Verfassungsreferendum in Kenia 2010

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

In dem Verfassungsreferendum vom 4. August 2010 stimmte die Bevölkerung Kenias mit deutlicher Mehrheit einer neuen Verfassung zu, die die Rechte des Staatspräsidenten zugunsten des Parlaments einschränkte. Die neue Verfassung trat am 27. August 2010 in Kraft[1] und ersetzte die seit 1963 gültige, die unter Beteiligung der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien formuliert worden war.[2]

Im Vorfeld[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die seit der Unabhängigkeit Kenias gültige Verfassung gewährte dem Präsidenten umfassende Vollmachten und unterstützte das jahrzehntelang betriebene Einparteiensystem. Internationaler Druck zwang Staatspräsident Daniel arap Moi Anfang der 1990er Jahre zur Wiedereinführung eines Mehrparteiensystems, im Dezember 1992 fanden erstmals Parlamentswahlen unter Beteiligung von Oppositionsparteien statt.[3]

Der Demokratisierungsprozess in Kenia führte zu mehreren Verfassungsänderungen, eine umfassende Verfassungsreform wurde allerdings von Moi und seinem Nachfolger Mwai Kibaki lange hinausgezögert. Am 21. November 2005 fand ein erstes Referendum über eine neue Verfassung statt; die Verfassungsänderungen wurden aber von der Bevölkerung mit 58 % der abgegebenen Stimmen abgelehnt.[4]

Zwei Jahre nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum führte die umstrittene Wiederwahl Kibakis zu wochenlangen Unruhen in Kenia, die erst nach Bildung einer Koalitionsregierung beendet wurden. Infolge der Unruhen wurden erneut Bemühungen unternommen, eine neue Verfassung zu formulieren.

Am 17. November 2009 wurde der von der großen Koalition erarbeitete Entwurf für die neue Verfassung Kenias vorgelegt.[5] Die endgültige Formulierung des Verfassungstextes wurde am 6. Mai 2010 veröffentlicht, eine Woche später wurde der 4. August 2010 als Datum für das Verfassungsreferendum festgelegt.[6]

In der Auseinandersetzung um die neue Verfassung wurden am 13. Juni 2010 sechs Menschen von einem unbekannten Täter bei einer Demonstration der Reformgegner in Nairobi mit einer Handgranate getötet. Gegner der Reform waren vor allem die Kirchen und der ehemalige Präsident Daniel arap Moi sowie einige Minister der Koalitionsregierung.[7] Als Unterstützer galten unter anderen Präsident Kibaki und Ministerpräsident Raila Odinga.[2] Vor allem im Rift Valley, dem Zentrum der Unruhen von 2007, wurde mit einer hohen Zahl von Nein-Stimmen gerechnet.[8]

Inhalt des Verfassungsentwurfes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der vorgestellte Verfassungsentwurf führte zur größten politischen Veränderung in Kenia. Er sah die Einschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten sowie die Durchführung einer Landreform vor. Außerdem wurde neben der Nationalversammlung ein Senat geschaffen. Abtreibung aus medizinischen Gründen sollte erlaubt bleiben.[9] Zusätzlich sollten Grundrechte und die Gleichstellung von Frauen garantiert, eine Justizreform durchgeführt und die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht werden. Auch sollte die traditionelle muslimische Gerichtsbarkeit in der Verfassung verankert werden.[7] Abgeordnete sollen zukünftig von ihren Wahlkreisen wieder abgewählt werden können, wenn sie ihre parlamentarische Arbeit vernachlässigen. Die Anzahl der Minister sollte auf 22 reduziert werden.[2]

Präsidentschaft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der nach den Wahlen 2007 geschaffene Posten des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Alle Minister, Botschafter, hohe Justizbeamte und Staatssekretäre müssen vom Parlament bestätigt werden. Der Präsident darf maximal zweimal für je fünf Jahre regieren.[7][10]

Senat[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Senat soll aus den Vertretern von 47 Verwaltungskreisen, 16 Vertretern der Nationalversammlung und je zwei Vertretern von Jugendverbänden und behinderten Menschen bestehen. Der Senat kann zusammen mit der Nationalversammlung den Präsidenten per Misstrauensantrag absetzen.[7]

Justiz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Durch die neue Verfassung wurde die Errichtung eines Obersten Gerichts, des Supreme Court of Kenya vorgesehen.[11]

Landreform[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es soll eine Kommission mit weitreichenden Kompetenzen geschaffen werden, die „Ungerechtigkeiten“ bei der Landverteilung korrigieren soll. Sie kann illegale Landgeschäfte aufheben und Ländereien an lokale Volksgruppen zurückgeben. Zusätzlich soll eine Obergrenze für privaten Landbesitz gelten.[7][10] Ausländer sollen Land nur noch auf maximal 99 Jahre pachten dürfen.[12]

Verlauf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Referendum verlief im Großen und Ganzen friedlich. Aufgrund der hohen Wahlbeteiligung bildeten sich teilweise lange Schlangen vor den Wahllokalen. 70.000 Sicherheitskräfte waren landesweit im Einsatz.[13]

Ergebnis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Abstimmungsergebnis (Prozentsatz an „Ja“-Stimmen) zum Verfassungs­referendum in den einzelnen Provinzen: 1 – Central, 2 – Coast, 3 – Eastern, 4 – Nairobi, 5 – North-Eastern, 6 – Nyanza, 7 – Rift Valley, 8 – Western

