedenen Formen, sogenannten Morphen, vor: {wald} und {wäld} für [Singular] bzw. [Plural]. Genauso hat das Morphem [Plural] bzw. genauer [Plural Nominativ] verschiedene Ausprägungen: {-e} bei Tisch bzw. {Umlaut} + {-er} bei Wald , und noch andere Formen bei anderen Substantiven: {Auto}{-s} usw.

Ein Morphem hat auf der Inhaltsseite (Plerem) definitionsgemäß immer eine Bedeutung oder grammatische Funktion. Es kann auf der Ausdrucksseite (Kenem) entweder immer in der gleichen Form geäußert werden (vgl. „Tisch“), oder aber auch mehrere Varianten (Allomorphe) haben (vgl. „Wald – Wäld“ oder [Plural]: {-e, -er, -s, …}).

Geschichte

Der Begriff Morphem wurde von Baudouin de Courtenay vor 1881 entwickelt. Leonard Bloomfield adaptierte den Begriff und hat ihn allgemein bekannt gemacht, verwendete ihn allerdings mit verengter Bedeutung, sodass bei ihm das Glossem synonym zum modernen Morphem ist. Dessen Definition festigte sich erst mit Eugene Nida.

Abweichend vom herrschenden Sprachgebrauch nennt der französische Sprachwissenschaftler André Martinet das Morphem im vorgenannten Sinne „Monem“. Ein freies Monem nennt Martinet „Lexem“, ein gebundenes „Morphem“.[2]

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich für Morphem auch Sprachsilbe als Synonym und stand neben Sprechsilbe und Schreibsilbe als Spezialfall der Silbe.

Abgrenzung

Ein Morphem ist die kleinste funktionstragende Einheit der Sprache auf der Inhalts- und Ausdrucksebene im Sprachsystem (Langue). Morpheme sind abstrakte Einheiten der Langue, die durch Segmentierung gewonnen werden (d. h. durch einen Prozess, der den Sprachstrom in einzelne Konstituenten unterteilt).

Morph und Allomorph

Morphe werden als Repräsentationseinheiten (Parole) bezeichnet und ein Morphem als Klasse äquivalenter Morphe (Langue).

Morphe, die Varianten ein und desselben Morphems sind, heißen Allomorphe bzw. allomorph zueinander. Allomorphe sind, da sie klassifiziert sind, Einheiten des Sprachsystems (Langue). Zum Beispiel sind {Hund} und {hünd} (in hündisch) zunächst zwei Morphe; hat man erkannt, dass sie die gleiche Funktion für unterschiedliche Kontexte darstellen, gelten sie als zwei Allomorphe des lexikalischen Morphems Hund .

Graphem und Phonem

Morpheme werden lautlich als Phonem­folgen und schriftlich als Graphem­folgen realisiert (sofern nicht ein Nullmorphem angesetzt wurde). Die klassische Definition des Phonems als "kleinste funktionsunterscheidende Einheit ist von der Morphemdefinition als kleinster funktionstragender Einheit zu trennen.

Die nicht inhaltstragenden, bedeutungsunterscheidenden Elemente eines Morphems heißen Phoneme, wenn sie lautlich geäußert werden, und Grapheme, wenn sie schriftlich geäußert werden (als Buchstaben, Ziffern).[3] Es gibt Schriftzeichen, die einem Morphem entsprechen, bspw. Ziffern oder viele Sinogramme, und Logogramme oder Morphogramme genannt werden.

Silbe

Das Morphem ist nicht identisch mit der Silbe, und daher ist die traditionelle Bezeichnung „Nachsilbe“ für ein am Wortende angehängtes Morphem eigentlich nicht korrekt. Selbst wenn ein Morphem für sich genommen eine Silbe darstellen könnte (z. B. -er oder -en in den Beispielen unten), kommt bei der Zerlegung des gesamten zusammengesetzten Wortes in Sprechsilben oftmals gerade eine andere Silbenaufteilung heraus:

In der deutschen Orthographie entsteht bei der Worttrennung am Zeilenende oft eine direkte Konkurrenz zwischen Morphem- und Silbenaufteilung. Während in der deutschen Rechtschreibung vor 1996 weitgehend das Morphem auf einer Zeile zusammengehalten werden sollte, bevorzugt die neue Orthographie eine echte Silbentrennung.

Wort

Das Morphem unterscheidet sich vom Wort. Für ein Morphem ist es unerheblich, ob es selbständig vorkommen kann oder nicht; das Wort ist hingegen definiert als die kleinste Form, die selbständig stehen kann.[4] Wörter bestehen aus mindestens einem Morphem.[3]

Lexem

Ein Lexem ist eine abstrakte Einheit, die Bedeutung, Laut-/Schriftbild, grammatische Merkmale und ggf. verschiedene Flexions­formen eines „Wortes“ zusammenfasst; dieser Begriff ist also zu unterscheiden von dem des „lexikalischen Morphems“, d. h. einem Morphem, das lexikalische Bedeutung trägt und als Basis für die Markierung grammatischer Information dienen kann.