Die Verfassung wurde mit deutlicher Mehrheit angenommen. 66,9 % der abgegebenen Stimmen sprachen sich für die neue Verfassung aus. Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 %.[14] Die einzige Provinz, in der die neue Verfassung abgelehnt wurde, war Rift Valley. Streitigkeiten wegen der Landreform sollen hier für den Ausgang der Wahl entscheidend gewesen sein.[15]

Landesweites Ergebnis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Votum Stimmen Stimmenanteil
Ja 6.092.593 68,55 %
Nein 2.795.059 31,45 %

in Prozent der gültigen Stimmen

218.633 Stimmen (2,40 %) waren ungültig. Die Wahlbeteiligung lag bei 72,18 %.

Ergebnisse nach Provinzen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nr. Provinz Ja Ja
(in %)
Nein Nein
(in %)
Gültige
Stimmen
gesamt
Ungültige
Stimmen
Stimmen
gesamt
Registrierte
Wähler
Beteiligung
(in %)
1 Central 1.274.967 84,4 235.588 15,6 1.510.555 29.692 1.540.247 1.958.898 78,6
2 Coast 425.626 79,24 111.532 20,76 537.158 16.388 553.546 997.086 55,5
3 Eastern 741.109 56,43 572.109 43,57 1.313.218 32.480 1.345.698 2.028.444 66,3
4 Nairobi 678.621 76,52 208.195 23,48 886.816 29.298 916.114 1.292.229 70,9
5 North Eastern 110.992 95,71 4.970 4,29 115.962 599 116.561 231.928 50,3
6 Nyanza 1.174.033 92,04 101.491 7,96 1.275.524 20.257 1.295.781 1.705.292 76,0
7 Rift Valley 971.331 40,52 1.426.102 59,48 2.397.433 65.447 2.462.880 3.046.294 80,8
8 Western 715.914 84,13 135.072 15,87 850.986 24.472 875.458 1.356.456 64,5
Gesamt 6.092.593 68,55 2.795.059 31,45 8.887.652 218.633 9.106.285 12.616.627 72,2

Am 27. August setzte Präsident Mwai Kibaki die Verfassung offiziell in Kraft. Bei der Zeremonie war auch der wegen Kriegsverbrechen gesuchte sudanesische Präsident Umar al-Baschir anwesend, was international für Kritik sorgte.[1]

Reaktionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bereits während der Bekanntgabe von Teilergebnissen gestanden die Gegner der neuen Verfassung ihre Niederlage ein. Erziehungsminister William Ruto, der Anführer der Verfassungsgegner, erklärte, die Entscheidung des Volkes zu respektieren.[16] Nach der Feststellung des amtlichen Endergebnisse legte Präsident Kibaki den 27. August 2010 als Datum der Inkrafttretung der neuen Verfassung fest.[17]

Energieminister Kiraitu Murungi sprach von einer Wiedergeburt Kenias. Finanzminister Uhuru Kenyatta rief beide Seiten zur zukünftigen Zusammenarbeit auf.[18]

Die EU-Außenministerin Catherine Ashton begrüßte am 5. August das Votum und sprach von einem historischen Ereignis für Kenia.[18]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b NZZ: Kenyas Präsident setzt Verfassung in Kraft
  2. a b c Frankfurter Rundschau: Abschied vom Feudalismus, 4. August 2010.
  3. Dirk Berg-Schloss: Kenia. In: Armut und Demokratie: politische Partizipation und Interessenorganisierung der städtischen Armen in Afrika und Lateinamerika. Campus, Frankfurt/Main 2000, ISBN 3-593-36632-0, S. 79–80.
  4. BBC News: Kenyans reject new constitution, 22. November 2005.
  5. ABC News: Kenya Unveils Constitution to Avoid Vote Violence, 19. November 2009.
  6. Daily Nation: Kenya referendum date set, 14. Mai 2010.
  7. a b c d e Frankfurter Allgemeine Zeitung: Kenia stimmt über neue Verfassung ab, 3. August 2010.
  8. Daily Nation: Game of numbers in scramble for the Rift, 24. Juli 2010.
  9. The Proposed CONSTITUTION OF KENYA. (PDF; 492 kB) Attorney-General, 6. Mai 2010, abgerufen am 4. August 2010: „Sektion 26, Abschnitt 3: Abortion is not permitted unless, in the opinion of a trained health professional, there is need for emergency treatment, or the life or health of the mother is in danger, or if permitted by any other written law.“
  10. a b die tageszeitung: Die Verteilung des Landes, 3. August 2010.
  11. Verfassung Kenias (2010) (Memento des Originals vom 2. April 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.kenyalaw.org (PDF; 1,3 MB). (Englisch)
  12. FAZ: Mehrheit für neue Verfassung in Kenia, 6. August 2010.
  13. ORF: Verfassung soll gespaltenes Land einen
  14. Interim Independent Electoral Commission of Kenya (IIEC): Kenya referendum results. Capital FM, 6. August 2010, archiviert vom Original am 25. August 2010; abgerufen am 7. August 2010.
  15. Ministers fail to deliver ‘Yes’ victory in Rift (Memento des Originals vom 11. August 2010 im Internet Archive) In: Daily Nation, 5. August 2010. Abgerufen am 6. August 2010  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.nation.co.ke 
  16. swissinfo: Kenianer geben ihrem Land eine neue Verfassung, 5. August 2010.
  17. Daily Nation: Kibaki to promulgate new law on August 27, 9. August 2010.
  18. a b Frankfurter Rundschau: Kenia bekommt eine neue Verfassung, 6. August 2010.