Notation

Die Schreibweise von Morphemen und Morphen erfolgt uneinheitlich. Oft werden Morph(em)grenzen mittels einfacher Striche (-) gekennzeichnet, aber viele Autoren verwenden zusätzliche visuelle Hilfsmittel um Morpheme abzugrenzen.

Trennstriche
zer-leg-en
Schrägstriche („/…/“)[2]
/zer-/ /leg-/ /-en/
runde Klammern[6]
(zer-)(leg-)(-en)
eckige Klammern
[zer-][leg-][-en]
eckige Klammern in Verbindung mit Großschrift
[ZER-][LEG-][-EN]
[zer-][leg-][-en]
geschweifte Klammern
{zer-}{leg-}{-en}

Großschreibung oder Kapitälchen werden vor allem für grammatische Funktionsmorpheme verwendet[7] und nicht für lexikale Inhaltsmorpheme oder Morphe. Im obigen Beispiel zerlegen ist die Flexionsendung {-en} ein Fall (Morph) des abstrakten grammatikalischen Morphems [Infinitiv], das Präfix {zer-} ist ein konkretes Derivationsmorphem und {-leg-} ist der lexikalische Wortstamm.

Einteilung in Klassen

Morpheme können nach unterschiedlichen Gesichtspunkten eingeteilt werden nach

  1. ihrer Wortfähigkeit in Basen und Affixe,
  2. ihrem Wortstatus in freie und gebundene Morpheme,
  3. ihrer Funktion in lexikalische Inhaltsmorpheme und grammatikalische Funktionsmorpheme.

Wortfähigkeit

Grundmorpheme[8] (auch: „Wurzelmorpheme“,[9] „Wurzeln“[9], „Basis“ oder „Kerne“[10] genannt) „sind die unverzichtbaren lexikalischen Kerne von Wörtern“.[9]

Wurzeln kommen „in der Regel“[9], d. h. nicht notwendig frei vor. Die Einteilung in Wurzelmorpheme und Affixe ist daher ähnlich, aber andere als die in freie und gebundene Morpheme.

Affixe sind Morpheme, die keine Grundmorpheme sind. Diese unterteilt man entweder nach ihrer Position in der Wortform in Präfix, Suffix, Infix oder Zirkumfix oder nach ihrer Funktion in Derivations­affixe und Flexions­affixe.

Wortstatus

Die Einteilung der Morpheme in freie und gebundene erfolgt danach, ob sie frei im Satz als Wörter auftreten können oder nicht.

Ein freies Morphem tritt als alleinige Wortform auf. In strenger Auslegung ist es nicht Teil eines Flexionsparadigmas: {in, nur, und}. Viele Autoren bezeichnen Morpheme auch dann als frei, wenn sie als eigenständige Wortform – meist die Nennform – neben anderen auftreten: {Mensch, schön, Frucht}.[11] Im ersten Fall ist also mit frei die Flexionsunabhängigkeit gemeint (vgl. Partikel), im zweiten die Bedeutungsautonomie (vgl. Semantem, Lexem).

Ein gebundenes Morphem tritt nie als selbständige Wortform auf, sondern immer nur zusammen mit anderen Morphemen in einer Wortform[1]. In engerer Bedeutung wird darüber hinaus gefordert, dass das Morphem seine Bedeutung erst aus dieser Verbindung gewinnt.

Gebundene Morpheme im engen Sinne sind die Flexionsendungen (z. B. {-en, -er, -st, -t}) und die Endungen in Ableitungen (z. B. {-lich, -sam, -ung}). Im weiteren Sinne gehören auch einige lexikalische Morpheme (z. B. {Him-} in Himbeere, {Schorn-} in Schornstein) und syntaktische Morpheme (z. B. {-bibel}) dazu.

Verbstämme werden in der deutschen Grammatik oft auch als gebundene lexikalische Morpheme angesehen, da sie im Deutschen immer mit einer Flexionsendung zusammen verwendet werden. (Der Imperativ Singular hat eine Flexionsendung, die als Nullallomorph {-} oder als Allomorph {-e} auftritt. Als Ausnahme bleibt der Inflektiv)

Ein gebundenes Morphem benötigt mindestens ein weiteres (freies oder gebundenes) Morphem, um ein Wort bilden zu können; z. B. {ent-} und {-en}, welche sich an einen Verbstamm wie {komm} anhängen und entkommen bilden. Ein Wort wie Unbill besteht nur aus zwei gebundenen Morphemen. Solche Fälle sind häufig bei Morphemen, die aus anderen Sprachen kommen (wie {bio-} und {-logie}, die zwei gebundene Morpheme sind) oder deren eigenständige Bedeutung im Laufe der Sprachentwicklung verloren gegangen ist.

Ob ein Morphem gebunden oder frei vorkommt, hängt von der jeweiligen Sprache ab. Im Deutschen heißt es Haus und mein Haus, im Türkischen ev ‚Haus‘ und evim ‚mein Haus‘.[12]

Funktion

Die lexikalischen Morpheme (l-Morpheme) oder Inhaltsmorpheme, auch Lexeme, bezeichnen reale oder gedachte Personen, Gegenstände, Sachverhalte.[13] Sie sind also Morpheme mit einer referentiellen Funktion.[10] Lexeme bilden den „Grundbestandteil eines Wortes“.[8] Sie bilden die Stämme oder Wurzeln der Wörter, stellen also das Grundinventar der Wörter einer Sprache dar. Das Inventar der lexikalischen Morpheme ist offen, d. h. beliebig erweiterbar.

Die grammatischen oder funktionalen Morpheme (f-Morpheme) oder Funktionsmorpheme, auch Grammeme, hingegen bilden keine Wörter, sondern verändern diese gemäß grammatischen Regeln und tragen grammatische Informationen. Sie werden weiter unterteilt in Flexionsmorpheme und Wortbildungsmorpheme.[14]

Flexionsmorpheme oder flexive Morpheme zeigen syntaktische Eigenschaften des Stammes an, den sie flektieren, das heißt, sie drücken seine grammatischen Merkmale aus.

Wortbildungsmorpheme oder derivative Morpheme leiten neue Wörter aus den schon vorhandenen ab und ändern dabei oft die Wortklasse oder Wortart, das heißt ihre Funktion betrifft die Wortbildung.

Sonderfälle

Nullmorphem

Einen Sonderfall stellt das Nullmorphem {} dar. Dies ist ein Morphem, das nicht lautlich oder schriftlich realisiert ist.

Ein Nullmorphem kann unter anderem aus beschreibungstechnischen Gründen gerechtfertigt werden, beispielsweise beim Wechsel zwischen Flexionsaffixen und deren Fehlen im Paradigma eines Wortes.

Das Nullmorphem ermöglicht es, dass man das Flexionssystem der Substantive insgesamt einheitlich mit Wortstamm + Endung darstellen kann.

Diskontinuierliches Morphem

Ein weiterer Sonderfall sind die diskontinuierlichen Morpheme, bei denen eine Folge voneinander getrennter Morphe zusammen ein Morphem bilden. Sie kommen in der Ableitung ebenso wie in der Flexion vor.

Gebundenes lexikalisches Morphem

Lexikalische Morpheme treten auch als gebundene Morpheme auf, die keine Affixe sind. Die Verbstämme werden mitunter derart aufgefasst, da sie immer nur in Verbindung mit Flexions- oder Ableitungsmorphemen und nie allein verwendet werden.

Konfixe haben eine stärkere lexikalische Grundbedeutung und können im Gegensatz zu unikalen Morphemen in mehreren Umgebungen in Verbindung mit Derivation oder Komposition auftreten.

Unikale Morpheme kommen nur in einer einzigen Kombination vor und haben nur in Verbindung mit einem speziellen Kombinationspartner eine eigene Bedeutung; so z. B. {lier-} in ver-lier-en.

Beispiele

Siehe auch

Literatur

Allgemeine linguistische Einführungsliteratur

Spezielle linguistische Einführungsliteratur

Vertiefende Literatur

Weblinks

Wiktionary: Morphem – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b c Linke et al. (2004:66–67)
  2. a b Ulrich (2002/Monem, /Morphem)
  3. a b c Brandt et al. (2006:4)
  4. a b Dürr/Schlobinski (2006:79)
  5. Gadler (1998:95–96)
  6. Beispiel von Homberger (2000/Morphem): Wort „sprang“ = Bedeutung (spring-) + Numerus (Sg.) + Tempus (Präteritum)
  7. Clément (20002:136) verwendet „[PLURAL]“ für das Morphem Plural
  8. a b Dürr/Schlobinski (2006:83, 293)
  9. a b c d e Meibauer (2007:29)
  10. a b c d e Gadler (1998:99)
  11. Hans Altmann: Prüfungswissen Wortbildung (= UTB. Nr. 3458). 3., durchgesehene Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8252-3458-4.
  12. Kocsány (2010:83)
  13. Pelz (1996:116)
  14. nach Gadler (1998:99), sind nur Flexionsmorpheme grammatische Morpheme und bilden die Wortbildungsmorpheme eine eigene, dritte Kategorie. Kühn (1994:17) unterscheidet einerseits Grund- und Basismorpheme und andererseits Wortbildungsmorpheme, Flexions- und grammatische Morpheme
  15. nach Meibauer (2007:31)